Montag, November 25

Im nördlichsten Winkel Italiens entfaltet sich im Winter ein spektakuläres Schauspiel, das selbst die furchtlosesten Abenteurer in seinen Bann zieht. Dazu braucht es physische Stärke, aber auch eine mentale Technik.

Unsere Körper zittern. Die Bewegung beginnt in den Schultern, breitet sich dann aus auf Hüften, Beine und Knie. Schliesslich klappern sogar unsere Zähne unkontrolliert.

Mehrere Gründe spielen dabei eine Rolle: Ein eisiger Wintertag hat das enge Tal in Südtirol fest im Griff. Wir stehen an einer Wand, die im Februar von kaum einem Sonnenstrahl erreicht wird. Aus diesem Mangel heraus haben sich mächtige Eiszapfen gebildet, die dem Himmel zuwachsen, als würden sie sich nach oben strecken wollen.

Man könnte stundenlang verweilen und dieses Kunstwerk der Natur bewundern, wenn man sich nur mit der Kälte arrangieren könnte.

Die Wand ist keine glatte Fläche; vielmehr erinnert sie an das Wachs einer gigantischen Kerze, das über den Rand gelaufen ist. Hubbel und Beulen zieren die Oberfläche, einzelne Stränge verschmelzen miteinander und trennen sich wieder, während sie glatt erdwärts fallen wie ein straff gebundener Zopf.

Zwischendurch lugt der schwarze Felsen hervor, der diesen Wintermantel angenommen hat.

Doch das Zittern hat noch einen anderen Grund: Wir haben vor, diese Wand zu erklimmen. Mitten durch das Eis hindurch. Der Bergführer, der unsere achtköpfige Gruppe begleitet, seilt gerade ein paar Meter von uns entfernt einen Kameraden ab. Mit zitternden Gliedmassen nähern wir uns dem Fuss der Wand – bald werden wir am Einstieg stehen, dann sind wir an der Reihe.

Spektakel in atemberaubender Kulisse

Im nördlichsten Winkel Italiens, im schroffen Ahrntal, spielt sich ein winterliches Spektakel ab, das selbst die anspruchsvollsten Abenteurer aus der Reserve lockt. Hier, zwischen den famosen Dolomiten im Süden, den eisigen Höhen der Hohen Tauern im Osten und den imposanten Zillertaler Alpen im Norden, verteilen sich 15 000 Einwohner auf vier Gemeinden. Doch diese Zahl verdoppelt sich beinahe, wenn man die Schlafgelegenheiten für neugierige Reisende mitzählt. Die meisten zieht es hierher zum Skifahren, während andere mit ihren Langlaufski die schneebedeckte Landschaft durchmessen. Doch das Ahrntal hat noch eine weitere Facette zu bieten: das Eisklettern.

In diesen eisigen Gefilden hat sich das Ahrntal einen Ruf als Hotspot für Wintersportaktivitäten erarbeitet. Dank ihrer geografischen Lage zwischen den majestätischen Bergketten empfängt die Region während Süd- und Nordstaulagen grosszügige Schneefälle. Die weissen Wände, entlang deren Kletterer mit leuchtender Funktionskleidung emporstreben, sind schon von der Strasse aus sichtbar. Über zwei Dutzend offizielle Eiskletterfälle mit etwa hundert Routen sind in Führern beschrieben und warten darauf, von Abenteurern erobert zu werden. In dieser atemberaubenden Kulisse ist das Eisklettern zu einer populären Wintersportart geworden.

Verzweifelte Signale von der Muskulatur

Unsere Destination ist die imposante Angererwand. Den Namen verdankt sie einem legendären Wirt, dessen Gasthaus uns freundlich in unserem Rücken grüsst, während wir uns dem klirrenden Eis zuwenden. Doch unsere Bewunderung ist gebremst. An unseren Füssen klammern sich Steigeisen fest, in unseren Händen ruhen die Pickel. Wir sind aufgefordert, uns wie wandernde Raupen zu bewegen: Beine hoch, dann Oberkörper gestreckt, Pickel fest verankert. Das Ziel ist klar – ein A mit dem Körper zu formen, Füsse weit auseinander für Standfestigkeit, lange Arme und Pickel eng beieinander für Effizienz. Doch es ist kein müheloser Tanz. Wir müssen uns quälen, um nicht den Kontakt zum Eis zu verlieren und in die Tiefe zu rauschen. Die Muskulatur der Arme sendet verzweifelte Signale der Überforderung, die Hände fühlen sich bereits taub an. Das Abc des Eiskletterns beginnt für uns mit einer Enttäuschung. Wir hängen mal wie ein X, dann wie ein Y in der Wand. Das A und der höchste Punkt des Eisfalls scheinen für uns unerreichbar. Und das Zittern kommt zurück.

Die Herausforderungen sind gewaltig. Es geht nicht nur um physische Stärke, sondern auch um mentale Widerstandskraft. Man muss den Eisgeräten, der eigenen Kraft und dem Seilpartner bedingungslos vertrauen, ähnlich wie beim Felsklettern.

Unser erster Versuch endet vorzeitig, nicht nur wegen mangelnder körperlicher Kraft, sondern auch weil der Geist nicht im Einklang mit dem Körper ist. Wir stecken zehn Meter über dem Boden fest, an dünnen Eisenzacken, und fühlen uns unbehaglich. Beim Abseilen wird klar, dass wir einen mentalen Plan brauchen, um erfolgreich zu sein und auch die finalen 15 Meter noch zu packen.

Ein Trick lässt die Wand weniger gefährlich erscheinen

Zurück am Boden, lehnen wir uns an einen grossen Baum. Wir können die ganze, fast 100 Meter breite Wand mit den sieben bis zu 25 Meter hohen Eisfällen überblicken. Auf der einen Seite sieht das Ensemble bezaubernd aus. Es ist ein chaotisches Wunderwerk der Natur. Tausende Eiszapfen, die überall aus der Wand wachsen. Nebeneinander, übereinander, durcheinander. Wunderschön, wenn man sie nur betrachtet, aber furchteinflössend, wenn man an ihnen emporklettern soll.

Die Wand macht uns ein wenig Angst, solange wir sie als brüchige, zerbrechliche Laune der Natur betrachten. Sie kann uns abschütteln, wenn wir einen Fehler machen, wenn die Steigeisen nicht greifen oder die Arme puddingweich werden. Sie kann uns mit Eiszapfen bewerfen, schliesslich ist es jederzeit möglich, dass über unseren Köpfen etwas abbricht.

Es gilt also, die Gefahren auszublenden, und wir hoffen, dass uns dabei ein Trick hilft, eine Umdeutung, eine Verniedlichung der Eisfälle. Bei genauem Betrachten sieht man nämlich die vielen unterschiedlichen Strukturen, die das Eis gebildet hat. Es ist einem Blumenkohl mit seinen Löchern, Fugen, Rillen und Kerben sehr ähnlich. Hinzu kommen die vielen kleinen, glatten Eismützen, die wie Pilzköpfe aussehen. In unserem Kopf verwandelt sich die Angererwand in einen Gemüseeintopf, und mit dem bisschen Grünzeug werden wir ja wohl noch fertigwerden.

Die Hauen der Pickel erinnern an Seepferdchen

Eisklettern ist kein moderner Zeitvertreib. Seine Wurzeln reichen ein halbes Jahrhundert zurück und sind eng mit technologischen Fortschritten verbunden. Früher waren Eispickel mit einer 90-Grad-Spitze versehen, um Tritte in den Gletscher zu schlagen. In den 1970er Jahren kamen Modelle mit kleinerem Winkel und Frontzacken auf den Markt – der Ankerpickel war geboren. «Jetzt beisst sich die Haue im Eis fest», erklärt Silvan Schüpbach, Fachleiter Leistungsbergsteigen und Ice-Climbing beim Schweizer Alpenclub.

Heutzutage erinnern die gebogenen Schäfte und zackigen Hauen der Pickel an Seepferdchen. Auch die Steigeisen haben sich weiterentwickelt, sie erhielten zusätzliche Frontzacken für besseren Halt im senkrechten Eis.

Er stellte sich wagemutig den gefrorenen Wänden und ging oft ans Limit, um die steilen Stellen zu bezwingen: der Schweizer Eiskletter-Pionier Xaver Bongard (1963–1994).

Schüpbach schwelgt gerne in Erinnerungen an den Schweizer Pionier Xaver Bongard, der im Jahr 1988 in Kandersteg einen Eisfall namens Rübezahl bezwang, der zuvor übermächtig erschien. Damals suchte Bongard lange nach einem Begleiter, der sich dieser Herausforderung gewachsen fühlte. «Heutzutage herrscht so viel Betrieb, dass man um vier Uhr morgens starten muss, um Rübezahl für sich allein zu haben», bemerkt Schüpbach.

Ab den 1990er Jahren entdeckten auch Sportkletterer das Eis für sich. «Das ermöglichte es ihnen, auch im Winter ihrer Leidenschaft am Berg nachzugehen.» Es entstanden erste Wettbewerbe, obwohl sich der Sport zunehmend von der Natur entfernt hat. So findet beispielsweise der Weltcup in Saas-Fee in einer Halle statt, in der die Profis eine Holzwand erklimmen, die mit aufgeschraubten Dreiecken als Griffen versehen ist, um Chancengleichheit zu gewährleisten.

Erfahrung hilft beim risikoreichen Sport

Eisklettern ist zweifellos ein Risikosport, bei dem Bergsteiger mit herabstürzenden Zapfen, splitterndem Eis oder Lawinen rechnen müssen. «Man bewegt sich in einem Gelände, das man nur mit ausreichender Erfahrung einschätzen kann», betont Schüpbach, der Anfängern dringend empfiehlt, einen Bergführer hinzuzuziehen.

In unserem Fall ist dieser Bergführer Gabriel Steger, ein junger, schlanker Mann, dessen Vorfahren im Ahrntal schwierige Lebensbedingungen bewältigten. Sein Grossvater war Bergmann und klopfte Kupfergestein aus dem Felsen. Der Urgrossvater war ebenfalls Bergführer und überwand zu Fuss die Dreiherrenspitze, mit 3499 Metern über Meer die höchste Erhebung des Ahrntals, um dann auch noch den Grossvenediger zu besteigen und andere über ihn zu führen.

Gabriel Steger bewegt sich im Eis mit einer Anmut, als würde er einen Tanz in der Wand vollführen. Seine Bewegungen sind fliessend und erhaben, als hätte er eine innige Verbindung mit dem Eis. Während er demonstriert, gibt er den Novizen Ratschläge, wie sie die Pickel richtig einsetzen sollen, und das alles in einem niedlichen Ahrntaler Dialekt, der selbst kämpferische Ausdrücke sanft erscheinen lässt.

Der Sprachmix spiegelt sich auch im Eisklettern wider, wie der Name eines der schwierigsten Eisfälle im Ahrntal zeigt: «Crazy Diamond». Während wir im «Stigle Siegfried» hängen, der senkrecht und 25 Meter hoch ist, nutzen wir jeden noch so kleinen Tritt, um voranzukommen.

Die Wand wird zum Gemüseeintopf verkocht

Gabriel Steger ruft uns von unten zu, dass der Eisfall doch wie ein Schweizer Käse sei, übersät mit Löchern, in denen Steigeisen und Pickel Halt fänden. Danke, damit lässt sich unsere Mental-Technik perfekt garnieren.

Die Herausforderungen der Wand haben wir im Kopf zum Gemüseeintopf verkocht, der jetzt noch mit Emmentaler angereichert wird. Wir denken nicht mehr an brechendes Eis, an Steigeisen, die den Halt verlieren, oder an Pickel, die sich partout nicht einschlagen und uns ins Seil stürzen lassen. Vielmehr fokussieren wir uns auf den Blumenkohl.

Der Effekt ist sogar ein doppelter: Die Umdeutung nimmt der Wand tatsächlich ihren Schrecken. Und gleichzeitig erkennen wir, wie viele Fugen, Kerben und Rillen in der Wand versteckt sind, um die Eisgeräte einzuhängen. Dadurch gelingt es uns immer öfter, als halbwegs stabiles A im Eisfall zu agieren. Die Raupenbewegung als anmutig zu beschreiben, wäre immer noch vermessen. Aber es klappt besser, wenn man zunächst mit den Beinen nach oben steigt, den Oberkörper durchstreckt und mit langen Armen nach Halt sucht.

Hin und wieder schütteln zwar die Seepferdchen noch ihre kleinen Köpfe, doch dann finden wir meist schnell eine Alternative im Eis, um sie einzuschlagen. Wir mühen uns, aber nicht mehr ganz so angestrengt wie beim ersten Versuch. Plötzlich sind es nur noch zwei mickrige Meter bis ganz nach oben. Die letzte Raupe, das finale A, dann haben wir es geschafft.

Erst jetzt merken wir, wie schwer die Arme sind. Die Hände fühlen sich abermals an, als wären sie eingeschlafen. Das Blut kommt nur langsam zurück. Kein Zittern mehr. Dafür ist uns wohlig und warm. So warm, dass wir die Jacken öffnen.

Gut zu wissen

Anreise

Das Ahrntal ist bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Mit dem Zug von Zürich über Innsbruck und Franzensfeste in knapp sieben Stunden nach Bruneck. Von dort per Bus ins Ahrntal. www.sbb.ch

Schlafen
Hotel Reinerhof (Sand in Taufers): familiengeführtes Hotel mit zweckmässigen Zimmern und kleiner Wellness-Area. www.reinerhof.com

Essen und Trinken
Talschlusshütte (Prastmann): liebevoll zubereitete Gerichte und Drinks nach der Skitour. www.talschlusshuette.it

Eisklettern
Auf Anfrage, beispielsweise unter: www.faszination-berg.com

Weitere Informationen
www.ahrntal.com

Diese Reise wurde ermöglicht durch die Unterstützung des Tourismusvereins Ahrntal.

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