Nach dem Sturz des Asad-Regimes wollen die islamistischen Rebellen einen neuen Staat errichten. Im Interview erklärt der Islamforscher Reinhard Schulze, welche Rolle die Religion in Syrien spielen wird – und warum es vorerst wohl keine Wahlen gibt.
Herr Schulze, die Tage seit dem Umsturz in Syrien scheinen bisher relativ geordnet verlaufen zu sein. Wie haben die Rebellen dies erreicht?
Ein zentraler Aspekt ist, dass die neuen Machthaber die bestehenden Institutionen des Asad-Regimes übernommen haben. Im Vordergrund steht die Versorgung: Nach der Einnahme von Damaskus war es das oberste Anliegen der Rebellen, die Versorgung mit Wasser und Strom aufrechtzuerhalten. Die Übergangsregierung hat deshalb die Staatsbeamten sehr schnell aufgefordert, wieder an die Arbeit zu gehen. Der Rebellenführer Abu Mohammed al-Julani, der nun seinen bürgerlichen Namen Ahmed al-Sharaa benutzt, hat stets gesagt, dass die Rekonstruktion des syrischen Staates ein institutioneller Prozess sein solle.
Sharaa, ein ehemaliger Kaida-Kämpfer, gibt sich betont moderat. Kann man abschätzen, welches Staatsmodell ihm für Syrien vorschwebt?
Mehrere Äusserungen Sharaas weisen darauf hin, dass nach seiner Auffassung die staatliche Ordnung durch das Recht gestiftet sein soll und nicht durch die Macht einer Person. Man merkt, dass er damit auch versucht, eine westliche Öffentlichkeit zu bedienen. Er muss berücksichtigen, dass grosse Teile der geflohenen Syrer, die nun zurückkehren, westlich sozialisiert sind und bestimmte Erwartungen haben. Laut Sharaa soll der Verfassungsprozess nicht durch eine Partei aufgezwungen werden, sondern von unten nach oben stattfinden. Das hört sich tatsächlich so an, als ob er versuchte, Syrien an den Westen zu koppeln.
Kann das denn funktionieren?
Es wird nicht einfach sein, das innenpolitisch durchzusetzen und die eigene Klientel zu befriedigen. Innerhalb der syrischen Eliten ist eine gewisse Skepsis zu spüren. Gleichzeitig ist der Wunsch, sich vom alten Regime abzukoppeln, so stark, dass nun wohl gewisse Kompromisse in Kauf genommen werden. Sharaa scheint das Momentum tatsächlich nutzen zu wollen, um einen echten Umbruch herbeizuführen.
Die HTS ist eine islamistische Miliz. Welche Rolle wird der Islam im neuen Staat spielen?
Sharaa hat jüngst gesagt, es gehe nicht um den Islam, sondern um die Religion. Syrien soll demnach ein Staat sein, der die Religion politisch, sozial und kulturell achtet. Laut Sharaa darf die Religion nicht zu einer vom Staat oktroyierten Normenordnung werden. Stattdessen sollen Normen aus der Haltung der Religion heraus befolgt werden. Das heisst: Es ist eine individuelle Entscheidung, einer religiösen Praxis zu folgen. Man kann natürlich nicht abschätzen, ob in den Institutionen des jungen Staates nicht doch noch fundamentalistische Vorstellungen entstehen. Aber eine Talibanisierung, so wie sie manche befürchten, ist für Syrien nicht zu erwarten.
Bis zum 1. März liegt die Macht vorerst bei einer Übergangsregierung. Wie ist diese aufgestellt?
Die meisten der eingesetzten Verwaltungsbeamten kamen zunächst von der sogenannten Syrischen Heilsregierung aus Idlib, die dort unter der HTS entstanden war. Zunehmend kommen aber auch Leute von anderen Rebellengruppen hinzu, vor allem aus dem Süden. Man kann da schon den Versuch der HTS erkennen, eine gewisse Pluralität abzubilden.
Die konfessionelle und ethnische Vielfalt Syriens stellt eine grosse Herausforderung dar. Sind Sie zuversichtlich, dass die HTS dieser Pluralität gerecht wird?
Ich finde es bemerkenswert, wie Sharaa mit der Verfasstheit der syrischen Gesellschaft operiert. Er nimmt die sozialen Realitäten in Kauf, betont die Rolle der kommunalen Ordnung sehr stark und scheint diese in den Staatsbildungsprozess mit einzubauen. Das halte ich durchaus für glaubwürdig. Täte er das nicht, würde das zu einer Rekonstruktion der alten politischen Ordnung führen.
Die HTS hat in Form der Syrischen Heilsregierung (SSG) in Idlib sehr autoritär regiert. Wieso soll das nun anders werden?
Manche SSG-Funktionäre erträumen sich wohl eine zentralisierte Verwaltung wie in Idlib. Aber das war kein inklusives System. Die christlichen Orte etwa waren überhaupt nicht repräsentiert. Eine Übertragung der Erfahrungen aus Idlib auf ganz Syrien wird nicht funktionieren, schon gar nicht im Alawitengebiet oder bei den Drusen. Deshalb muss ein funktionierender Staat, will er nicht wieder eine diktatorische, ideologische Ordnung sein, mit der bestehenden Pluralität Syriens operieren.
Wäre es denn denkbar, dass bereits im nächsten Jahr Wahlen stattfinden?
Das wäre wohl allzu optimistisch. Ich glaube, dass die institutionellen Vorbereitungen für einen Wahlprozess derzeit nicht gegeben sind. Sharaa wird wahrscheinlich eher eine Art von Verfassungsrat bestimmen, der aus den über 4000 Kommunen in Syrien gebildet werden wird. Eine Vorstufe dürfte der für März geplante syrische Nationalkongress sein.
Wie wahrscheinlich ist es, dass in Syrien nun eine freiheitliche, stabile Demokratie entsteht?
Ich würde sagen, die Chance liegt bei 60 Prozent. Es gibt einen Überhang der Erwartungen in Bezug auf eine Westbindung. Ein grosser Teil der Syrer hegt die Hoffnung, dass sich Syrien zu einem Land entwickelt, das die Träume des Arabischen Frühlings verwirklicht. Dennoch gibt es gewichtige Stimmen, die diese liberalen, westlichen Vorstellungen kritisch sehen. Es wäre deshalb denkbar, dass sich letztlich doch jemand zum Machthaber aufschwingt. Oder es könnte sein, dass es ganz viele einzelne Machthaber geben wird.
In Syrien gibt es zahllose Milizen, die zum Teil sehr mächtig sind. Nun sollen sie sich laut der HTS allesamt auflösen und in die Armee integrieren. Ist das nicht ein Patentrezept für Konflikte?
Selbstverständlich wird das Reibereien geben. Diese Gruppen haben dreizehn Jahre lang kommunalen Widerstand geübt. Wenn nun ihre Entmilitarisierung erfolgt, dann gelingt das eigentlich nur, wenn parallel die kommunale Struktur durch politische Institutionen abgebildet wird. Ohne eine zivile Ebene der Repräsentation würde die Aufgabe der alten Milizen vielleicht doch von lokalen Gangs übernommen werden. Das wäre ungünstig für Sharaa. Eben erst hat er die Kommandanten der bewaffneten Gruppen in Damaskus zu einem Treffen geladen, bei dem die Integration der Milizen in die neue syrische Armee, die ja eine Freiwilligenarmee sein soll, beraten wurde. Inzwischen gibt es auch Stimmen aus der autonomen Nordostprovinz, die für eine Aufnahme der kurdischen Einheiten in die Armee plädieren.
Die neue Regierung steht zudem vor der Herausforderung, die Verbrechen des Asad-Regimes aufzuarbeiten. Welche Bedeutung hat das für die syrische Gesellschaft?
Das Regime hat bereits 140 Hauptangeklagte identifiziert, die es vor Gericht stellen will. Zudem muss man leider damit rechnen, dass es auch zu Selbstjustiz kommen wird. Wenn es aber gelingt, für die Hunderttausende Toten in Syrien eine Form der Gerechtigkeit zu schaffen, so dass die Angehörigen das Gefühl haben, ihr Leid werde in dem Prozess anerkannt, kann es durchaus zu einer positiven Entwicklung kommen. Die zentralen Elemente, die jetzt in Syrien gesucht werden, sind ein Neustart und Vertrauen in den Staat.