Freitag, Oktober 18

Der Youtuber Inoxtag war ein Gamer, dann stand er auf dem Everest – seine Dokumentation darüber erreicht ein Millionenpublikum. Können es wirklich selbst völlig Unerfahrene auf den Mount Everest schaffen?

Darüber, wie viel Erfahrung es braucht, um auf den höchsten Berg der Erde zu steigen, gehen die Meinungen auseinander. Reinhold Messner hatte vor seinem Erfolg am Mount Everest 1978 – Peter Habeler und er waren ohne Flaschensauerstoff unterwegs – bereits die Gipfel von Nanga Parbat, Manaslu und Gasherbrum I erreicht. Für Billi Bierling, die Mitarbeiterin der Expeditions-Datenbank Himalayan Database, war der Mount Everest der erste Achttausender. Wobei sie vor diesem Erfolg auf mehreren anderen hohen Bergen gestanden hatte und hinterher dann gleich mehrfach auf einem Achttausender war.

Doch gerade in den letzten Jahren gibt es ganz viele Alpinistinnen und Alpinisten, vorwiegend aus Indien und China, die ohne jegliche bergsteigerische Erfahrung an den höchsten Berg der Welt reisen und danach nie mehr auf einen Berg steigen.

Etwas mehr als 12 000 Gipfelerfolge am Mount Everest sind seit der Erstbesteigung 1953 durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay bis im Jahr 2023 gezählt worden. So ist es in der Himalayan Database vermerkt. Knapp die Hälfte der Besteigungen erfolgte in den vergangenen zehn Jahren.

Die Sparvariante gibt’s für 30 000 Dollar

Heute werden Stufen in das Eis geschlagen, Fixseile vom Basislager bis zum Gipfel verlegt und Leitern angebracht. Für die Sparvariante müssen Everest-Aspiranten 30 000 Dollar auf den Tisch legen. Bei seriöseren Anbietern werden zwischen 70 000 und 100 000 Dollar fällig. Für 450 000 Dollar gibt es das Luxuspaket mit regelmässigen Helikopter-Shuttles zur Pizzeria in Kathmandu, Übernachtungen im Fünfsternehotel und einer «Gipfel-Garantie».

Rund 670 Gipfelerfolge sollen allein in diesem Frühjahr hinzugekommen sein. Einer der Erfolgreichen war Inès Benazzouz. Inès wer? Jungen Leuten ist der 22 Jahre alte Franzose unter seinem Youtube-Namen Inoxtag ein Begriff. Er ist ein Gamer mit mehr als acht Millionen Followern auf Youtube.

Lange Zeit bewegte sich Inoxtag in der virtuellen Welt von «Fortnite» und «Minecraft». Abenteuer hätten ihn schon immer fasziniert, erzählt er. Erst fand er sie in Büchern, später suchte er sie in den Online-Spielen. Und schliesslich entschied er, Abenteuer real zu erleben. Die Besteigung des Mount Everest war so eines, ein Jahr gab sich Benazzouz Zeit, um auf dessen Gipfel zu stehen. Zwischen 600 000 und 1,2 Millionen Euro soll das Projekt gekostet haben; manche schätzen sogar 2 Millionen Euro.

Wer weiss schon, ob der Everest das grösste Abenteuer ist, das auf der Welt zu erleben ist. Auf der nepalesischen Südseite entsteht auf dem Khumbu-Gletscher jedes Jahr ein mittelgrosses Dorf aus Zelten mit allem Komfort, den man sich in einer derart unwirtlichen Gegend nur wünschen kann: Yogakurse, Playstation und Grossbildfernseher zum Zeitvertreib. Und internationale Kochteams, die Menus auf Sterneniveau zubereiten – so zumindest preisen es die Expeditionsveranstalter an.

Bei all diesem Luxus ist der Mount Everest unbestritten das höchste Abenteuer, das es zu erleben gibt. Und vor allem ist es ein ambitioniertes Unterfangen, wenn man bedenkt, dass der in der Nähe von Paris lebende Inoxtag kein Sportler war bis zu dem Tag, an dem er den Entschluss fasste, auf den höchsten Berg der Welt zu steigen.

Die «Kaizen»-Doku ist bereits ein Kinohit

Seine Fitness beschränkte sich auf das, was der E-Sport erfordert. Er hatte bestimmte motorische und geistige Fähigkeiten; über Ausdauer und körperliche Fitness verfügte er jedoch nicht. So genau bekannt ist das, weil Inoxtag sein Everest-Abenteuer in einem Film dokumentierte, dessen Titel «Kaizen» lautet. Das Wort stammt aus dem Japanischen und bedeutet «sich zum Besseren verändern».

Der Film ist zweieinhalb Stunden lang, was für einen Digital Native erstaunlich ist; die durchschnittliche Länge eines Tiktok-Videos liegt bei rund vierzig Sekunden. Was ebenfalls erstaunt: Obwohl der Film von Inoxtag kostenlos bei Youtube zu sehen ist, läuft er auch im Kino. In Frankreich, Luxemburg und Belgien füllt er nicht nur Kinosäle, sondern ganze Kinos mit mehreren Sälen – so gross ist die Nachfrage. Auf Youtube erreichte die Doku 11,7 Millionen Views in den ersten 24 Stunden und 34 Millionen Aufrufe seit der Veröffentlichung am 16. September.

«Ehrlich gesagt, ist dieser Typ wirklich die Person, an der sich jeder ein Beispiel nehmen sollte», schrieb ein Internetnutzer. «Bro, es ist unglaublich, was du tust. Du wirst vielen Menschen Hoffnung geben, das ist echt krass», postete ein anderer. Doch nicht alle sind so begeistert.

Inoxtag hat die Diskussion nach der Schwierigkeit – oder eben der Leichtigkeit – einer Everest-Besteigung neu entfacht. Der Film verharmlose den Mount Everest, meinen viele. «Ich sehe nicht, wo die Leistung liegt. Den Everest mit Sauerstoff zu besteigen, ist heute so, als führe man die Tour de France mit einem E-Bike», sagte der französische Fotograf Pascal Tournaire, der im Oktober 1990 auf dem Gipfel des Mount Everest stand, der Sportzeitung «L’Équipe». Habe man genug Geld, sei der Gipfel des Mount Everest für jeden gesunden Menschen, der sich ein bisschen bemühe, erreichbar.

Und Marc Batard, der mit Tournaire auf dem Mount Everest gestanden und zahlreiche erfolgreiche Achttausender-Expeditionen als Leiter verantwortet hatte, sagte dem Fernsehsender BFM, echtes Bergsteigen sei das Gegenteil dessen, was Inoxtag in den Mittelpunkt seines Films stelle: «Wir sind mittlerweile sehr weit von den Werten des Bergsteigens entfernt. Hier verschmutzen wir den Berg für einen Typ, der nur einmal kommt.» Es sind vor allem Everest-Besteiger der älteren Generation, die solche Kritik äussern. Es scheint, als ob sie um den Mythos der bergsteigerischen Heldentat fürchten, der verblasst, wenn selbst völlig Unerfahrene es auf den Gipfel schaffen können.

Die Kritik am Youtuber ist nur teilweise berechtigt

Tatsächlich gibt es gute Gründe, das Unterfangen von Inoxtag skeptisch zu betrachten. «Ich mag es nicht, wenn am Berg Leute um mich herum sind, bei denen ich Angst haben muss, dass sie in eine Spalte stürzen. Und es ist für mich kein Bergsteigen, wenn sie von zwei Sherpas an die Hand genommen und den Berg hinaufgeführt werden müssen», sagt Dominik Müller von Amical Alpin. Das Unternehmen aus Deutschland war einmal ein grosser Expeditionsveranstalter. Heute sagt Müller: «Wir ziehen uns von diesen Bergen zurück. Wir wollen mit Bergsteigern unterwegs sein und nicht mit Gipfelsammlern.»

Für den Bergführer, der selbst ebenfalls schon auf dem Everest-Gipfel stand, ist eine langsame Annäherung an den Berg unerlässlich. Einmal, so erzählt es Müller, habe ihn ein Arzt angerufen. Er sei auf dem Kilimandscharo gewesen, im nächsten Jahr wolle er auf den Mount Everest, sagte der Arzt. Müller schlug ihm ein Aufbauprogramm vor, damit er das technische Können erlernt: den Umgang mit Steigeisen, Spaltenbergung, Gehen in Flanken bis 50 Grad.

Auch ein Gipfel über siebentausend Meter oder ein niedriger Achttausender sollte laut Müller zur Vorbereitung gehören. Damit man weiss, wie der Körper in der Höhe reagiert. Und schliesslich müsse man auch mental gefestigt sein, damit man mit dem Trubel im Basislager und den vielen Menschen am Berg umzugehen wisse. «Wenn man an einer Leiter in der Schlange steht, weil Unerfahrene wieder besonders lange brauchen, darf einen das nicht unter Druck setzen», sagt Müller. Gleiches gelte auch für die Toten, die am Wegesrand lägen. «Das muss man ausblenden können.»

Was aus dem Arzt wurde, der bei Dominik Müller den Everest-Aufstieg buchen wollte? Ob er es auf den Everest geschafft hat? «Der suchte sich einen anderen Anbieter. Wir bekamen einen Anruf von seiner Witwe», sagt der Bergführer. Acht Menschen starben allein in diesem Jahr. Wie viele die Besteigung knapp überlebt haben, oft mit schweren Schäden wie etwa Erfrierungen, kann niemand sagen. Das wird von keiner Statistik erfasst.

Inoxtag bereitete sich akribisch vor

Inoxtag ging sein Everest-Projekt mit Bedacht an. Er ging nicht einfach nach Nepal, sondern bereitete sich gewissenhaft vor. Er hatte einen Fitness-Trainer in Paris. Und er suchte sich einen Bergführer. «Ein Youtuber, das roch zwangsläufig nach einem PR-Gag. Aber als ich ihn besser kennenlernte, wurde mir klar, dass er einen wirklich durchdachten Ansatz hatte», erklärte Mathis Dumas, Inoxtags Bergführer. Nur deshalb habe er sich überhaupt darauf eingelassen, mitzumachen.

Der 30-Jährige bereitete Inoxtag akribisch auf den Mount Everest vor. An den Bergen Dent du Géant, Matterhorn, Montblanc und am Toubkal im Hohen Atlas lernte Inoxtag die Grundlagen. Im Gegensatz zu vielen anderen, die auf den Everest hinaufwollen, kann er Steigeisen anlegen und weiss mit der Steigklemme umzugehen. In einem Hypoxie-Test stellte Inoxtag seine Fähigkeit zur Anpassung an die Höhe auf die Probe. Ein halbes Jahr nach dem Gipfelerfolg an der Ama Dablam, einem formschönen Sechstausender in Nepal, reiste das Team zum Everest.

KAIZEN: 1 an pour gravir l'Everest !

Trotz atemberaubenden Aufnahmen verklärt der Film den Everest nicht. Er zeigt deutlicher als manch andere Produktion die Probleme und Schattenseiten. Und spart auch die Gefahren nicht aus. Trotz Fixseil stürzen am Mount Everest immer wieder Menschen ab. Wenige Minuten nachdem Inoxtag eine bestimmte Stelle am Südgrat passiert hatte, geschah genau aus. Dazu kommen das unwägbare Wetter, die Gefahr von Erfrierungen, die Staus wegen völlig Unerfahrener sowie der Diebstahl von Sauerstoffflaschen, die unerlässlich sind für das Überleben in der Höhe. Nur den wenigsten gelingt ein Aufstieg ohne Flaschensauerstoff. Oder der Müll und die Hinterlassenschaften vieler Expeditionen. Und nicht zuletzt das Problem, dass immer wieder Leute ihrem Schicksal überlassen werden, die allein am Berg, aber völlig hilflos sind, schlimmstenfalls sterben und als Wegmarken zurückbleiben.

Wäre «Kaizen» kein Film, sondern ein Buch, könnte man ihn einen Entwicklungsroman nennen. Das Projekt Everest hat Inoxtag verändert – so zumindest zeigt es der Film. Als er zum Everest aufbrach, entschied er sich, sein Handy zu Hause zu lassen, um sich ganz auf den Berg zu konzentrieren. Inoxtag stieg aus dem Wettlauf aus, auf Youtube regelmässig Videos zu posten: Die Häufigkeit seiner Videos – früher postete er eines pro Woche – halbierte er. Zuletzt postete er sogar ein halbes Jahr lang gar nichts mehr, was den Hype um den Everest-Dokumentarfilm wohl noch vergrösserte. Im kommenden Jahr will er nur fünf oder sechs Videos veröffentlichen, dafür mit mehr Inhalt. Es heisst, er wolle weiter auf Berge steigen.

Exit mobile version