Das Unternehmen Selecta steckt in einer Krise, seine Automaten sind überholt. Doch was wären die Schweizer Bahnhöfe ohne die leuchtend roten Helden?
Es gibt Helden, die tragen Umhänge. Und es gibt Helden, die leuchten rot und fordern: «Bitte wählen Sie Ihr Produkt.» Sie stehen bereit, wenn spätabends der Durst kommt oder der Hunger drückt. Wenn alle Läden und Geschäfte geschlossen sind und die nächste Tankstelle zu weit weg liegt, sind sie die heimlichen Retter in der Nacht: die Selecta-Automaten.
Ob in Zürich, in Zofingen oder in Ulisbach im Toggenburg – schweizweit gibt es mehr als 3000 Automaten. Einsam stehen sie auf dem Perron am Bahnhof oder an der Bushaltestelle. Übersehen, wenn man sie gerade nicht braucht. Ersehnt in der Not.
Schokoriegel, Kondome, Schwangerschaftstests
Ihr Inneres gleicht einem Berliner Späti für Nachtschwärmer oder einem Kiosk für die, die tagsüber dringend eine Stärkung brauchen. Chips, Süssgetränke, Energy-Drinks, Schokoriegel, Wurststicks, Kaugummis, ein erfrischendes Wasser. Die Automaten geben, was gebraucht wird. Ein, zwei Knopfdrücke und etwas Kleingeld reichen.
Die Automaten helfen nicht nur Durstigen und Hungrigen. Neben Kinder-Bueno und Kägifrets finden sich auch diverse Hygieneartikel. Seit den 1980er Jahren sind Kondome im Angebot. Dreissig Jahre später folgte der Schwangerschaftstest. Seither können junge Frauen den Test direkt am Bahnhof kaufen. Völlig anonym und zu jeder Tageszeit. Das sorgte vor allem auf dem Land für Erleichterung. Der Gang in die Apotheke, wo man sich neben der Nachbarin beraten lassen musste und zum Gesprächsthema des Dorfes wurde, entfiel.
Etwas anderes hingegen fehlt heute: Früher boten die Automaten noch Zigaretten an. 2007 nahm Selecta sie aus dem Sortiment – und ersetzte sie durch zuckerfreien Fruchtsaft ohne Konservierungsstoffe. Heute gibt es für Raucher nur noch Zigarettenpapier und Feuerzeuge zu kaufen.
Schlechte Google-Bewertungen eint die Automaten
Auch bei der Bezahlung hat sich in all den Jahren einiges geändert: Früher fielen die Münzen ins Selecta-Fach, heute reicht die Kreditkarte oder das Handy. Hat man sein Produkt gewählt, folgt ein leises Surren, dann ein «Klonk» – und die Flasche oder die Packung liegt im Fach. Doch aufgepasst: Einmal falsch gedrückt, gleich bedrückt. Statt des ersehnten Wassers hält man plötzlich den Eistee in der Hand.
Und obwohl die Automaten rund um die Uhr verfügbar sind, erfahren sie wenig Dank. Stattdessen eint sie schlechte Google-Bewertungen. Bei vielen Nutzern sorgen die Automaten für Ärger. Nicht jeder Selecta-Held arbeitet zuverlässig.
Manche verweigern den Dienst, verschlucken Geld oder lassen Artikel in der Spirale hängen. Jeder kennt diesen Moment. Kein Snack, kein Getränk, nur Frust. Letzteren lassen viele mit Schlägen gegen die Scheibe raus. Manche übertreiben es mit der Wut. Laut den aktuellsten Zahlen des Unternehmens wurde 2022 jeder fünfte Automat in der Schweiz von Vandalen beschädigt. Der Selecta-Automat, auch ein Opfer.
Aus den USA nach Murten
Die Geschichte von Selecta beginnt in den 1950er Jahren in Murten im Kanton Freiburg. Dort gründete der Elektrotechniker Joseph Jeger 1957 das Unternehmen. Er hatte die Automaten während einer Geschäftsreise in den USA entdeckt. In der Schweiz fragte er seinen Chef, ob er im Betrieb solche Automaten aufstellen dürfe. Der Chef war vom Konzept begeistert. Zu jener Zeit kannte man Verkaufsautomaten in der Schweiz noch nicht.
Jeger importierte aus Amerika fünf Automaten und passte sie an Schweizer Normen an. Die umgerüsteten Automaten trugen erstmals den Namen Selecta. 1959 startete er die Serienproduktion. Einer seiner ersten Kunden waren die Schweizerischen Bundesbahnen. Seit 1969 betreibt das Unternehmen die Automaten an den Bahnhöfen. Heute ist Selecta in mehreren europäischen Ländern tätig, sein Hauptsitz befindet sich in Cham im Kanton Zug.
Nach mehreren Eigentümerwechseln ist Selecta vor fünf Jahren an das amerikanische Private-Equity-Unternehmen Kohlberg Kravis Roberts & Co. (KKR) verkauft worden. Ohne dieses gäbe es Selecta vermutlich nicht mehr. KKR investierte einen Rettungsschirm in der Höhe von 175 Millionen Euro ins Unternehmen.
Damals machte dem Unternehmen die Corona-Pandemie zu schaffen. Lockdown, Home-Office – die Menschen waren nicht mehr unterwegs. Die Automaten standen verlassen an den Bahnhöfen, die Einnahmen brachen ein. Das Unternehmen stand kurz vor dem Ende.
Doch schon vor der Pandemie hatte Selecta grosse Schwierigkeiten gehabt. Seit Jahren schreibt das Unternehmen hohe Verluste. Die Verschuldung und Experimente mit neuen Geschäftsfeldern erschweren das Geschäft. Die Zahl der Mitarbeitenden wurde in den vergangenen Jahren fast halbiert – von einst 10 000 auf mittlerweile 6000.
Kürzlich folgte ein weiterer Rückschlag: Die Rating-Agentur Moody’s hat das Unternehmen vergangene Woche herabgestuft. Das heisst, dass die Kreditwürdigkeit von Selecta laut Moody’s auf Ramsch-Niveau ist. Das Unternehmen landete in der drittschlechtesten Kategorie – mit einer geringen Aussicht auf Verbesserung und der Gefahr eines Zahlungsausfalls. Ein neuer Tiefpunkt. Und das, obwohl das Unternehmen sich in einem Wandel befindet.
Selecta bleibt am Bahnhof präsent
Von diesem Umbruch sind auch die Selecta-Automaten betroffen. Sie haben sich in den letzten Jahren verändert. Ganz nach dem Motto: «Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen.» Das Sortiment wuchs. Mate-Tee, Powerbanks und einen Anti-Kater-Drink gibt es inzwischen. Die Farbe wechselte von Rot zu Blau. Die Preise stiegen, die Konkurrenz wurde günstiger. An den Bahnhöfen gibt es immer mehr Läden und Geschäfte. Fast fünf Franken für ein Wasser? Viele holen es heute lieber in den Bahnhofläden. Diese haben dank Abend- und Sonntagsverkäufen immer länger offen. Die Automaten wurden von der Zeit überholt. Sie werden heute nur noch von jenen genutzt, die es eilig haben, oder wenn wirklich alles andere geschlossen ist.
Und dennoch bleibt eines unverändert: Trotz allen Herausforderungen verschwindet der Selecta-Automat nicht von den Schweizer Bahnhöfen. Im Juli 2023 verlängerten Selecta und die SBB ihre Zusammenarbeit um sieben Jahre.
Somit wird der Selecta-Automat auch künftig die letzte Rettung für jene sein, die sich nach einer durchzechten Nacht nach einem erfrischenden Wasser sehnen. Wenn einen alle anderen Geschäfte im Stich gelassen haben, steht er da – immer geöffnet, zu jeder Uhrzeit, bei jedem Wetter. Unverwüstlich. Es sei denn, jemand hat seinen Frust an ihm ausgelassen.