Die leidenschaftliche Depressivität von Tor Ulvens Schreiben zerstört jede Art von bürgerlicher Sicherheit. Am Ende geht es dem Norweger in seiner unerhört präzisen und emotionslosen Prosa darum, zu zeigen, «dass das Leben streng genommen unmöglich ist».

Hat jemals einer so überzeugend hoffnungslose Texte verfasst wie der Norweger Tor Ulven (1953–1995)? Nach einem Nervenzusammenbruch mit Mitte zwanzig verschanzte er sich in seiner Osloer Wohnung; mit 41 beging er Selbstmord.

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Seine Lebenssicht erinnert an die des rumänisch-französischen Philosophen E. M. Cioran. Ulven wird ihn gekannt haben, er konnte Französisch, er übertrug Geistesverwandte wie René Char, Claude Simon und Samuel Beckett. Ein Satz von Ciorans Gedanken über den Selbstmord lautet: «Nur wenn man in irgendeiner Hinsicht immer ausserhalb von allem stand, tötet man sich.» Das genau war Ulvens Gefühl, und er war wie Cioran ein Antisystematiker, seine Texte attackieren verbürgte Sicherheiten und jeden Daseinssinn.

Peinlich genau beschrieben

Dass er trotzdem die Welt erweitern und ihr eine eigene Poesie verleihen kann, indem er die nebensächlichsten Gegenstände und Ereignisse so peinlich genau beschreibt, mag paradox erscheinen, macht aber seine Stärke aus und ist der Grund, warum er ein «Autor der Autoren» geworden ist. Selbst ein Karl Ove Knausgård, der ja so ganz anders schreibt (sagen wir ruhig leserfreundlicher), verehrte Ulven wegen seiner «unerhörten, fast übermenschlichen Präzision». Parallelen gibt es auch zu Francis Ponge und seinen Reflexionen «Im Namen der Dinge» von 1942, wo es über den Regen heisst: «Das Ganze lebt mit der Intensität eines komplizierten Mechanismus, präzis und verwegen.»

Dies trifft ungefähr auch auf Ulven und das neue Buch zu: «Grabbeigaben», sein Prosadebüt von 1988, jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt – preiswürdig von Bernhard Strobel, selber Schriftsteller, der das ganze reichhaltige Spektrum unserer Sprache ausschöpft. Es handelt von Einsamkeit, Erinnerung und Ende.

Gleich zu Beginn begegnen wir einer archäologischen Vorstellungskraft, die uns schier überwältigt. Hähnchenreste, Hammelkeulen, Tonscherben, Meeresschildkröten, Kupfermünzen, Muscheln und weitere Seltsamkeiten, auf denen wir herumlaufen, ohne es zu ahnen. Dinge, die einmal wichtig waren und jetzt dem Verfall überlassen sind. Die aber anscheinend nicht verfallen wollen. Dann denkt man unwillkürlich an Faulkners Satz: «Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.»

Sperrig zu lesen

Über den «Archäologen» Tor Ulven, der Aussortiertes, Reste, Überbleibsel ausgräbt, sind schon Doktorarbeiten geschrieben worden. Dabei ist er selber ganz unakademisch, er gerät in seinem Text eher in einen Zustand der Phantasie, der Trance beinah. Ein Satz, der sich wiederholt: «Wir buddelten in der Erde und» – dann bricht er ab. Teils werden wir mit Paradoxa, teils mit Wortschöpfungen konfrontiert, die eine zwingende Magie besitzen («Dornbusch aus Eis» oder «Beflissenheitsjuckpulver»). Aber natürlich ist das «sperrig» zu lesen, sogar anstrengender und schwieriger als sogenannte hermetische Gedichte, die durch Rhythmus und Zeilenfall übersichtlicher und «endlicher» und genussvoller sein können.

Bruchstücke aller Art werden uns von zwei anonymen Personen vorgetragen, einem Er und einer Sie, es ähnelt einer Litanei der Alltäglichkeiten, die dadurch zu Ewigkeiten werden. Ein Tod soll gemeldet werden, an ein Toscanini-Konzert wird gedacht, an ein Hotel am Meer – aber über allem oder vielmehr unter allem liegen die Reste und Ruinen der Geschichte, und der Bezug zur Antike ist jederzeit spürbar.

Selbst das Intimste wird dann so emotionslos wie ein technischer Vorgang beschrieben. Obwohl doch, wenn es zur Sinnlichkeit käme, «die Zeit des Denkens vorbei wäre». Aber es kommt nicht dazu, und gibt es irgendwo das Wort «Liebe»? Im Ton leidenschaftlicher Depression will Tor Ulven, dem es vor allem um die Wirklichkeit des Textes geht, eigentlich nichts anderes zeigen, als «dass das Leben streng genommen unmöglich ist».

Tor Ulven: Grabbeigaben. Fragmentarium. Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. Droschl-Verlag, Graz 2025. 136 S., Fr. 31.50.

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