Mittwoch, November 20

Tyler Andrews besteigt den Manaslu, den achthöchsten Berg der Welt, in Rekordzeit. Obwohl er nur einen Liter Flüssigkeit mitführt – und der Gipfelsturm eigentlich gar nicht geplant ist.

Tyler Andrews, 34 Jahre alt, steht in der Todeszone. Und dies merkt der Amerikaner an diesem Septembertag auch, als er auf einem Gipfelgrat, auf über 7500 Metern, zum Gipfel des Manaslu in Nepal blickt. Seine Vorräte an Verpflegung sind fast aufgebraucht, Flaschensauerstoff hat er nicht mitgenommen. Er sagt später zur NZZ: «Ich fühlte mich mies und sterbensmüde.» Trotzdem nimmt sich Andrews vor, weiterzugehen, 50 Schritte nur. Dies wiederholt er daraufhin immer und immer wieder. Er macht ein Spiel daraus, um sich zu überlisten – bis er auf dem Gipfel steht.

Sein Leben dreht sich um drei Buchstaben: FKT – «fastest known time», die schnellste bekannte Zeit. Die drei Buchstaben stehen für einen Trend im Alpinismus. Es geht nicht mehr nur um den Gipfelerfolg oder darum, eine herausfordernde oder neue Route zu klettern. Was zählt, sind Stunden, Minuten, sogar Sekunden. Wer erreicht den Gipfel am schnellsten?

Das olympische Motto «Citius, altius, fortius» – schneller, höher, stärker – hat die Berge erreicht. Dazu passt, dass Andrews sich nicht als Alpinist sieht. Er sagt: «Im Klettern bin ich technisch limitiert. Ich bin nicht schon als Kind geklettert.» Im Herzen sei er ein Leichtathlet geblieben. In den Bergen verlasse er sich auf den «grossen Motor, den ich mir antrainiert habe».

Tyler Andrews wächst im Gliedstaat Massachusetts auf, fällt in der Highschool als talentierter Leichtathlet auf. Schnell zeigt sich seine Stärke auf langen Distanzen. Als Student bestreitet er Wettkämpfe für ein kleines College in seinem Heimatstaat, versucht danach, vom Sport zu leben. Er bestreitet Stadtläufe und Trail-Wettkämpfe.

2016 läuft er einen Marathon in 2:15:52 Stunden, für die Olympischen Spiele in Tokio versucht er sich vergeblich zu qualifizieren. Über Distanzen, die noch länger als ein Marathon sind, gehört er zu den Besten der Welt. Doch während der Corona-Pandemie verdient er plötzlich nichts mehr, Preis- und Startgelder fallen weg. Andrews sucht Alternativen, ein Sponsor bietet ihm einen Bonus, wenn er in den Bergen Weltrekorde läuft.

Er überflügelt Stars wie Karl Egloff und Kilian Jornet

Vor der Pandemie war Andrews zum Vergnügen auf Berge gekraxelt, mit 18 Jahren besteigt er in Ecuador den 5897 Meter hohen Vulkan Cotopaxi. Andrews spürt, dass ihm die Höhe weniger zusetzt als anderen. Daran erinnert er sich im Sommer 2020 – und wagt einen ersten Rekordversuch.

Von Lukla, wo die meisten Everest-Besteigungen starten, läuft Andrews über 2500 Höhenmeter ins auf über 5300 Meter über Meer gelegene Basislager des höchsten Berges der Welt – und zurück; 110 Kilometer weit. Andrews braucht dafür weniger als 24 Stunden.

Im Jahr darauf stellt er einen Weltrekord am Cotopaxi auf. Andrews merkt erst hinterher, dass er die Bestmarke des Schweizers Karl Egloff geknackt hat, einer Legende in der Szene. Andrews sagt: «Menschen wie Egloff bewundere ich. Dass ich schneller war als er, zeigte mir, dass ich Potenzial für weitere Weltrekorde habe.»

Andrews hält heute mehr als 70 FKT-Marken. Er läuft zunächst vor allem in Südamerika, stellt Weltrekorde an Anden-Gipfeln in Argentinien, Chile und Ecuador auf. Im März 2023 besteigt er den Kilimandscharo, 5895 Meter hoch, in viereinhalb Stunden. Weltrekord.

Andrews ist am höchsten Berg Afrikas schneller als Kilian Jornet. Der Spanier ist die Lichtgestalt der Szene, hält Speed-Rekorde am Matterhorn und am Mont Blanc, in diesem Jahr hat er alle 82 Viertausender der Alpen in 19 Tagen bestiegen. Im Frühjahr 2023 fühlt sich Andrews bereit für die Achttausender im Himalaja.

Ein plötzlicher Kälteeinbruch bedeutet Lebensgefahr

Andrews nimmt sich die Besteigung des Manaslu vor, mit 8163 Metern der achthöchste Berg der Welt. Er erreicht den Gipfel, verpasst aber die FKT. Andrews sagt: «Ich bin ein Wettkampftyp, ich will wissen, wie weit ich meinen Körper treiben kann.» Er entschliesst sich, 2024 an den Manaslu zurückkehren. «Meine Hauptmotivation sind Weltrekorde. Und Bestmarken an Achttausendern sind der Höhepunkt meiner Sportart.»

Für den zweiten Versuch bereitet er sich noch akribischer vor. Andrews ist ausgebildeter Ingenieur, plant jeden Schritt genau. Er trainiert in den Anden, verbringt mehrere Wochen in grosser Höhe. Um auch im Manaslu-Basislager fit zu bleiben, schleppt er einen Ergometer auf fast 5000 Meter über Meer.

Immer wieder rennt er die Flanke des Manaslu hinauf und hinunter. Er sagt: «So bekomme ich ein Gefühl, was für eine Zeit ich laufen kann. Ich bin ein von Daten getriebener Mensch.» Nach mehreren Trainings glaubt er daran, dass er die Besteigung in unter zehn Stunden schaffen kann; das wäre eine neue Dimension.

An hohen Bergen ist Andrews mit wenig Gepäck unterwegs. An den Füssen trägt er eine Mischung aus Berg- und Trailrunning-Schuhen. Auf warme Kleidung verzichtet er; drei Schichten am Oberkörper, eine leichte Schneehose dazu. Während er den Berg hinaufhetzt, ernährt er sich von Gels und Sportgetränken. Er weiss, dass ihn ein plötzlicher Kälteeinbruch in Lebensgefahr bringen kann.

Andrews sagt, er wäge die Risiken einer Besteigung genau ab. «Ich bin kein Draufgänger, ich weiss, wo mein Limit liegt.» Angst bereiten ihm Situationen, in denen er das Schicksal nicht selbst bestimmen kann. Das war zum Beispiel bei der Durchquerung eines Eisfalls am Manaslu so. «Da bin ich besonders schnell gerannt, wollte die Passage rasch hinter mich bringen.»

Andrews will an diesem Septembertag eigentlich nur einen weiteren Trainingslauf absolvieren. Er steigt hoch bis ins dritte von vier Lagern, auf 6800 Meter über Meer. Er fühlt sich gut, am Himmel sieht er keine Wolke, es ist windstill – ungewöhnlich für diese Höhe. Andrews entscheidet sich, den Gipfelsturm zu wagen. Die Schritte werden immer langsamer, je höher er steigt.

Ein Problem ist, dass Andrews nur einen Liter Flüssigkeit mitgenommen hat. Eigentlich wollte er in einem Hochlager die Trinkflasche nachfüllen, er verzichtete aber aus Zeitgründen darauf, Schnee zu schmelzen. Andrews hat quälenden Durst. «Ich denke in solchen Situationen nicht daran, wie weit es noch ist. Ich stecke mir kleine Ziele, von Minute zu Minute.»

Der Traum vom Mount Everest

Andrews hat schon über 3000 Höhenmeter absolviert. Er zählt die Schritte und die Atemzüge; erreicht er 20, pausiert er kurz – bis er auf dem Gipfel steht, unverhofft. Und der Blick auf die Uhr zeigt: Er hat eine Schallmauer durchbrochen. Vom Basislager auf den Manaslu hat Andrews 9 Stunden und 52 Minuten gebraucht. Normale Seilschaften planen dafür zwei bis drei Tage ein. Andrews ist zwei Stunden schneller als der vorherige Rekordhalter.

Kürzlich, Anfang November, folgt der nächste Weltrekord am Ama Dablam, an einem 6814 Meter hohen Berg, der das «Matterhorn Nepals» genannt wird. Andrews braucht weniger als vier Stunden vom Basislager auf den Gipfel.

Andrews sagt, er habe keine Liste von Bergen, an denen er die FKT angreifen wolle, der Mount Everest reize ihn aber. «Es hat mir zu viele Leute dort. Aber ein Weltrekord am höchsten Berg der Welt? Das ist ein grosses Ziel.» Andrews hofft, die FKT am Everest im kommenden Frühjahr anpeilen zu können. Die Bestmarke für die Tour vom Basislager auf den Gipfel liegt bei 10 Stunden und 52 Minuten.

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