Montag, September 30

Im September 1924 wurde die «Autolaghi» im Grenzgebiet zur Schweiz eingeweiht. Für die Italiener war die neue Schnellstrasse das Symbol des Aufbruchs in die Moderne, für ferienhungrige Nordeuropäer der Anfang vom Glück.

Piero Puricelli hatte das, was man eine «idée fixe» nennt: die Vorstellung einer geraden, asphaltierten Strasse, fernab von der Enge der Dörfer, ideal für Autofahrer, die rasch von A nach B gelangen wollen.

Der Ingenieur aus dem kleinen norditalienischen Nest Bodio Lomnago dachte daran, als er sich 1921 aufmachte, seine Villa mit Varese zu verbinden. Mit demselben Gedanken entwickelte er danach ein Projekt für den Bau einer Autobahn, die Varese mit Mailand verbinden sollte. «Er wollte nichts anderes als Strassen bauen», sagt Liborio Rinaldi, Autor einer eben erschienenen Biografie über Puricelli. Dass er dafür die Hilfe des späteren Duce, Benito Mussolini, benötigte, war ihm egal.

1905 schliesst Puricelli sein Studium am «Politecnico» in Zürich, der heutigen ETH, ab. 1914 gründet er sein eigenes Unternehmen, das während des Ersten Weltkriegs Strassenbaumaschinen für die italienische Armee liefert. 1922 realisiert er das «Autodromo Nazionale», die berühmte Rennstrecke bei Monza. Nur gerade 110 Tage benötigt er, um dieses Monument des Motorsports zu bauen. Firmiert wird es allerdings vom Architekten Alfredo Roselli – Puricellis Zürcher Diplom wird in jenen Jahren in Italien nicht anerkannt. Erst 1927 darf er sich auch nach italienischem Recht «Ingegnere» nennen, das Polytechnikum in Mailand verleiht ihm den Titel «honoris causa».

Noch während das Projekt in Monza läuft, präsentiert er 1922 Mussolini den Plan für die neue Autobahn zwischen Mailand und den norditalienischen Seen (den «laghi», deshalb der Name «Autolaghi»). Er sieht 42 Kilometer asphaltierte Strasse vor, zumeist geradeaus, an Dörfern und Städten vorbei, je eine Fahrspur pro Richtung, dem motorisierten Autoverkehr vorbehalten. Fahrräder und Kutschen haben hier nichts zu suchen. Die wichtigen an der Strecke liegenden Ortschaften werden mit Zu- und Ausfahrten erschlossen.

Wer auf dieser Strecke verkehren will, muss zahlen – «Road Pricing» avant la lettre. Die Gebühr muss zunächst in einer obligatorisch anzufahrenden Servicestation bei Legnano entrichtet werden, später kommen die heute noch bekannten «Pedaggio»-Zahlstationen dazu.

Mussolini räumt Hindernisse aus dem Weg

Mussolini ist begeistert. Puricellis Projekt passt in sein Weltbild und seinen Traum von der Neuerfindung des Menschen, des starken, zupackenden Mannes, der sich in den Dienst des Regimes stellt und die Modernisierung des Landes voranbringt. Der Mythos der «schnellen Zeit» lebt damals hoch, das Automobil ist dessen perfekte Verkörperung. Die für den Bau von Puricellis Werk nötigen Enteignungen setzt Mussolini im Handumdrehen durch und erteilt dem Ingenieur die Konzession. Puricelli legt los, finanziert den Bau aus der eigenen Tasche und darf dafür die Strassengebühren einkassieren.

Nach nur 500 Tagen Bauzeit ist die Strasse fertig, pünktlich und so, wie von Mussolini verlangt. Alte Fotos zeigen, wie die Arbeiter noch den letzten Schliff an dem Bauwerk anbringen, als König Vittorio Emanuele III. am 21. September 1924 in einem Lancia Trikappa, dem ersten serienmässig hergestellten Automobil von Lancia, schon die neue Strasse befährt und die Autobahn damit feierlich einweiht. Benito Mussolini hat sein erstes Vorzeigeprojekt. Der Dichter Gabriele d’Annunzio, einer der intellektuellen Ideengeber des Duce, sagt, Puricelli sei ein «Maestro di vie nuove», ein Meister der neuen Wege. Er meint es natürlich doppeldeutig und positiv.

Die «Autolaghi» gilt als die erste Autobahn ihrer Art auf der Welt. Ähnliche und früher fertig gestellte Projekte in den USA und in Deutschland sind vorerst noch einem restriktiven Kreis von Benutzern vorbehalten, wie Puricellis Biograf Rinaldi sagt. Danach geht es Schlag auf Schlag weiter. 1925 bereits folgt die Abzweigung nach Como, danach die Verbindung nach Sesto Calende. Bald gibt es Autobahnen zwischen Bergamo und Mailand (1927), zwischen Neapel und Pompeji (1928) und zwischen Turin und Mailand (1932). Die Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre hinterlässt schliesslich eine Bremsspur, weitere Projekte müssen warten.

1939 legt Puricelli einen grossen Plan für den Bau eines europäischen Autobahnnetzes vor. Er versteht es als friedensförderndes Projekt. Der Güteraustausch unter den Völkern soll die Beziehungen festigen und kriegerische Konflikte verhindern. Doch dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Puricelli, inzwischen Senator und Mitglied der faschistischen Partei, entfremdet sich vom Duce und knüpft Kontakte zu den Partisanen. 1944 muss er nach Brunnen in die Schweiz fliehen. Nach dem Krieg verliert er seinen Titel als Senator, weil er trotz allem als Kollaborateur Mussolinis gilt. Puricelli rekurriert und wird 1947 rehabilitiert. 1951 stirbt er in Mailand.

Lebensader für die Wirtschaft

Die «Autolaghi» lebt ohne ihren Erfinder weiter. Sie trägt mit zum Aufschwung in der Region zwischen Mailand und den Seen im Grenzgebiet zur Schweiz bei und wird nach dem Krieg zur Lebensader in diesem Wirtschaftsraum. Sichtbares Symbol dafür ist die 1958 erbaute futuristische Raststätte bei Villoresi-Ovest, ein Autogrill in Form einer Pyramide, die gleichzeitig an ein Raumschiff erinnert. Sie gilt als herausragendes Beispiel des italienischen «Modernismo».

Bald verkehren auf der schnurgeraden Strasse auch die Sommerfrischler. Erst kommen wohlhabende Mailänder Bürgerfamilien, die sich Ferien- und Wochenendhäuser an den nahen Seen leisten können, dann die Horden aus dem Norden, ferienhungrige Schweizer und Deutsche, die auf der Suche nach Sonne nach Süden reisen. Für sie wird die «Autolaghi» zur Startrampe ins Glück: der erste trinkbare «caffè» in der Raststätte Villoresi-Ovest nach entbehrungsreichen Monaten mit dünnem Filterkaffee, die Aussicht auf Kunst, Wärme, gutes Essen – und auf ein Stück Freiheit.

Mittlerweile gleitet man nicht mehr so störungsfrei über diese Strasse wie noch in siebziger und achtziger Jahren. Baustellen, Umfahrungen, Staus vor den Zahlstationen, Lastwagenkolonnen, dazu die Unübersichtlichkeit der Umfahrungsstrassen von Mailand machen die Autofahrt in den Süden mitunter zu einem Albtraum. Das Schöne und Gute, nach dem sich immer noch Abertausende von Italienreisenden sehnen, muss erdauert und erlitten werden. Auch das ist zwar ein Erlebnis – aber bestimmt nicht das, was sich Piero Puricelli ursprünglich ausgedacht hat.

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