Für den Pulli das Doppelte, für das Putzmittel das Dreifache: Jeanine Rutz und Hansjürg Buholzer lassen sich das nicht mehr gefallen. Auf Shoppingtour in Deutschland.

Hansjürg Buholzer kennt jede Kurve auf dem Weg nach Lauchringen. Alle paar Tage fährt er vom Aargau nach Deutschland, um dort zu kaufen, was er für sein Leben in der Schweiz so braucht: Rasierklingen, Wein, Rüebli für die Pferde.

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Herr Buholzer, sind Sie ein Einkaufstourist?

Buholzer: «Ich würde sogar sagen, ich bin ein Muster-Einkaufstourist.»

Herr Buholzer, was ist das überhaupt für Sie, ein Einkaufstourist: Ein Held? Ein Rebell? Ein Schimpfwort?

Buholzer: «Ein Einkaufstourist ist für mich ein Held, weil er gegen die hohen Preise in der Schweiz ankämpft. Für viele Leute ist das Wort aber eine Beleidigung. Wenn ich den Politikern und Verbandsleuten zuhöre, habe ich das Gefühl, ich müsste mich schämen. Aber ich lasse mich nicht für dumm verkaufen.»

Hansjürg Buholzer, 66, benennt die Dinge hart und bleibt trotzdem freundlich. Er weiss, dass er nicht laut werden muss, um sich zu wehren. Dort, wo er sich als Konsument «verhöhnt und abgezockt» fühlt, steigt Buholzer ins Auto und fährt über die Grenze. Das Einkaufen im Ausland ist für ihn ein Akt des Widerstands.

Auch Jeanine Rutz sitzt am Steuer eines Autos, ein Familienwagen. Sie ist 35 Jahre alt und Mutter von zwei kleinen Töchtern. Jede zweite Woche fährt sie vom Zürcher Oberland nach Jestetten. Ein kleines Dorf in Deutschland, das grosse Rabatte verspricht. Fahrzeit: fünfzig Minuten.

Für Rutz ist das Einkaufen im Ausland kein Vergnügen. Sie arbeitet als Kleinkindererzieherin, ihr Mann ist Landschaftsarchitekt. Schon jetzt brauchen die beiden den dreizehnten Monatslohn, um die Rechnungen zu bezahlen. Rutz sagt: «Wir sind gezwungen, auf der anderen Seite der Grenze einzukaufen. Wir würden sonst finanziell abrutschen.»

Hansjürg Buholzer und Jeanine Rutz: Das sind zwei Personen, die mehrmals im Monat dieselbe Reise machen. Beide sind sogenannte Einkaufstouristen. Aber aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Für Buholzer ist es eine Revolte. Für Rutz eine Notwendigkeit. Er handelt aus Überzeugung. Sie muss jeden Franken umdrehen.

Für die einen sind Menschen wie Buholzer und Rutz schlaue Konsumenten, wahre Heldinnen, die sich Missstände nicht länger gefallen lassen. Für andere aber sind sie Egoisten. Landesverräter, die mit ihren Ausflügen dem Wirtschaftsstandort Schweiz schaden.

Was stimmt? Die Frage ist nicht neu. Aber sie wird gerade wieder neu verhandelt.

Jeanine Rutz sitzt in ihrem Familienauto Richtung Deutschland, während Hansjürg Buholzer auf der anderen Seite der Grenze bereits Tatsachen schafft.

Die Schweiz ist teurer als Island

Seit Januar dürfen Konsumenten nur noch Einkäufe im Wert von 150 Franken pro Person über die Schweizer Grenze tragen, ohne dafür Mehrwertsteuer zu bezahlen. Der Bundesrat hat den ursprünglichen Beitrag halbiert. Die Regierung gab damit dem Druck der Verkäufer und der Grenzkantone nach.

Es ist der neuste Versuch der Politik, den Schweizer Detailhandel zu schützen: indem sie den Einkaufstourismus ausbremst.

Doch wer den Einkaufstourismus bekämpfen will, behandelt nur ein Symptom. Das eigentliche Problem hat einen anderen Namen. Einen, den alle kennen: die Hochpreisinsel Schweiz.

Nirgends in Europa ist das Leben teurer als hier. Schweizerinnen und Schweizer bezahlen mit Abstand die höchsten Preise für Waren und Dienstleistungen. Laut dem europäischen Statistikamt Eurostat liegt das Preisniveau in der Schweiz um 74 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Nicht einmal Island ist so teuer, und dort muss fast alles für den täglichen Bedarf importiert werden.

Einen gewissen Schweiz-Zuschlag akzeptieren wohl die meisten Menschen. Hier sind die Löhne höher, die Mieten ebenso.

Nur: Wie viel ist gerechtfertigt – und wie viel ist zu viel?

Die Frage eignet sich bestens als Aufregerthema an Grillpartys oder beim Apéro im Büro. Fast alle haben eine Meinung dazu. Und fast alle können ein Beispiel nennen, das ihnen übertrieben scheint.

Der Pulli von Tom Tailor, auf dessen Etikett zwei Preise stehen: 30 Euro für Deutschland, 50 Franken für die Schweiz.

Die Sonnencrème, die in den Italien-Ferien nur halb so viel kostet wie Zuhause.

Die Windeln fürs Baby. Das Parfum des Freundes.

Die Bücher, die Magazine, die Druckerpatronen.

Und nicht zuletzt: die Heuschnupfentabletten, die Blutdrucksenker, das Ibuprofen.

Warum ist das so?

Eine einfache Frage, eigentlich. Wir sind mit ihr zum Preisüberwacher gegangen, zum Chefeinkäufer von Galaxus, zu Lobbyisten, zu Detailhändlern und zu internationalen Markenherstellern wie Nestlé und L’Oréal. Egal bei wem wir uns umhörten, die Antwort war immer dieselbe: Es ist kompliziert.

Die Hersteller geben den Supermärkten die Schuld. Und die Supermärkte den Herstellern.

Nur etwas spricht eine klare Sprache: das Preisschild hier. Und das Preisschild dort – auf der anderen Seite der Grenze.

Unterwegs mit denen, die diese Sprache fliessend sprechen.

«Ich bin kein Rappenspalter»

Hansjürg Buholzer trägt ein Hemd und eine Umhängetasche aus Leder, seine Haare sind zu einem Rossschwanz gebunden. Er sagt: «Was ich anhabe, ist bis auf die Socken alles aus dem Ausland.»

Hansjürg Buholzer ist seit eineinhalb Jahren pensioniert. Doch das Einkaufen im Ausland geht er an wie früher ein Projekt bei der Arbeit. Er sagt: «Ich bin kein Rappenspalter. Aber ich mache das Ganze schon mit System.»

Buholzer durchforstet das Internet nach dem besten Angebot, prüft Aktionen und klärt bei Händlern ab, ob sie ihm die Mehrwertsteuer zurückerstatten. Die Kundenkarten von Rewe, DM und den anderen Ladenketten hat er als Apps auf seinem Handy.

Buholzers Einkaufstouren sind Familienausflüge. Er und seine Frau planen sie im Voraus. Sie wissen, in welchen Läden es die besten landestypischen Spezialitäten gibt. Und wenn immer es zeitlich passt, fährt eine der Töchter mit. Schön ist das – und praktisch. Denn mit jeder zusätzlichen Person im Auto steigt die Freigrenze: dreimal 150 Franken.

Hansjürg Buholzer: «Für andere ist es Einkaufen. Für mich ist es mehr ein Sport. Ich bekomme jeweils einen Poschtizettel von meiner Frau, nach diesen Sachen schwärme ich dann aus.»

Frau Buholzer: «Also, wir machen das schon nicht jede Woche.»

Herr Buholzer: «Nach Deutschland gehen wir drei bis vier Mal im Monat.»

Frau Buholzer: «So viel ist es nicht. Ich würde eher sagen: alle zwei Wochen.»

Herr Buholzer: «Wir gehen schon drei bis vier Mal.»

Frau Buholzer: «Okay, vielleicht drei Mal.»

Eine Dreiviertelstunde dauert die Fahrt von dem Aargauer Dorf, in dem die Buholzers wohnen, nach Deutschland. Im Garten ihres Hauses gibt es einen Pool. Am Himmel zieht ein Flugzeug Richtung Westen.

Hansjürg Buholzer hat drei erwachsene Töchter. Als sie noch klein waren, hätte sich das Einkaufen im Ausland natürlich besonders gelohnt, sagt er. «Aber wir sind nie gefahren.» Keine Zeit. Damals arbeitete er bei der Migros als Immobilientreuhänder, später fast zwanzig Jahre lang bei der Verwaltung in Zürich. Erst als der Terminkalender sich leerte, fing das mit den Ausflügen über die Grenze an.

Eine Rechenaufgabe für Übermotivierte

Jeanine Rutz hingegen nimmt sich die Zeit trotz den kleinen Kindern – oder gerade ihretwegen. Es ist Samstagmorgen und sie ist früh aufgestanden, um dem Verkehr aus dem Weg zu gehen.

Jetzt schiebt sie einen Einkaufswagen durch den Drogeriemarkt DM und bleibt in der Babyabteilung stehen. «Seit mein Mann und ich Kinder haben, kaufen wir bewusster ein», sagt sie. «Wir googeln Inhaltsstoffe, checken die Hersteller und fragen uns bei jedem Produkt: Muss es Markenware sein oder reicht auch ein No-Name-Artikel?»

Beim Regal für Säuglingsnahrung greift Rutz dann doch zur Marke. Vier Packungen Bio-Demeter-Anfangsmilch von Holle legt sie in den Wagen. «Die ist in der Schweiz massiv teurer wie hier.»

Rutz betont, sie kaufe nur jene Produkte in Deutschland, bei denen sie sich als Schweizerin veräppelt fühle. «Die meisten Lebensmittel hole ich immer noch in der Migros oder beim Bauern.»

Nicht aber die Babyartikel. «Ich habe das einmal ausgerechnet», sagt Rutz. «Allein bei diesen Produkten spare ich im Monat so viel, wie ein Wocheneinkauf für eine Familie in der Schweiz kostet.»

Jeanine Rutz geht nie allein nach Deutschland. Sie bildet Fahrgemeinschaften – um Benzinkosten zu sparen. Heute ist sie mit ihrer Mutter Brigitte unterwegs. Diese führt eine Reinigungsfirma und braucht Reinigungsmittel. Scheuermilch, um genau zu sein. «Zehn Flaschen für 1 Euro 95», sagt sie. «Reicht für einen Monat.»

Es sieht zwar nach Shopping aus, hier bei DM, aber eigentlich wird vor allem gerechnet. Vieles erinnert an die Primarschule. An damals, als man noch Textaufgaben lösen musste.

Textaufgaben wie diese: «Brigitte geht alle vier Wochen nach Deutschland und kauft dort zehn Flaschen Scheuermilch à 1 Euro 95. In der Schweiz kostet die Flasche 4 Franken 95. Wie viel spart Brigitte im Monat, wie viel im Jahr – wenn sie den Wechselkurs nicht berücksichtigt?»

Lösung: 30 Franken im Monat, 360 Franken im Jahr.

Zusatzaufgabe für Übermotivierte: Wie viel spart Brigitte, wenn sie die deutsche Mehrwertsteuer abzieht und den Wechselkurs einberechnet?

Lösung: 33 Franken 90 im Monat, 407 Franken 15 im Jahr.

Es sind Textaufgaben wie diese, die viele Kundinnen und Kunden hier machen. Einige Regale sind leer geräumt – ein Hinweis darauf, dass die Schweizer beim Rechnen zum selben Ergebnis gekommen sind. Bei den Feuchttüchern sind Lücken entstanden, ebenso bei den Wegwerf-Wickelunterlagen und den Pampers. Eine Anfrage bei der Medienstelle von DM bestätigt den Eindruck: Schweizer Kundinnen und Kunden kaufen besonders häufig Hygieneartikel, Babyprodukte und Kosmetika.

Wie sehr die Nachbarn dominieren, wird auf dem Parkplatz vor dem Geschäft klar. Er ist bis auf den letzten Platz besetzt. Von 25 Autos haben 24 ein Schweizer Nummernschild. Nur ein blauer Dacia hat ein deutsches Kennzeichen.

Der Arme hat wohl nicht gewusst, dass am Samstag die Eidgenossen einfallen. Und Fakten schaffen. Während man sich auf der anderen Seite der Grenze die Schuld an den hohen Preisen gegenseitig zuschiebt.

Die Schweizer sind auch selbst schuld

Reise nach Olten, zu Mathias Binswanger. Der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz forscht seit Jahren zur Hochpreisinsel Schweiz. Er sagt: «Ein Schweiz-Zuschlag von 20 Prozent ist im Detailhandel wohl das Maximum. Alles darüber ist Abzocke.»

In einer Studie aus dem Jahr 2020 verglich Binswanger verschiedene Branchen der Schweiz mit Deutschland und Frankreich. Besonders hohe Preisunterschiede fand er bei Produkten für die Körper- und Gesichtspflege, bei Parfums, Windeln und Sonnenschutzmitteln.

Wie kommt es, dass bestimmte Produkte in der Schweiz so viel teurer sind?

Neben den hohen Löhnen und Mieten hört man von den Händlern weitere Gründe: die Transportkosten, zum Beispiel. Abweichende Deklarationspflichten oder der Agrarschutz. Und natürlich die Mehrsprachigkeit. Für die kleine Schweiz werden die meisten Produkte in drei Sprachen angeschrieben.

Einen weiteren Grund nennt Professor Binswanger: In der Schweiz gehe es vielen Menschen sehr gut. «Wer mehr bezahlen kann, den lässt man auch mehr bezahlen.»

Das bedeutet: Wer ein sechsstelliges Haushaltseinkommen erzielt, fährt nicht für ein paar Franken Ersparnis über die Grenze. Nicht umsonst spricht man von Kaufkraft – ein Begriff, der die Stärke im Wort trägt. Solange diese Stärke anhält, wird auch die Hochpreisinsel bleiben.

Wobei Insel eigentlich das falsche Wort ist. Die Schweiz ist eher eine Berg- und Tallandschaft mit unterschiedlichen Preisen. In den meisten Branchen sind sie weit höher als im Ausland, in anderen sind sie überraschend tief. Ein Handy oder eine Smartwatch eines bekannten Herstellers kostet in der Schweiz gleich viel oder sogar weniger als in Deutschland. Wo der Wettbewerb besonders hart ist, sind tiefere Preise plötzlich möglich.

Preise, wie sie auch Einkaufstouristen wie Hansjürg Buholzer suchen.

Unternehmen werden gelobt, Bürger gelten als Verräter

In Lauchringen mit seinen 8000 Einwohnern gibt es alles, was Hansjürg Buholzer braucht: einen Rewe, einen DM, einen Optiker und eine Action-Filiale.

Buholzer hat hier sogar einen Ort, an den er seine Online-Käufe hinschickt: eine Postfiliale, die sich als Lieferadresse für Schweizer Kunden anbietet. Buholzer fährt so oft hierher, dass er inzwischen auch Guetzli für die Hunde der Postbetreiberin mitbringt.

Heute holt er zwei Kartons Wein ab, die er bei einem Händler in Dresden bestellt hat. Die Flaschen stammen vom argentinischen Gut des Schweizer Künstlers Dieter Meier. «Das ist ein typischer Fall», sagt Buholzer. «Ein Tropfen vom eigenen Landsmann, und trotzdem ist er in Deutschland günstiger als bei uns.»

153 Euro kosteten die zwölf Flaschen in Aktion. Zieht Buholzer die deutsche Mehrwertsteuer ab, hat er umgerechnet 121 Franken ausgegeben. Bei einem Schweizer Online-Shop kann man den Wein ebenfalls kaufen. Zwei Kisten kosten dort 237 Franken. Fast das Doppelte.

Buholzer sagt: «Von einem Unternehmen erwartet man, dass es möglichst günstig einkauft. Tut es das nicht und stimmen die Geschäftszahlen nicht, laufen die Verantwortlichen Gefahr, ersetzt zu werden.» Nur beim Bürger, so findet er, gälten andere Regeln.

«Wer für sich selbst günstiger einkauft, gilt in gewissen Kreisen nicht als kluger Rechner, sondern als Landesverräter. Warum aber sollte ich nicht dasselbe Recht haben wie ein Unternehmen?»

Hansjürg Buholzer lädt seinen Rewe-Einkauf in den Kofferraum. Mit dabei: Bananen, Twix – und natürlich Rüebli für die Pferde.

Buholzer weiss, dass sein System auch Schwächen hat. Dass er nicht nur die Preise im Ausland anschauen darf, sondern auch die Kosten für das Benzin mitrechnen muss. Die Amortisation seines Autos. Und das Mittagessen im Restaurant, das sich Buholzer meistens gönnt.

«Wir machen sicher keinen wahnsinnigen Gewinn», sagt er. «Würden wir eine Vollkostenrechnung machen, wären wir wahrscheinlich noch überrascht, wie wenig es sich rentiert.»

Aber darum geht es Buholzer nicht. «Ich bin in den Jahren der 68er Bewegung aufgewachsen», sagt er. Und auch wenn er keinen Bart trägt und das Hemd heute von Lacoste ist: Ein bisschen Rebell ist er geblieben.

Das zeigt sich bei der Wertfreigrenze. «Als diese gesenkt wurde, baute sich bei mir ein innerlicher Gegendruck auf», sagt Buholzer. Viel verändert habe sich seit der neuen Zollregelung für ihn aber nicht. «Man muss halt ein bisschen gescheiter planen als früher», sagt er.

Den Gegendruck spürt Buholzer aber nicht nur beim Einkaufen, sondern auch beim Spazieren mit den Hunden. Wenn die Bauern an ihm vorbeifahren, auf Traktoren, so gross, dass er nicht einmal in die Kabine sieht. «Da werde ich kribbelig», sagt er. «Wir subventionieren die Landwirtschaft als Steuerzahler. Und an der Kasse sollen wir bei ihren Produkten dann nochmals drauflegen.»

Doch Buholzer ist keiner, der auf dem Bundesplatz Parolen skandiert. Er schreibt Briefe: ans Finanzdepartement in Bern, an die Schweizer Delegation der EU und an die höchste Detailhändlerin im Land. Die Schreiben sind freundlich im Ton und deutlich in der Sache.

Warum wird die Wertfreigrenze gesenkt? Warum interessiert sich die Politik nicht für die kleinen Leute, die besonders unter den hohen Preisen in der Schweiz leiden? Warum, warum, ja warum?

Erklärungen bekommt Buholzer keine. Und so revoltiert er weiter. Es ist ein stiller Widerstand, in der Hand kein Protestplakat, sondern den Einkaufszettel.

Keine Schuldigen, aber einen Sündenbock

Wie viele es Hansjürg Buholzer gleichtun, ist schwer zu sagen. Die Schätzungen zum Einkaufstourismus gehen auseinander. Die Swiss Retail Federation, der Branchenverband der Schweizer Detailhändler, geht davon aus, dass jedes Jahr 8,5 Milliarden Franken ins Ausland abfliessen.

Das spüren auch die beiden grossen Supermärkte im Land.

Ein Sprecher der Migros schreibt, der Einkaufstourismus habe sich auf hohem Niveau stabilisiert. Seit dem Franken-Schock vor zehn Jahren kämpfe man gegen eine grosse Konkurrenz: das Ausland.

Den Vorwurf der Abzockerei weist die Migros «klar zurück». «Überhöhte Margen können wir uns angesichts des hohen Wettbewerbsdrucks gar nicht leisten.»

Ob das stimmt, ist fraglich. Eine Analyse der NZZ kam zu einem anderen Schluss. Zwar hat der Wettbewerbsdruck zugenommen mit dem Markteintritt von Aldi und Lidl. Aber er ist immer noch längst nicht so hoch wie etwa in Deutschland. Im Detailhandel ist damit mehr Speck vorhanden als im grenznahen Ausland.

Dennoch argumentiert Coop ähnlich wie die Migros. Drei Viertel der Schweizer Bevölkerung könne innerhalb einer Stunde einen ausländischen Supermarkt erreichen, sagt eine Sprecherin. In einem solchen Umfeld seien überhöhte Preise nicht möglich. «Insgesamt bleibt Coop pro Franken Umsatz ein Ertrag von 1,7 Rappen.» Verglichen mit anderen Unternehmen in der Schweiz sei das «sehr tief».

Wer also ist schuld an den überrissenen Preisen – wenn nicht die Detailhändler?

Eine wichtige Rolle spielt der Schweizer Agrarschutz. Er treibt die Preise für viele Lebensmittel nach oben. Auch die Mehrsprachigkeit und die regulatorischen Vorschriften sind ein Faktor. Doch von den Händlern wird vor allem ein Kostentreiber genannt: die hohen Beschaffungskosten.

Hersteller verlangten mehr Geld von Schweizer Einkäufern, so die Argumentation der Detailhändler.

Laut einer Studie der Swiss Retail Federation vom vergangenen Jahr müssen Detailhändler in der Schweiz im Vergleich zu ihren Konkurrenten im Ausland um 50 Prozent teurer einkaufen.

Im Januar hat die Migros deshalb Klage eingereicht – gegen Beiersdorf, den Hersteller von Nivea. Der Vorwurf: Beiersdorf nutze die Kaufkraft der Schweizer bewusst aus. Deutsche Händler würden für dieselben Produkte nämlich bis zu 80 Prozent weniger bezahlen als die Schweizer.

Die Anzeige liegt gegenwärtig bei der Wettbewerbskommission. Ob es zu einem Verfahren kommt, ist offen. Sicher ist nur, die Klage ist auch eine Botschaft: Für die hohen Preise sind die anderen verantwortlich.

Aber Beiersdorf ist sich keiner Schuld bewusst. Eine Sprecherin schreibt: «Die Annahme, dass wir gegenüber Schweizer Händlern grundsätzlich höhere Preise für unsere Produkte verlangen, ist falsch.» Die Einstandspreise für internationale Markenprodukte in der Schweiz seien «fair und marktorientiert» kalkuliert.

Entsprechend überrascht reagiert der Nivea-Hersteller auf die Klage der Migros. Bis zur Berichterstattung in den Medien habe man «keine Kenntnis» davon gehabt. «Die Anzeige liegt uns bis heute nicht vor.» Tatsache sei: Beiersdorf Deutschland habe der Migros vor mehr als einem Jahr ein Angebot unterbreitet, «das den branchenüblichen Bedingungen vergleichbarer Kunden in Deutschland» entspreche. Deshalb könne man die sich gegenwärtig «im Umlauf befindenden Informationen und Zahlen» nicht nachvollziehen.

Und schliesslich, so Beiersdorf, liege der Einkaufspreis für ein Produkt in der «alleinigen Hoheit» des Handels. «Schweizer Detailhändler kalkulieren anders als beispielsweise deutsche Detailhändler.»

Dies betonen auch andere grosse Markenhersteller wie etwa L’Oréal. Man könne nichts zur Preisbildung sagen, da «die finalen Verkaufspreise ausschliesslich von den jeweiligen Händlern bestimmt werden».

Gar nicht äussern will sich Nestlé, der grösste Nahrungsmittelkonzern der Welt. Man bedauere, zu diesem Thema, «das sehr umfangreich ist und die gesamte Branche betrifft», keine Stellung nehmen zu können.

Bei Unilever wiederum, dem Konzern hinter Marken wie Knorr, Magnum oder Dove, antwortet eine PR-Agentur. Auch sie stützt sich auf die altbekannten Argumente: Die Schweiz sei ein kleiner Markt mit hohen Kosten für Personal und Miete. Unilever sieht sich deshalb nicht in der Verantwortung: «Es ist uns ein Anliegen, festzuhalten, dass wir als Lieferant der Produkte keine Einflussnahme auf die Preisgestaltung haben.»

Eine letzte Anfrage geht raus zu Promarca, dem schweizerischen Markenartikelverband. Dort heisst es, «die Darstellung der Schweiz als Hochpreisinsel» sei «eine tendenziöse Verkürzung». Händler hätten unterschiedliche Vermarktungsstrategien. Regalpreise zwischen den Ländern könne man deshalb nicht eins zu eins vergleichen.

Fazit dieser Suche nach einer Antwort: Schuld sind immer die anderen.

In der Sozialpsychologie nennt man dieses Paradox Verantwortungsdiffusion. Alle waren am Resultat beteiligt, aber keiner ist dafür verantwortlich.

Nur einen Sündenbock kennen alle, es ist der Einkaufstourist. Er bringt die heimischen Händler unter Druck. Diese müssen sich mehr anstrengen, um gute Preise zu bieten. Die Migros sagt zwar, es sei allen Konsumentinnen und Konsumenten selbst überlassen, wo sie einkaufen würden. Aber: «Sie sollten sich der Folgen bewusst sein. Der Einkaufstourismus hat eine Auswirkung auf das Stellenangebot im Detailhandel in der Schweiz.»

Dagmar Jenni, Direktorin des Branchenverbands Swiss Retail Federation, bringt es noch deutlicher auf den Punkt: «Wenn wir generell mit dem Schweizer Lohn im günstigsten Ausland einkaufen, ist es eine Frage der Zeit, bis die Löhne und Arbeitsstellen in der Schweiz betroffen sind und wir fürs Kind eine Lehrstelle in Deutschland oder gar China finden müssen.» Natürlich sei das überspitzt, «doch es zeigt das Risiko auf, dass wir so unseren Lebensstandard und auch die Versorgungsnähe nicht weiterführen können.»

Es ist ein bekanntes Schreckensszenario. Die Einkaufstouristen als Parasiten, als Gefährder der Jobs in der Schweiz. Es ist eine Erzählung, die schon viele Jahre überlebt hat.

Aber was ist mit denen, die nicht freiwillig zu Einkaufstouristen geworden sind?

Der Papa liess sich erst mit Ricola überzeugen

Jeanine Rutz fährt mit ihrem Auto auf den Parkplatz von Edeka, dem zweiten Ziel ihrer Jestetter Einkaufstour. Hat sie ein schlechtes Gewissen, hier einzukaufen?

Bei der Hinfahrt leer, bei der Rückfahrt voll: Windeln, Reinigungsmittel und Esswaren brauchen im Kofferraum viel Platz.

Rutz sagt: «Nein, im Gegenteil. Wir Konsumenten sind sowieso die Schwächsten.» Rutz betont, sie unterstütze das Schweizer Kleingewerbe, aber nicht die Geschäftsleitung von Migros und Coop. «Am Ende erhält die einfache Kassierin dadurch auch nicht mehr Lohn.»

In ihrer Familie waren jedoch nicht alle mit ihren Ausflügen ins Ausland einverstanden. «Mein Papi ist selbständig. Er sagte immer: ‹Is Tüütsche go poschte, das kannst du doch nicht machen.›»

Bekehrt wurde er schliesslich – ganz schweizerisch – wegen Ricola-Bonbons. «Als er einmal selbst in Deutschland war und eine Packung kaufte, sah er, dass sie dort viel günstiger sind. Seine Schwiizer Zältli!» Nach diesem Erlebnis habe er gesagt: «Es ist ok, wenn du ennet der Grenze einkaufen gehst.»

Jeanine Rutz steigt aus dem Auto und läuft zum Plexiglas-Häuschen mit den Einkaufswagen. Hier hängt ein Edeka-Plakat mit der Aufschrift: «Gemeinsam einkaufen, gemeinsam sparen.» Die Werbung zeigt ein comicartiges Cabriolet, aus dem eine vierköpfige Familie grinst und winkt. Auf dem Autokennzeichen steht: «600 Franken Freibetrag».

Werbung für Einkaufstourismus in Deutschland (links). Volle Wagen nach dem Einkauf beim Drogeriemarkt DM (rechts).

Der Buholzer-Trick ist hier Marketing: Bring einfach mehr Menschen mit, dann kannst du einkaufen wie gehabt.

Das Plakat ist eine Panikreaktion auf die halbierte Freigrenze. Deutsche Händler, die vom Einkaufstourismus profitieren, fürchten um ihre Schweizer Kundschaft.

Was in grenznahen Orten auf dem Spiel steht, zeigt sich in Jestetten und dem benachbarten Lottstetten beispielhaft: Dort hat sich eine ganze Industrie auf die Schweizerinnen und Schweizer ausgerichtet. Aus zwei Dörfern ist eine Shopping-Metropole geworden. Hier gibt es für knapp 8000 Einwohnerinnen und Einwohner drei DM-Drogeriemärkte. Hier gibt es Edeka, Lidl, Aldi und den Getränkemarkt Fristo.

Bald kommen weitere Geschäfte hinzu. Ein Gewerbegebiet wird gebaut, mit Edeka, Netto und einem weiteren Drogeriemarkt: Rossmann. Die McDonald’s-Filiale hat schon geöffnet. Etwas weiter weg entsteht ein Denns-Biomarkt und eine Filiale der Haustierkette Fressnapf.

Ein Dutzend Supermärkte für 8000 Einwohnerinnen und Einwohner. Das sei für die einheimische Bevölkerung «sicher überdimensioniert», sagte der Bürgermeister von Jestetten in einem Bericht der «Schaffhauser Nachrichten».

Als ob es bei diesen Läden um die einheimische Bevölkerung ginge.

Eine Volksinitiative hätte alles verändern können

Die Auswüchse von Shopping-Dörfern wie Jestetten oder Lauchringen zeigen auf, wie mächtig der Einkaufstourismus geworden ist. Sie sind auch Symbol dafür, dass immer mehr Menschen der Hochpreisinsel Schweiz den Rücken zuwenden.

Dabei gab es einen Moment, der alles hätte verändern können: Im Jahr 2016 lancierte der Konsumentenschutz zusammen mit KMU-Verbänden die Fair-Preis-Initiative. Ihr Ziel war es, den Schweiz-Zuschlag endlich abzuschaffen.

Es wäre eine echte Attacke auf die Hochpreisinsel gewesen. Die Initiative zielte auf jene Akteure, die sich die Schuld an den zu hohen Preisen bis heute gegenseitig zuschieben: die Produzenten, die Lieferanten, der Handel.

Im Bundeshaus nahm man die Initiative ernst. Allen war klar: Kommt sie vors Volk, hat sie gute Chancen. Zu tief sass der Frust in den Jahren nach dem Franken-Schock. Niemand verstand, warum die Zahnpasta in Zürich doppelt so viel kostete als in Konstanz.

Der Grosshandel, der Wirtschaftsverband Economiesuisse und der Schweizerische Markenartikelverband Promarca wollten ein Ja an der Urne unbedingt verhindern. Und sie kamen damit durch: Das Parlament erarbeitete einen indirekten Gegenvorschlag, die Gesetzesänderungen traten 2022 in Kraft. Die Köpfe hinter der Fair-Preis-Initiative sprachen von «einem grossen Erfolg».

Das Kernstück des neuen Gesetzes ist ein Verbot von Preisdiskriminierung im Online-Handel. Wer bei einem ausländischen Shop etwas bestellen will, wurde oft auf die Schweizer Website des Anbieters umgeleitet, auf der die Preise dann massiv höher waren. Dieses sogenannte Geoblocking ist nun verboten.

Zudem wurde das Konzept der relativen Marktmacht im Kartellgesetz eingeführt. Dies erlaubt es der Migros nun, gegen Beiersdorf zu klagen.

Doch abgesehen davon: Was hat sich wirklich verändert? Die Preise sind hoch geblieben. Und schuld sind immer noch die anderen.

Die Hochpreisinsel, sie ist eine Hochpreis-Festung geworden. Abgeschottet und gut bewacht.

Der Bonus der kleinen Leute

Doch Jeanine Rutz hat einen Weg aus der Festung gefunden. Er führt am Zoll vorbei. Die junge Mutter hat ihre Einkäufe eingeladen und fährt nun in Richtung Grenze. Ein paar hundert Meter vor dem Zoll stockt der Verkehr. Auf der rechten Seite stehen dicht an dicht Autos mit Schweizer Kennzeichen. Sie wollen parkieren, wo es offiziell gar keine Parkplätze gibt.

Das Warten vor der Grenze lohnt sich für Einkaufstouristen. Mit dem begehrten Zollstempel erhalten sie die deutsche Mehrwertsteuer zurück.

Ein Stück weiter wird klar, worauf das Chaos hinausläuft. Vor einem grauen Zweckbau hat sich eine Schlange gebildet. Männer und Frauen halten lange Quittungen in der Hand, die im Wind flattern. Die Zettel sind bares Geld. Damit erhalten die Einkaufstouristen die deutsche Mehrwertsteuer zurück. Der Bonus der kleinen Leute.

Im Jahr 2023 hat der deutsche Zoll 7 795 400 Ausfuhrscheine abgestempelt. So viele wie seit Jahren nicht mehr.

Die Leute schieben ihre Quittungen zusammen mit dem Personalausweis durch einen schmalen Schlitz. Hinter einer verspiegelten Scheibe sitzt ein Zöllner. Er wirft einen Blick auf die Belege und lässt ein schweres Gerät auf den Zettel runter sausen.

Rumms.

Ein blauer Stempel mit deutschem Adler. Beim nächsten Einkauf wird die Mehrwertsteuer direkt an der Kasse des Ladens abgezogen. Die ohnehin günstigen Preise werden so noch günstiger.

«Die Schlacht ist vorbei»

Hansjürg Buholzer holt sich seinen Bonus an der Rewe-Kasse in Lauchringen ab. Seine Frau packt die neuen Einkäufe aufs Förderband: Salami, Gummibärchen, Bananen. Und Eier: Die Bio-Zehnerpackung kostet bei Rewe 3 Euro 29. Buholzer sagt: «Bei den Landwirtschaftsprodukten ist der Unterschied am grössten. Sobald in der Schweiz das eigene Gemüse marktreif ist, machen sie die Grenzen zu, und die Preise steigen bei uns.»

Nach knapp zwei Stunden hat Hansjürg Buholzer alles eingekauft, was auf seiner Liste stand. «Die Schlacht ist vorbei», verkündet er und lacht. Im Kofferraum seines Autos schiebt er die Einkaufstaschen aneinander. Auf der Aussenseite der Taschen sieht man das Logo der Migros. Drinnen stecken Produkte aus Deutschland.

Hat er kein schlechtes Gewissen, weil er im Ausland einkauft? «Nein», sagt er. «Wir geben auch viel Geld in der Schweiz aus. Bei diversen Detailhändlern etwa. Zudem kommen unsere Handwerker immer aus der Schweiz, und auch die Autos bringen wir bei uns in den Service.»

Kurz vor der Grenze machen die Buholzers einen letzten Halt. Mittagessen im Gasthof Engel. Hansjürg Buholzer sitzt am Fenster.

Sein Blick geht auf die Strasse, die zurück in die Schweiz führt. Er sagt: «Wir kaufen im Ausland ein, weil es sich für uns rechnet. Aber auch, weil es sich nicht falsch anfühlt.»

Mitarbeit: Moritz Kaufmann

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