Der deutsch-ukrainische Autor Dmitrij Kapitelman hat aus der eigenen Familiengeschichte ebenso finstere wie komische Literatur gemacht. «Russische Spezialitäten» erzählt von nötigen Neuanfängen und ungesunder Nostalgie.

Dass wir in Krisenzeiten leben, merkt man daran, dass sogar das Wetter politisch ist. Wenn die russischen Fernsehmeteorologen vor ihren Karten stehen, sind darauf ukrainische Städte verzeichnet, die Putins Truppen seit 2014 überfallen haben und heute besetzt halten.

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In Russisch-Donezk hat es drei Grad und Schneeregen, aber die Mutter in Dmitrij Kapitelmans neuem Roman ist dennoch heiter gestimmt. Stundenlang sitzt sie täglich vor ihrem «Fernsehrussland» und lässt sich von den staatlichen Sendern mit Falschinformationen versorgen.

Die alte Dame ist eine schillernde Figur, und das macht einen guten Teil der tragikomischen Pointen des Buches «Russische Spezialitäten» aus. Vom Wohnzimmersofa aus führt sie einen Kampf an der Seite der Invasoren und gegen die Unwissenheit ihres Sohnes. Dieser Sohn, man kann es vermuten, ist Dmitrij Kapitelman selbst, und sein Roman autobiografisch.

Heimwehgeplagte «Kontingentflüchtlinge»

Mit acht Jahren ist der Schriftsteller mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen. Sie waren «Kontingentflüchtlinge» und konnten sich als Bürger eines sowjetischen Nachfolgestaats unbürokratisch ansiedeln. In Leipzig begann die Familie ein neues Leben. Man weiss nicht, ob es sich so theatralisch abgespielt hat, dass es nur noch wenige Striche brauchte, um es in Literatur zu verwandeln. Denn was man bei Dmitrij Kapitelman liest, ist Literatur, finster und komisch zugleich.

«Magasin» heisst der Laden in Leipzig-Kleinzschocher, wo Vater und Mutter die Nostalgiegefühle russischer Migranten und sich heimatlos fühlender Ostdeutscher bedienen. In der Nachwendezeit floriert das Geschäft mit nowosibirischen Pelmeni, Sowjetlimonaden und Rotgoldschmuck. Dass Kaviar und Wodka im Angebot sind, versteht sich von selbst.

Mit durchdringendem Lärm schlägt der Bewegungsmelder an der Ladentür an, wenn heimwehgeplagte Kundschaft kommt. Staunend schaut der Ich-Erzähler in diese Welt, in der die Frauen immer ein bisschen greller geschminkt sind als im südwestlichen Leipzig üblich. Der Vater ist ein jüdischer Melancholiker, die Sprache der Fische verstehend, die vor dem Verkauf ihr Dasein in einem Aquarium fristen. Das restliche Personal stellt sich der täglichen Arbeit mit aufreizender Langsamkeit. Man hat sich diese Langsamkeit «als politischen Selbstschutz im sowjetischen Schytomyr» oder sonst wo zugelegt. Um die «KGBschniks» zu zermürben.

Aus der Gegenwart blendet Dmitrij Kapitelman auf die signifikanten Ereignisse in der Geschichte des «Magasins» zurück, er erzählt mehr oder weniger chronologisch vom «moneymaking Kleinzschocher» und von dessen späterem Gegenteil. Die Gegend verändert sich, Leipzig hat ein dichtes Netz von russischen Läden. Früher einmal hat man acht Laster vom Monastirsky-Kwas, vom Brottrunk aus Kiew, auf einmal geordert. Jetzt kann man aus Geldmangel kaum noch Ware bestellen. Corona bedeutet schliesslich den Todesstoss des unternehmerischen Abenteuers.

Nicht Putin ist hier das Problem

«Russische Spezialitäten» ist ein höchst subtiler Heimatroman. Einer mit paradoxen Voraussetzungen. Hier geht es nicht um das Wohlfühlaroma, das aus der Verbundenheit der Menschen mit ihrer Herkunft aufsteigt, sondern um etwas sehr Spezielles. Um Brüche, um Verschiebungen. Sie sind eine Folge historischer Ereignisse und von Putins Überfall auf die Ukraine vor drei Jahren.

Die Familie des Romans stammt wie die des Autors aus dem ukrainischen Kiew. In die Heimatstadt ist man zwei Jahrzehnte lang gefahren, um für den Laden Ware einzukaufen, aber für die Mutter sind die Metropole und das zugehörige Land jetzt Unglücksorte. Nicht wegen Putin, sondern wegen Selenski. «Die Ukraine ist doch selbst schuld an den vielen Toten! Warum gibt Selenski nicht einfach auf? Dann ist es endlich vorbei mit dem Naziregime in Kiew!», sagt die Mutter.

Den Mythos von der Putinschen «Spezialoperation» in der Ukraine hat sich die «russisch fernsehvölkische» Frau von TV-Sendern und Youtube-Kanälen einreden lassen. Während sie beherzt mit ihrem Volkswagen durch das kriegsferne Leipzig fährt, klärt sie ihren beifahrenden Sohn darüber auf, dass auch die Geschichte vom Massaker in Butscha ein «Fake» sei. Man habe Schauspieler angeheuert, die die Leichen hätten spielen müssen, um die Welt gegen Russland aufzuhetzen.

Ungefiltert ist die Putin-Propaganda in die Ladenbesitzerin eingewandert und hat dort Verheerungen angerichtet. Gegen diese Verheerungen versucht sich der Ich-Erzähler mit einem selbsttherapeutischen Programm zu wehren. Er ist gerade sechsunddreissig Jahre alt und nimmt sich vor, täglich sechsunddreissig Seiten russischer Literatur zu lesen, aber seine «Mutter-Sprache» macht es ihm nicht leicht: Über dreissig Synonyme gibt es im Russischen für Hartherzigkeit, von «unbeflehbar» bis «übergrausam».

Gefahr und farbenfroher Trotz

Dmitrij Kapitelmans neues, drittes Buch ist in seiner gewohnt arabesken Sprache geschrieben, hat aber einen präzisen Ernst. Dieser Ernst wird durch die deutlichste Pointe des Romans nur noch unterstrichen. Im zweiten Teil fährt der Erzähler in die Ukraine. Seine Freunde sind zum Militär eingezogen worden oder haben sich freiwillig gemeldet. Mit seinem deutschen Pass erregt der halbukrainische Tourist zwar den missgünstigen Neid der Grenzbeamten, bleibt sonst aber unbehelligt.

In Kiew tut sich eine Gegenwelt zu den Bildern der russischen Propaganda auf. Gefahr und farbenfroher Trotz mischen sich in der lebendigen Stadt. Wieder und wieder gibt es Luftalarm. Als der Bunker beschossen wird, in den Dmitrij eines Tages flüchten muss, kommt von der Mutter eine SMS. Der Sohn müsse sich keine Sorgen machen, denn die Russen würden nur militärische Ziele angreifen. Das wisse sie aus sicherer Quelle.

Umzingelt von der ukrainischen Wirklichkeit, muss der Sohn die Umnachtungen einer Frau ertragen, die auf gut Russisch wohl unbeflehbar geworden ist. Was Heimat ist, was friedliche Heimat sein könnte im heutigen Europa, hat sich in ihrem Kopf in eine wahrlich monströse Nostalgie verwandelt.

Warum ihr als Ukrainerin das Land so egal sei und ihr die Russen so wichtig seien, fragt Dmitrij sie einmal. Ihre Antwort: «Mir ist Russland scheissegal! Ich will die Ukraine von vor dreissig Jahren zurück!» Die neunziger Jahre, das waren in der Ukraine postsowjetisches Chaos, politische Willkür und Korruption. Damit könnte Putin nach der Eroberung des Nachbarlandes wohl dienen. Einer die Zeiten verklärenden Frau ihre Jugend zurückzugeben, wird ihm wohl nicht gelingen.

Dmitrij Kapitelman: Russische Spezialitäten. Roman. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2025. 192 S., Fr. 32.90.

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