Gerade ist Dickers neuer Roman «Ein ungezähmtes Tier» auf Deutsch erschienen. Auf Besuch in Genf.
Joël Dicker ist überall. Im Türrahmen hinter der Kasse und in der kleinen Küche kleben Zeitungsausschnitte und Fotos von ihm. Seit fünfzehn Jahren ist Dicker Stammgast hier, in der kleinen italienischen Épicerie und Cafébar an einer Strassenecke in Genf. Seit dreizehn Jahren ist er Bestsellerautor.
Dicker sei ihm über die Jahre ans Herz gewachsen, sagt Salvatore, der Ladenbesitzer, während er nach einem Espressotässchen greift. In diesem winzigen Laden gibt es alles, was nach Italien schmeckt, dazu Zeitungen und mittags an einem einzigen langen Tisch das, was der Besitzer gerade kochen mag. Dicker komme fast täglich vorbei. Für Kaffee, ein Mittagessen oder einige Worte. Man sei schon «très fiers de Joël».
Ihren Stolz haben Salvatore und seine Frau, ein Paar um die sechzig, auch an die Ladenwände gehängt: Hinter Salami aus Süditalien und den letzten festlich verpackten Panettoni prangen die gerahmten Zeitungsaushänge vergangener Ausgaben von «La Tribune de Genève» oder «Le Matin». Dickers Erfolgsgeschichte in Schlagzeilen.
Der erfolgreichste Autor der Schweiz
«Joël Dicker als Held gefeiert», steht auf einem der Aushänge. 2012 wurde der Genfer mit seinem sehr amerikanisch anmutenden Kriminalroman «La vérité sur l’affaire Harry Quebert» sehr schnell sehr bekannt. 27 Jahre alt war Dicker damals. Die altehrwürdige Académie française, Bewahrerin der französischen Sprache, zeichnete den Schweizer mit dem Grand Prix du Roman aus, die französische Schülerschaft verlieh ihm den Prix Goncourt des Lycéens.
Die Spanne zwischen den beiden wichtigen Preisen zeigt, wie breit das Publikum ist, das er anzusprechen vermag. Da war man dann sogar in der Schweiz, einer gewissen helvetischen Skepsis allzu grossem und schnellem Erfolg gegenüber zum Trotz, irgendwie stolz. «Das Wunder von Genf», titelte 2013 der «Tages-Anzeiger».
Dreizehn Jahre, bald acht Romane, eine Buchverfilmung mit Patrick Dempsey als Harry Quebert und eine Verlagsgründung später ist Dicker der erfolgreichste lebende Schweizer Autor. In Frankreich sind seine Bücher regelmässig die meistgelesenen des Jahres. Sie werden in mehr als 32 Sprachen übersetzt und wurden weltweit bisher über 12 Millionen Mal verkauft. Zum Vergleich: Martin Suter, auf den Schweizer Bestsellerlisten längst mehr Gastgeber denn Stammgast, kommt auf 11 Millionen.
Wer sogar Bücher in grossen Mengen verkaufen könne, müsse ein Talent dafür haben, scheint man sich in mehreren Marketingabteilungen gedacht zu haben. So kam es, dass Dicker Werbeverträge mit dem Autohersteller Citroën oder der Fluggesellschaft Swiss unterschrieb. Auf der Liste «100 unter 40» des Magazins «Bilanz» wird Dicker als einer der hundert reichsten Schweizer unter vierzig Jahren gelistet, sein Vermögen auf 50 bis 100 Millionen geschätzt. Darauf angesprochen, wird Dicker später grinsen; die Liste kenne er nicht, aber er werde das Wissen für die verbleibenden vier Monate geniessen: Im Juni wird er vierzig. «Aber ich denke natürlich noch immer, ich sei zwanzig.»
Sein Ruf eilt Joël Dicker also voraus. Er selbst verspätet sich. Aber nur um wenige Minuten: Der Termin beim Kinderarzt hat etwas länger gedauert.
Er könnte auch Jurist sein
«Merci, Chef», sagt Dicker, als Ladenbesitzer Salvatore ihm einen Kaffee hinstellt und die Musik leiser dreht, und dann: «Es tut gut, seine Orte zu haben.» Zu Fuss sei er von daheim in zehn Minuten hier. Er macht eine vage Geste mit der Hand, «environ». Wenn er auf der Strasse nicht erkannt und angehalten wird.
Dickers damalige Freundin und heutige Frau Constance hat das vollgestopfte Geschäftlein entdeckt, «lange bevor die Leute meine Bücher gelesen haben», sagt Dicker. Damals hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, als Lieferant etwa oder als Handlanger im Altersheim. Dabei hätte er nach Abschluss seines Jurastudiums ganz gut verdienen können. Aber Dicker wollte nicht Notar oder Anwalt werden, sondern Autor. Diesen Traum packte er an wie andere ein Einfamilienhaus-Projekt: systematisch, langfristig und mit einer gewissen Beweglichkeit in der Umsetzung.
Auch wenn es 2012 so erschien – aus dem Nichts kam Dicker nicht. «Harry Quebert» war bereits sein sechster Roman, aber erst der zweite, für den er überhaupt einen Verlag gefunden hatte. Mit der Kritik an seinen vorherigen Manuskripten ging er so um: annehmen, analysieren, umsetzen. Er brachte Tempo in seine Geschichten, steigerte die Spannung, verzichtete auf Schnickschnack wie Beschreibungen. Dann lernte Dicker den französischen Verleger Bernard de Fallois kennen, und bald darauf sass er im TGV von Genf nach Paris.
Er denke viel an diesen Augenblick im Zug zurück, sagt Dicker am langen Tisch in der italienischen Épicerie, die ihm ein bisschen zur vorgelagerten Stube geworden ist. Ein Dienstag sei es gewesen, im September 2012, und er habe sich gedacht: «Jetzt fahre ich unter der Woche wegen meines Buchs nach Paris – als wäre das meine Arbeit.» In diesem Moment sei in seinem Kopf aus Joël, der Bücher schreibt, Joël Dicker, der Autor, geworden.
Boulevard statt Feuilleton
Nach Dickers Durchbruch wurde ähnlich viel über die hohen Verkaufszahlen des Buches geschrieben wie über das Aussehen des Autors. Die «Annabelle» etwa lobte seine «frisch geduschte Ausstrahlung» und stellte entzückt fest, dass der junge Mann, wenn man sein Aussehen lobe, «verlegen auf seine Schuhspitzen» starre.
Dicker lacht über die Prä-#MeToo-Berichterstattung. «Es ist doch angenehmer, sie schreiben, ich sei schön, als andersherum.» Und vielleicht tue sein Aussehen der Schweizer Literatur gar einen Dienst: «Ein sympa Typ zeigt, dass Bücherschreiben cool ist.» Aus dem jungen Überraschungserfolg ist ein selbstbewusster Autor geworden.
Mit dem Boulevard hat Dicker sich längst arrangiert. Er beherrscht die Kunst gut kontrollierter Offenheit vortrefflich. Das geht zum Beispiel so: Seine Frau ist Kanadierin. Nicht für ihn in die Schweiz gekommen, sondern wegen ihres Psychologiestudiums. Und das mit der Beziehung sei, sagt Dicker, im Grundsatz ganz ähnlich wie die Sache mit der Demokratie: unterschiedliche Menschen, die sich auf etwas Gemeinsames einigen und dafür kämpfen – auch dann, wenn sie einmal unterschiedliche Meinungen haben. Damit das klappe, müsse man sich in andere hineinversetzen können. Das lerne man beim Lesen. Voilà: Politik statt Privatleben.
Dicker sagt: «Wer nicht liest, geht irgendwann auch der Demokratie verloren.» Genau darum ärgerte ihn die Sache mit den Feuilletons umso mehr. Er schreibe «Page-Turner», hiess es – «das war natürlich als Beleidigung gemeint» –, für Leute, die eigentlich keine Leser seien. Er hebt die Schultern. «O wie schrecklich, dieses Buch werden die Leute tatsächlich lesen?» Dicker schüttelt den Kopf. Grinst. Für alle zu schreiben, hat er vom Makel zum Kompliment, ja zum erklärten Ziel umgedeutet.
Diese Lockerheit ist allerdings angeeignet. Er hat sie sich umgelegt wie einen Schutzmantel. Denn: «Wenn man jung ist, ist man unsicherer, und das macht verletzlich. Als dann keine guten Kritiken kamen, tat das weh.» Zu flach, zu locker, zu viel Unterhaltung, zu wenig sprachliche Finesse – heute betrachtet Dicker diese Kritik eher als gesellschaftliches denn als Dickersches Problem. Die Hauptsache sei doch, dass die Leute läsen.
«Ein ungezähmtes Tier»
Autoren wie Alexandre Dumas, die für viele schrieben und dafür gefeiert wurden, sind Dickers Vorbilder, «Der Graf von Monte Christo» eines seiner Lieblingsbücher. «Das war ein Fortsetzungsroman in der Zeitung, so entstanden die ersten grossen Romane – indem die Autoren die Spannung von Ausgabe zu Ausgabe hoch halten mussten.» Das trieb die Handlung an und die Verkaufszahlen hoch. So macht Dicker es bis heute.
«Ein ungezähmtes Tier», sein eben auf Deutsch erschienener Roman, ist da keine Ausnahme. Dicker peitscht die Handlung regelrecht voran, lässt sie auf dem Höhepunkt der Spannung hängen, springt in eine andere der vielen parallel erzählten Zeitebenen, treibt die Geschichte dort auf den nächsten Gipfel, nur um kurz vor Auflösung erneut in einen anderen Erzählstrang zu wechseln. Für detaillierte Beschreibungen oder tiefenpsychologische Studien bleibt bei dem Tempo schlicht keine Zeit.
Die Zeit der Un-Verantwortung
Dicker will mit seinen Büchern weder die Welt erklären noch die Menschen – sie sollen einfach unterhalten. Doch dass er unpolitisch schreibt, heisst noch lange nicht, dass er unpolitisch ist.
Es erfüllt ihn mit Sorge, dass Qualitätsmedien ums Überleben kämpfen. Also abonniert er sie. Er liest Zeitungen aus der Schweiz und aus Frankreich, aber am liebsten die britische «Financial Times». «Wir sind in einer Zeit der Un-Verantwortung», analysiert Dicker. «Man schimpft zwar über alles, aber man sieht sich selbst nicht als Teil davon.» Dicker will es anders machen. Darum lebt er, wie er Bücher schreibt: Er treibt die Handlung voran.
Gerade beschäftigt ihn der Gedanke, dass Leseförderung auch Demokratieförderung sein könnte. Davon schreibt die Amerikanerin Maryanne Wolf in ihrem Plädoyer «Reader, Come Home». Dicker hat das Buch gelesen, war begeistert und wollte die Erkenntnisse verbreiten – darum hat er das Sachbuch selber aus dem Amerikanischen ins Französische übersetzt und in seinem eigenen Verlag herausgegeben.
Seit Dicker diesen eigenen Verlag gegründet hat, beschäftigen ihn auch Verkaufsstrategien stärker. Und wie damals, als er seine alten, erfolglosen Manuskripte analysierte, die Kritik daran übersetzte in ein Erfolgskonzept, schaut er heute auf die Verkaufsstrategien anderer Verlage. Einst träumte Dicker vom Schreiben, jetzt will er die Leute wieder zum Lesen bringen.
Ein guter Verkäufer
«‹Harry Potter›, das waren Bücher, die Menschen zu Lesern gemacht haben. Millionen junger Menschen haben gelesen. Das war eine Bewegung. Wo sind die jetzt? Warum haben die Verlage all diese Menschen als Leser verloren?» Er macht eine Pause. «Weil sie Literatur falsch verkaufen.»
Lesen verbinde Menschen, aber darauf würden die Verlage nicht setzen. Stattdessen werde das Lesen als einsame Tätigkeit ähnlich beworben wie die Empfehlung, täglich fünf Portionen Gemüse zu essen. Pflicht statt Lust.
Das Stichwort, sagt Dicker, laute «Dünkel». Er, der von sich sagt, nur schlecht Deutsch zu können, spricht das Wort perfekt aus. Er lacht vielsagend. Der Dünkel ersticke nach und nach die Leselust. «Wir denken, wir müssten ein langweiliges Buch lesen, nur weil ein besonders kluger Mensch das irgendwo empfohlen hat.» Kein Wunder, sei Lesen vom Unterhaltungsprogramm auf die To-do-List gerutscht. Aber: «Bücher sind doch keine Tyrannei, sie sind die absolute Freiheit.»
Eine grandiose Idee
Neulich nahm Dicker ein 2000-Seiten-Buch des Amerikaners Greg Iles mit in die Ferien, weil er die letzten 50 Seiten unbedingt noch lesen wollte. Ein Freund habe ihm dann gesagt: «Warum nimmst du das ganze Buch mit? Schneide doch einfach den Teil ab, den du noch nicht gelesen hast.» Dicker strahlt: «Eine grandiose Idee!» Gemacht hat er es dann doch nicht. Aber der Umgang mit Büchern als Gebrauchsgegenstand, dieser Abbau der Berührungsangst, das gefällt ihm.
Wer sagt, die Zeit reiche einfach nicht fürs Lesen, dem antwortet Dicker: «Check mal deine Bildschirmzeit am Smartphone. Lesen ist eine Entscheidung.» Wer damit anfangen will, dem verschreibt Doktor Dicker zehn Leseminuten pro Tag – und ein Buch, das man immer mit sich herumträgt. Er selbst beginne jeden Morgen mit einem Buch. Nach dem Lesen hört er Radio und kümmert sich um die Kinder. Erst später beginnt die Arbeit.
Künftig mehr wie früher
Seit er selber Vater ist, macht Dicker sich viel Gedanken darüber, wie sich das kindliche Hirn entwickelt. Er blätterte mit seinen beiden Kindern bereits Bilderbücher durch, als sie die Geschichten noch lange nicht verstanden. «Aber sie lernen das Konzept des Vor- und Zurückblätterns, den Fokus auf ein Buch, und sie spüren, dass man sich Zeit nimmt für sie.» Er verstehe schon, dass man Pausen brauche. Elternschaft sei so «fatigant», ermüdend. «Aber Kinder vor den Bildschirm setzen ist, als gäbe man ihnen Whisky zu trinken.»
Was den Kindern schadet, kann auch für ihre Eltern nicht das Beste sein. Zeitungen liest Dicker auf Papier, Bücher sowieso, Interviews am Telefon oder mittels Zoom gibt er kaum noch. Er will lieber zerknitterte Seiten statt den glatten Bildschirm. Das Diskutieren mit einer Person, statt online viele anzusprechen. Das Miteinander und die Bücher, er hätte das künftig gerne wieder so, wie es früher war.
Weniger Bildschirm, mehr Papier. Ein bisschen scheint der Autor aus der eigenen Zeit gefallen. Booktok, die Literatursparte von Tiktok, findet er an sich eine gute Sache, empfiehlt zur Inspiration aber lieber Bibliotheken. Wie die Patrons von einst hat Dicker sich einem Steckenpferd, der Leseförderung, verschrieben. Um damit zum Gemeinwohl – und zum eigenen Umsatz – beizutragen.
Während Dicker erklärt und erzählt, rattert im Hintergrund die Espressomaschine. Blick auf die Uhr. Die vom Verlag veranschlagten zwei Stunden sind um. Dicker lacht. «Oje, Polizeistunde?» Aber es ist ihm recht. Denn selbstverständlich steht gleich der nächste Termin an. Ein Interview zum neuen Buch, das bald auf Französisch erscheint: «La Très Catastrophique Visite du Zoo» ist sein erstes Kinderbuch. «Non», korrigiert Dicker sich augenblicklich selbst, «es ist nicht nur für Kinder – es ist ein Buch für alle.»
Joël Dicker: Ein ungezähmtes Tier. Roman. Piper, München 2025. 432 S., Fr. 36.90.