Montag, Oktober 21

Was lange tabu war, ist am EU-Gipfel endlich diskutiert worden. Folgen jetzt auch Taten?

Es war in migrationspolitischer Hinsicht ein aussergewöhnlicher EU-Gipfel, der am Freitag zu Ende ging. Die 27 Staats- und Regierungschefs haben in den letzten Tagen mehrere Tabus fallen gelassen, die vor kurzem noch weitherum sakrosankt schienen.

  • Die Auslagerung von Asylverfahren in sichere Drittstaaten soll nun ernsthaft geprüft werden. Italien war diese Woche vorgeprescht und hat ein solches Zentrum an der albanischen Küste eröffnet.
  • Die Schaffung sogenannter «Return Hubs» wird erwogen, von denen abgewiesene Asylbewerber in ihre Heimat oder einen sicheren Drittstaat gebracht werden können.
  • Auch die vorübergehende Aussetzung des Asylrechts könnte bald übliche Praxis werden. Dann nämlich, wenn wie jüngst im Fall Weissrusslands gegenüber Polen ein Staat Migranten dazu missbraucht, um ein Nachbarland zu destabilisieren. Finnland hat bereits entsprechende Gesetze.

Die Schlusserklärung formulierte es noch vorsichtig: Neue Wege müssten ins Auge gefasst werden, um – im Rahmen des Rechts – gegen die irreguläre Migration vorzugehen, heisst es da. Die Kommissionschefin Ursula von der Leyen wurde deutlicher: Ausserordentliche Situationen erforderten ausserordentliche Mittel, sagte sie. Zum Schlüsselbegriff des Tages wurden die «innovativen Lösungen», mit denen die Einwanderung gesenkt und stärker reguliert werden soll.

Ein Frühstück mit Folgen

Woher kommt die neue Dynamik? Zum einen ist sie die Folge der neuen politischen Landschaft in Europa. In vielen Ländern sind jetzt rechte Parteien oder sogar Rechtsaussenparteien in der Regierung, die migrationspolitisch Druck machen und eigenständig repressive Massnahmen umsetzen oder ankündigen. Die Niederlande und Ungarn wollen sich aus der gemeinsamen Migrationspolitik ausklinken, Finnland und Polen die Grenze zu Russland und Weissrussland ganz schliessen. Und an vielen Orten im Schengenraum gehen die Schlagbäume wieder nieder. Dieser Stimmungswandel in Europa hat auch in Brüssel die Atmosphäre verändert.

Zum andern – und das ist überraschender – hat sich in Brüssel der Modus geändert, in dem die migrationspolitische Agenda definiert wird. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Sie schickte kurz vor dem Gipfel einen Zehn-Punkte-Plan an die Hauptstädte, der den programmatischen Teppich für die Debatte legte: Migrationsabkommen mit Drittstaaten, Beschleunigung von Rückführungen, Auslagerung von Asylzentren.

Noch bevor der Gipfel begann, traf sich von der Leyen mit elf migrationskritischen Regierungschefs (darunter jene aus Italien, Polen, den Niederlanden und Dänemark) zum Frühstück. Dort verabredete sich eine «Koalition von Willigen», die sich im Verlauf der Verhandlungen für eine Beschleunigung und Verschärfung des Asylregimes einsetzte. Mit einigem Erfolg. Die grossen Abwesenden waren Deutschland und Frankreich, ohne die noch bis vor kurzem in Brüssel nichts voranging.

Was bedeutet das? Es bestätigt zum einen, dass Berlin und Paris auf dem europäischen Parkett tatsächlich an Gewicht verloren haben. Alternativ zum deutsch-französischen Tandem, das jeweils den Takt vorgab, bilden sich jetzt häufiger Ländergruppen, die ihre Interessen gemeinsam und wirkungsvoll einbringen. Natürlich hätten sich Paris und Berlin immer noch querstellen können. Aber dazu wollten sich weder Scholz noch Macron hergeben. Beide sind innenpolitisch angezählt. Ihr Profil blieb an dem Gipfel seltsam blass.

Ebenfalls zeigt sich erneut der Gestaltungswille der Kommissionspräsidentin. Sie machte die inhaltlichen Vorgaben und brachte spätabends die gemeinsame Schlusserklärung ins Trockene.

Ihr Handlungsspielraum ist auch deshalb so gross, weil sich die Kommission in einem Interregnum befindet. Die bisherigen Kommissare führen nur noch das Tagesgeschäft, die neuen sind noch nicht im Amt, sondern müssen zuerst vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Von der Leyen hat freie Hand, und sie spielt das fast schon genussvoll aus.

Es ist Zeit, etwas Neues zu wagen

Das forsche Tempo überrumpelte ihre Kritiker auch diesmal. Viele Beobachter hatten langen und zähen Streit über das emotional aufgeladene Migrationsdossier erwartet. Sie zweifelten im Vorfeld, ob eine auch nur deklarative Einigung überhaupt möglich sei. Doch von der Leyens Vorstoss und der europaweite Stimmungstrend sorgten für Rückenwind. Dass Charles Michel, als Ratspräsident eigentlich der Gastgeber des Gipfels, nur die Nebenrolle spielte, dürfte ihr Erfolgserlebnis abgerundet haben.

Es gibt also eine neue Dynamik in der europäischen Migrationspolitik. Doch führt sie auch wirklich zu den innovativen Lösungen, die am Gipfel pausenlos beschworen wurden? Dass einzelne Staaten oder Staatengruppen jetzt mit Rückführungsabkommen und der Auslagerung der Verfahren experimentieren, ist sicher zu begrüssen. Niemand hat das Patentrezept. Es braucht den Mut, Neues zu probieren – und auch wieder zu kassieren, wenn es nicht hilft. Es ist wahrscheinlich nicht die absolute Zahl der Neuankömmlinge (die dieses Jahr auf hohem Niveau rückläufig ist), die die Bürger am meisten bewegt. Vielmehr fragen sie sich, ob die Politik die Migration überhaupt noch steuern kann und will. Darauf muss sie bald eine Antwort geben.

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