Freitag, März 14

Wie ein illegal Eingewanderter aus Mexiko die Grenze überqueren oder als Teenager-Mädchen die erste Periode bekommen und auf einem Tampon sitzend in einem Blutfluss gegen einäugige Kraken kämpfen: Der Immersions-Irrsinn hat Cannes erreicht.

Im Kinder-Actionfilm «Last Action Hero» mit Arnold Schwarzenegger gibt es ein magisches Kinoticket, mit dem man nicht nur in den Saal, sondern von dort direkt in den Film befördert wird. Plötzlich folgt man nicht mehr nur einer Handlung, man kann sich einmischen. Dieser langgehegte Traum des kommerziellen Kinos, der die Illusion der Wirklichkeit vervollkommnen möchte, scheint heute greifbarer denn je. Zumindest wenn man dem Marktgeschrei derjenigen lauscht, die das Kino als Überwältigungstechnologie verstehen.

Wenn sie das in Prospekten von Elektrohandelsketten oder auf Plakaten in Multiplexen tun, kann man das leicht ignorieren. Taucht aber eine «Immersive Competition» im Rahmen des wichtigsten Filmkunstfestivals der Welt in Cannes auf, wundert man sich doch. Träumt jetzt auch die Croisette von der perfekten Illusion, einer den Zuschauer verschlingenden Erfahrung? Ganz so einfach ist es nicht, bedenklich aber schon.

Alejandro González Iñárritu hat es vorgemacht

Bei der neu eingeführten Reihe werden Arbeiten gezeigt, die man an der Grenze zwischen Virtual Reality, Videospiel und Installation verorten kann. Dass solche Arbeiten im Rahmen von Filmfestivals gezeigt werden, ist keineswegs neu, schon vor sieben Jahren zeigte etwa der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu «Carne y Arena», eine fragwürdige «immersive» Arbeit, in der man die Erfahrung von illegal aus Mexiko in die USA migrierenden Menschen nachempfinden sollte, indem man beispielsweise barfuss durch Sand ging. Nach der Premiere gab es Champagner, kein Scherz.

Entsprechende Sektionen gibt es längst auf allen wichtigen Festivals, meist in eigenen, mit Neonlichtern beleuchteten Räumlichkeiten, die eine abstrakte Idee von Zukunft vermitteln wollen. Ob man nun einverstanden ist damit, dass sich Filmfestivals mit anderen Formen des Bewegtbildes befassen oder nicht, sei dahingestellt.

Die Rechtfertigung ziehen die Festivals unter anderem aus der Präsenz von Regie- und Schauspielstars, die den Figuren in den virtuellen Welten ihre Stimmen leihen, dieses Jahr sind das unter anderem Cate Blanchett, Jessica Chastain oder Colin Farrell. Strenggenommen könnte man wohl auch Videospiele präsentieren, Fussballübertragungen auszeichnen und Youtube-Videos in einem Wettbewerb zeigen. Aber bringen wir die Festivals nicht auf Ideen, die sie ohnehin schon alle haben.

Psycho-Trip durch ein dystopisches London

Gezeigt (oder gespielt?) wird etwa der partizipative Film «Maya: The Birth of a Superhero» von Poulomi Basu und CJ Clarke. Auf ziemlich intelligente Art und Weise findet man sich dabei in der Haut eines südasiatischen Teenager-Mädchens in einem dystopischen London wieder. Man bekommt die erste Periode und folgt einem satirischen Psycho-Trip durch irre Welten, in denen man unter anderem auf einem Tampon sitzend in einem Blutfluss gegen einäugige Kraken kämpft. Hinter dem etwa 30-minütigen Spektakel versteckt sich eine emanzipatorische Botschaft. Ob es dazu diese neuen Technologien braucht, lässt sich schwer beantworten.

Die Frage darf aber gestellt sein: Was macht das mit uns, wenn wir Geschichten erleben, statt sie wahrzunehmen? Verlieren wir damit nicht gerade das, was uns in der von Bildern dominierten Welt ohnehin schon abhandenkommt: eine Distanz, die ein kritisches Erkennen erlaubt? Das Wahrnehmen wird zu einem Spiel, einer körperlichen Erfahrung, in der man selbst Protagonist ist, es also kein Mitgefühl braucht, um nachzuvollziehen, wie es anderen geht.

Es mag alles etwas altmodisch klingen, aber diese sich zwanghaft und aus wirtschaftlicher Notwendigkeit an jegliche Erneuerung anpassende siebte Kunst droht ihre Qualitäten zu verlieren.

Immersion ist ein typisches Beispiel für eine vom technologischen Markt bestimmte Sprechweise, die vom akademischen und kritischen Diskurs unhinterfragt übernommen wird. Wobei Immersion eigentlich schon von gestern ist, heute ist es KI, morgen das nächste grosse Ding. Die eigentlichen Arbeiten interessieren nur am Rande, die Konzepte dahinter entfachen grellere Feuer.

Alles klingt wie Werbung

Immersion kommt vom lateinischen Wort «immersio» und bedeutet so viel wie eintauchen, untertauchen. Zugegeben, im Fall von VR-Filmen ergibt dieses Wort Sinn, weil es nicht nur einen mentalen, sondern einen körperlichen Zustand beschreibt, dennoch stösst man auch auf diese Vokabel, wenn man sich mit dem herkömmlichen Kino befasst. Deshalb klingen Texte über Filme heute oft wie Werbung. Denn alles hat heute eine immersive Erfahrung zu sein, man taucht förmlich ein in die Welten und so weiter.

In dieser Hinsicht ist die Immersion direkter Nachfolger der Identifikation. Beide Begriffe betonen einen angeblichen Wert von Bewegtbildern. Gibt es Bewegtbilder also hauptsächlich, damit wir in ihnen verschwinden? Sind sie vor allem dafür da, dass wir uns selbst sehen? Das darf zumindest hinterfragt werden. Wer sich jedenfalls selbst auf der Leinwand sucht, könnte stattdessen auch einen Spiegel betrachten, das wäre erfolgversprechender.

Man sollte auch fragen: Könnte uns das Kino nicht herausholen aus dieser übergriffigen Nähe der Bilder? Könnte das Kino kein dringend benötigtes Bewusstsein schaffen für Bilder und deren Wirkweisen? Das könnte übrigens deutlich unterhaltsamer sein, als es klingt, man denke etwa an die Filme Fritz Langs, die genau das leisteten und dabei Massen begeisterten. Und es gibt auch heute Filmemacher, die genau das vom Kino fordern, manche von ihnen werden anderswo in Cannes gezeigt.

Wie 3-D-Filme

Je kleiner die Bildschirme werden, desto lauter wird nach Immersion geschrien. Das erinnert an ähnliche Mechanismen der Filmindustrie wie bei der Einführung von Technicolor oder Cinemascope oder der 3-D-Technologie. Es ist ein Verkaufsargument, mehr nicht. Jede Abstufung von HD verspricht mehr Immersion. Dabei gibt es nicht mehr oder weniger Immersion. Es gibt nur eine Immersion, und selbst die gibt es nicht wirklich im Aufeinandertreffen von Mensch und Bildern.

Kann es wirklich sein, dass diese trotz zahlreichen Sinn- und Finanzkrisen milliardenschwere Industrie ihr eigenes Produkt nicht kennt? Oder muss man hier einfach die Bewerbung von der eigentlichen Erfahrung trennen? Auch zeitgenössische Filmtheorien haben längst ihre Geduld mit dem Kinosaal und dessen Limitierungen verloren.

Die Kulturpraxis des konzentrierten, räumlich geordneten Sehens wird zum Auslaufmodell erklärt, die grenzenverwischende, teilnehmende freie Form als eigentlicher Weg in die Zukunft angepriesen. Das Kino wird als museale Kulturpraxis verstanden, vielleicht gar nur als eine Zwischenstation in Bezug auf andere, effektivere Formen der Wahrnehmung. Immersion, so wird behauptet, sei das, was die Menschen wollten. Aber ist das wirklich so?

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