Dienstag, Oktober 22

Nahrungsmittelempfehlungen geben klare Regeln vor, was die Menge an Süssigkeiten im Speiseplan betrifft. Doch die Tante unserer Kolumnistin hält sich nicht daran. Und scheint gut damit zu leben.

Was die Ernährung angeht, macht meine hochbetagte Tante offiziell alles falsch. Ihr Speisezettel reflektiert jedenfalls nicht das, was die einschlägigen Fachgesellschaften als Voraussetzung für ein langes, gesundes Leben empfehlen. Manch ein Gesundheitsapostel käme vom Glauben ab, wenn er wüsste, was die mittlerweile 103 Jahre alte Dame tagtäglich zu sich nimmt.

«Hauptsache, gesund»

In dieser Kolumne werfen Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin und Gesundheit.

Ernährungswissenschafter haben als Orientierungshilfe für eine gesunde Ernährung die sogenannte Lebensmittelpyramide erstellt. Der geräumige Unterbau ist für Gemüse, Vollkornprodukte und anderes Grünzeug reserviert. Bei meiner Tante steht die Pyramide kopf.

Zucker als Hauptnahrungsmittel

Der Unterbau ihrer persönlichen Ernährungspyramide besteht zu einem erheblichen Anteil aus einem Lebensmittel, das als entbehrlich gilt, und zwar: Zucker. Dieser ist der mit Abstand liebste Nahrungs- und Gewürzstoff meiner Tante.

Ein Frühstück wäre für sie nichts ohne gebutterten Toast mit viel Marmelade und mehrere Tassen Tee, jeweils kräftig gesüsst mit gewöhnlichem Zucker. Zugegeben, um ihr Gewissen zu beruhigen, isst sie auch etwas Obst und Vollkorn, und das in Form von zwei eingelegten Zwetschgen und ein paar Sonnenblumenkernen.

Und anstatt eines Mittagessens gönnt sich die zierliche Seniorin am Nachmittag jeweils einen Kuchen, dazu Schlagrahm und Kaffee mit zwei Teelöffeln Zucker pro Tasse. Hat sie Durst, schenkt sie sich einen Apfelsaft ein. Wasser trinkt sie nur, um ihre Tabletten hinunterzuspülen.

Auch das Gemüse wird gezuckert

Am Abend hat sie meist nur wenig Appetit. Dann zwingt sie sich immerhin, etwas Salat und Gemüse, mitunter auch ein kleines Stück Fleisch oder Fisch zu verzehren. Wie mir ihre Haushaltshilfe kürzlich augenzwinkernd erzählte, müsse sie auch den Salat und das Gemüse zuckern. Ungesüsst würden diese meiner Tante nicht schmecken.

Die Familie hat es längst aufgegeben, der Seniorin Vorhaltungen wegen ihrer Ernährungsweise zu machen. Körperlich und geistig noch erstaunlich fit und nie ernsthaft krank, hat die alte Dame alle eines Besseren belehrt.

Nicht alle Menschen über einen Kamm scheren

Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Und dennoch: Wie das Beispiel meiner Tante vor Augen führt, greift die Verteufelung von Zucker als die Wurzel von Übergewicht, Krankheit und vorzeitigem Tod zu kurz.

Mir jedenfalls scheint schwer vorstellbar, dass ein einzelnes Nahrungsmittel und noch dazu eines, das nicht toxisch ist und vom Organismus auch natürlicherweise verwendet wird, derart weitreichende Folgen haben soll.

Sicherlich macht die Menge das Gift, wie schon Paracelsus wusste. Doch der Zusammenhang zwischen Ernährungsweise und Gesundheit ist aus wissenschaftlicher Sicht immer noch sehr unklar, schreiben Wissenschafter diesen Monat im Fachjournal «Cell».

Je nach Person sind die Wirkungszusammenhänge im Stoffwechsel sehr unterschiedlich. Das zeigen die Forscher am Beispiel von Resveratrol, einer Substanz in roten Trauben. Je nachdem welche Bakterien den Darm eines Menschen besiedeln, kann er damit umgehen oder eben nicht.

Kurz, über einen Kamm scheren lässt sich in puncto Ernährung nichts. Noch ist unklar, ob wirklich vor allem die zuckerhaltigen Lebensmittel zur weltweiten Zunahme von Dickleibigkeit beitragen. Die mancherorts eingeführte Zuckersteuer soll den Zuckerkonsum einschränken. Dies scheint ihr auch zu gelingen. Bis jetzt ist aber noch nicht erkennbar, dass zugleich auch die Zahl der Menschen mit Übergewicht und Diabetes abnimmt.

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