Montag, September 30

Ein verschwundener Zettel steht am Ursprung eines skurrilen Gerichtsfalls.

Es ist einer jener Strafprozesse, bei denen sich der aussenstehende Beobachter fragt, ob sie nun wirklich nötig sind. Die Verteidigerin spricht in ihrem Plädoyer klar aus, was sie vom Gerichtsprozess hält: «Alle hätten heute wohl etwas Besseres zu tun gehabt», sagt sie. Es gehe in diesem Strafverfahren einzig und allein um einen Zettel, der nicht mehr an einem Fenster hing.

Eine 47-jährige Wohnungsvermieterin soll während der Abwesenheit eines 54-jährigen Mieters im Dezember 2023 dessen abgeschlossene Wohnung betreten haben.

Auch ein Bülacher Einzelrichter versucht die Angelegenheit noch einmal aussergerichtlich mit einem Vergleich zu lösen. Die Vergleichsverhandlungen, die nicht öffentlich sind und von denen der Gerichtsberichterstatter ausgeschlossen ist, werden aber nach 45 Minuten erfolglos abgebrochen. Eine Einigung wird nicht erzielt.

Wie aus den Äusserungen an der folgenden Hauptverhandlung hervorgeht, stellt der ehemalige Mieter keine Zivilforderungen. Er wolle nur sein Mietzinsdepot zurück, dann ziehe er die Strafanzeige zurück. Die Vermieterin macht aber Beschädigungen in der Wohnung geltend.

Mit Wohnungsbesichtigungstermin nicht einverstanden

Die beschuldigte Betriebsökonomin bewohnt ein grosses Bauernhaus mit Umschwung im Zürcher Unterland, das über zwei Wohnungen verfügt. Die zweite Wohnung vermietet sie. Der Mieter zog im Oktober 2022 ein. Bereits nach kurzer Zeit kam es offenbar zu einem Zerwürfnis zwischen den Parteien. Laut Anklage kündigte der Mann die Wohnung termingerecht auf den 31. März 2024. Die Vermieterin wollte deshalb Wohnungsbesichtigungen mit interessierten Mietern durchführen.

Sie kündigte dem Mieter eine Wohnungsbesichtigung für den 15. Dezember 2023 an. Der Mieter war nicht einverstanden und informierte die Vermieterin darüber, dass erst im Januar 2024 Wohnungsbesichtigungen durchgeführt werden könnten. Zudem klebte er von innen einen Zettel an ein Fenster, auf dem stand, dass Wohnungsbesichtigungen erst ab Januar 2024 möglich seien. Trotzdem soll die Frau die abgeschlossene Wohnung am 15. Dezember betreten haben.

Der Mieter merkte dies, weil der Zettel nicht mehr am Fenster hing, als er am Nachmittag zurückkam. Er erstattete noch am gleichen Tag um 16 Uhr 20 Anzeige wegen Hausfriedensbruchs auf einem Polizeiposten.

Die Staatsanwältin fordert in ihrer Anklage eine Bestrafung der nicht vorbestraften Vermieterin mit einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu 40 Franken (1200 Franken) und 300 Franken Busse.

Vermieterin will gar keine Schlüssel haben

Es steht Aussage gegen Aussage. Vor Bezirksgericht Bülach beteuert die beschuldigte 47-jährige Frau, sie habe gar keine Schlüssel und habe die Wohnung am 15. Dezember nicht betreten. Zwei Wohnungsbesichtigungen seien an diesem Tag geplant gewesen. Die eine Person sei gar nicht gekommen, der anderen habe sie die Liegenschaft halt nur von aussen gezeigt. «Ich habe einen solchen Zettel nicht gesehen und weiss nicht, was mit dem Zettel ist», erklärt sie.

Der Mieter habe einen Schlüsselsatz mit drei Schlüsseln gehabt. Weitere Schlüssel zur Wohnung existierten nicht. «Ich verstehe nicht, wieso wir hier sitzen», sagt sie. Nach möglichen Motiven des ehemaligen Mieters für eine Falschanzeige befragt, meint sie, er habe ein Aufmerksamkeitsdefizit und aufgrund des angespannten Mietverhältnisses vielleicht auch ein Frustgefühl gehabt.

Der ehemalige Mieter schildert dann, er sei von seiner Vermieterin ständig belogen und «verarscht» worden. Alles, was sie beim Einzug versprochen habe, sei nicht eingehalten worden. Er sei deshalb etwa zwanzig Mal beim Mieterverband gewesen. Die Strafanzeige habe er nicht aus Bösartigkeit gemacht oder um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Es gehe ihm darum, dass auch zukünftige Mieter informiert seien. Man dürfe Mieter nicht belügen und «verarschen». Er wolle einfach sein Mietdepot zurück und dann nichts mehr mit der Frau zu tun haben.

Die Verteidigerin verlangt einen vollumfänglichen Freispruch. Gemäss ihren Angaben sei es während des Mietverhältnisses zu immer skurrilerem Verhalten des Mieters gekommen. Die Strafanzeige sei als reine Rache und Vergeltungsmassnahme zu werten.

Anzeige aus Rache «lebensfremd»

Der Einzelrichter glaubt schliesslich dem Mieter. Er verurteilt die Vermieterin wegen Hausfriedensbruchs zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 50 Franken (1500 Franken), verzichtet aber auf die beantragte Verbindungsbusse. Die Verurteilte muss zudem 1100 Franken Verfahrenskosten und 1200 Franken Gerichtskosten bezahlen. Hinzu kommt das Honorar für ihre erbetene Verteidigung.

Der Einzelrichter bejaht zwar, dass der Mieter theoretisch ein Rachemotiv gehabt habe. Es sei aber sehr lebensfremd, wenn jemand nach so langer Zeit und noch vor dem Auszug mit einer ungerechtfertigten Strafanzeige «weiter Öl ins Feuer giessen» würde.

Zudem habe die Vermieterin in ihren ersten Aussagen bei der Polizei noch gesagt, sie habe einen Grund gehabt, die Wohnung zu betreten. Da der Zettel nicht mehr am Fenster gehangen habe, komme nur sie für dessen Verschwinden infrage.

Es gebe keine vernünftigen Zweifel daran, dass sie am 15. Dezember 2023 die Wohnung gegen den Willen des Mieters unrechtmässig betreten und sich des Hausfriedensbruchs schuldig gemacht habe.

Urteil GG240049 vom 8. 8. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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