Mittwoch, Dezember 4

Er war eine Ikone der Zürcher Jugendbewegung von 1980 und pflegte engen Kontakt zum Terroristen «Carlos»: Der Tessiner Giorgio Bellini ist am Wochenende an seinem Wohnort in Gandria gestorben.

Womit anfangen? Vielleicht mit einem Zitat von Giorgio Bellini, das die Zeit vor und nach der Zürcher Jugendbewegung um 1980 auf den Punkt bringt: «Wir waren Faulenzer und machten tausend Sachen» – bei ihm selber waren es bestimmt 1001.

1945 in Bellinzona geboren, war Bellini für die Jugendbewegung eigentlich zu alt. Dass er trotzdem zu einer Ikone der «Bewegig» avancierte, hat vor allem mit einer Aktion von Sympathisanten zu tun, wie sie vermutlich nur in jener Zeit möglich war. Fünf verkleidete Aktivisten stürmten am Sonntag, 3. Mai 1981, das Fernsehstudio in Zürich Leutschenbach. Während der Hauptausgabe der «Tagesschau» spannten sie vor dem verdutzten Sprecher Léon Huber ein Transparent auf, des Inhalts «Freedom and sunshine for Giorgio Bellini».

Für die Generation der Zürcher Jugendbewegung wurde der Spruch zum geflügelten Wort, er brannte sich ins kollektive Gedächtnis ein. Die an der Aktion Beteiligten wurden nie identifiziert, machten sich aber bis zuletzt einen Spass daraus, sich regelmässig mit Giorgio Bellini zu treffen – ihm gegenüber hatten sie sich schon bald zu erkennen gegeben.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass Bellini damals in München wegen eines alles andere als harmlosen Verbrechens in Untersuchungshaft sass. Vermutlich im Auftrag des rumänischen Geheimdiensts Securitate hatten Gefolgsleute des venezolanischen Terroristen «Carlos» im Februar 1981 einen Sprengstoffanschlag verübt auf die Redaktionsräume von Radio Free Europe. Eine Mittäterschaft konnte Bellini allerdings nicht nachgewiesen werden, er wurde aus der Haft entlassen.

Im Visier von Bundesanwältin Del Ponte

Viele Jahre später sass der Tessiner erneut in Untersuchungshaft, diesmal auf Antrag von Bundesanwältin Carla Del Ponte. Ihr schienen Bellinis mannigfaltige Kontakte mit «Carlos» verdächtig, dem Venezolaner, der zunächst für die palästinensische Sache Terroranschläge verübte und sich später als politischer Auftragskiller selbständig machte. Als die ganze Welt nach «Carlos» fahndete, besuchte ihn Bellini mehrmals in seinem Versteck in Budapest. Davon zeugen seitenlange Gesprächsprotokolle des ungarischen Geheimdiensts, die heute im Bundesarchiv in Bern lagern.

Als es für ihn angesichts der gut dokumentierten Treffen mit «Carlos» eng wurde, sagte Bellini den Ermittlern plötzlich, er verstehe zu wenig gut Deutsch, die Untersuchung müsse in seiner Muttersprache Italienisch wiederholt werden. Schliesslich zog Bellini einmal mehr seinen Kopf aus der Schlinge und musste von der Bundesanwältin mangels Beweisen freigelassen werden.

Seine klassenkämpferischen Sporen abverdient hatte sich Giorgio Bellini bereits als Jugendlicher im Tessin. Als Pfadileiter verfügte er die Lektüre von Marx und Lenin, er funktionierte die Gruppe kurzerhand in eine kommunistische Jugendbewegung um. Unter dem Namen «lotta di classe» (Klassenkampf) verantwortete er später einen mehrwöchigen Streik in der Bally-Schuhfabrik in Stabio.

Im bewegten Zürich

Mit diesem Gesellenstück im Gepäck zog er Anfang der 1970er Jahre nach Zürich, das Zentrum des Kapitals, wie er einmal schrieb. Hier führte er den Klassenkampf weiter. Eine besetzte Wohnsiedlung an der Hellmutstrasse und eine von ihm geführte Buchhandlung an der Engelstrasse wurden zu seinen Fixpunkten im bewegten Zürich zwischen 1968 und 1980.

Für Lohnarbeit blieb wenig Zeit, Bellini sah sich als Autonomen mit dem Ziel, nur gerade so viel zu arbeiten, wie unbedingt nötig war. Geregelte Arbeit war verpönt, man hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, vielleicht eine Woche pro Monat, wie er sich vor einigen Jahren im Gespräch mit der NZZ erinnerte.

Stattdessen verbrachte er viel Zeit in der Zentralbibliothek, etwa mit dem Studium von kriminalistischer Fachliteratur. Bellini studierte die Spurensicherung der Polizei, um ihr zuvorzukommen. Als es 1979 zu einer Serie von Brandanschlägen auf Autos von Exponenten der Schweizer Stromindustrie kam, war das begleitet mit seitenlangen Bekennerbriefen, wie sie damals in Mode waren. Um keine Spuren zu hinterlassen, wurde der Kugelkopf – man schrieb noch auf Schreibmaschine – jeweils umgehend entsorgt, damit keine Spuren zurückverfolgt werden konnten.

Die Verantwortlichen der Anschlagsserie konnten nie gefasst werden. Erst vor etwas mehr als drei Jahren legte Giorgio Bellini in der NZZ ein Geständnis ab. Er bekannte sich zu über vierzig Anschlägen, die unter dem Namen «Direkte Aktion» begangen wurden.

Dazu gehörte auch der Sprengstoffanschlag gegen den Informationspavillon auf dem Areal des geplanten Kernkraftwerks Kaiseraugst, bei dem ein Sachschaden von rund einer Million Franken verursacht wurde.

Eine kleine Bar am See

Vor einigen Jahren zog sich Bellini nach Gandria am Luganersee zurück. Zusammen mit seiner Partnerin, der Filmemacherin Francesca Solari, betrieb er an der Schiffsanlegestelle eine kleine Bar. Gewohnt hat Bellini im selben Haus, in einem umgebauten Kuhstall gleich am Wasser. Ein Freund hielt ihm in der Wohnsiedlung «Hellmutstrasse» bis zuletzt ein Bett in Zürich frei.

Den Winter verbrachte der Tessiner jeweils im Landesinnern von Brasilien, wo er in einer Höhle lebte. In diesem Jahr hatte er sich noch nicht auf die lange Reise begeben. Am vergangenen Samstag starb Giorgio Bellini zu Hause in Gandria plötzlich und unerwartet im Alter von 79 Jahren.

«Du hast uns mit deiner Ironie erheitert, mit deiner Bissigkeit verstört, mit deinem Scharfsinn angeregt, immer so nah und so fern, jetzt bist du nur noch nah», heisst es in der Todesanzeige.

Einige Geheimnisse, die neben der Polizei auch die Zeithistoriker interessieren würden, wird Giorgio Bellini mit ins Grab nehmen. Am Dienstagnachmittag wird des Verstorbenen mit einer Bootsprozession von Gandria nach Lugano gedacht.

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