Firmen arbeiten an kommerziellen Produkten, die unsere Gehirnaktivität im Alltag auswerten sollen. Experten fürchten den Diebstahl der privatesten aller Daten – und fordern «Neurorechte».

«Rot. Gelb. Halten. Rot. Blau . . .» Farben flackern über den Bildschirm vor Ian Burkharts Augen. Der junge Mann verharrt still, seinen Blick auf den Bildschirm gerichtet. Mit der rechten Hand drückt er die Knöpfe auf dem Hals einer Plastikgitarre. Sie sind farbcodiert in Rot, Gelb, Grün, Orange und Blau – passend zu den bunten Lichtern, die über den Bildschirm vor ihm flimmern. Aus dem Lautsprecher der Playstation erklingen etwas scheppernd die ersten Gitarrenakkorde des Metallica-Songs «One».

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Diese Szene, festgehalten in einem Video von Forschern der Ohio State University, mag keine musikalische Höchstleistung zeigen. Doch dass der Amerikaner Ian Burkhart mit seiner Hand überhaupt wieder Musik machen kann, ist nicht selbstverständlich. Denn seit einem Tauchunfall im Jahr 2010 ist er querschnittgelähmt.

Burkhart wurde 2016 als einer der ersten Patienten berühmt, die dank Elektroden im Gehirn die Finger wieder bewegen können. Die Elektroden messen die Aktivität seiner motorischen Hirnareale und senden die Daten über ein Kabel, das sich aus Burkharts Hinterkopf schlängelt, an einen Computer. Dieser übersetzt sie in elektrische Bewegungsinstruktionen, die ein weiteres Kabel zu einer Manschette an seinem rechten Unterarm leitet. Seine Handmuskeln bewegen sich durch die Impulse wie bei einem gesunden Menschen. Elektrische Kabel übernehmen die Funktion, die ursprünglich Burkharts Rückenmark hatte.

Neurotechnologie erlaubt den Blick ins Hirn

Hirn-Computer-Schnittstellen nennt man Systeme wie jenes, das Ian Burkharts Hand die Funktion zurückgibt. Geforscht wird daran schon seit Jahrzehnten, die Technologie wird immer raffinierter. Mittlerweile können Forscher aus Gehirndaten sogar Rückschlüsse auf Emotionen oder Absichten von Versuchspersonen ziehen.

Doch nicht nur Wissenschafter könnten zukünftig Einblick ins Gehirn erhalten. Immer mehr Unternehmen wollen Neurotechnologie auch im Alltag von gesunden Menschen verankern. So arbeitet auch Elon Musks Firma Neuralink seit 2016 an sogenannten Neuroprothesen. Die sollen zunächst Querschnittgelähmten helfen. Langfristig träumt Musk jedoch davon, «telepathische» Verbindungen zu Geräten, künstlicher Intelligenz oder Mitmenschen zu ermöglichen – auch für Gesunde.

Können Hirn-Computer-Schnittstellen Gedanken lesen?

Die Vorstellung, dass Technologiefirmen auf diese Weise Zugriff auf das menschliche Gehirn und die potenziell heiklen Informationen darin erhalten könnten, bereitet vielen Experten Sorge. Denn dies könnte grundlegende Menschenrechte wie jenes auf Privatsphäre bedrohen. Als für Wissenschaftsethik verantwortliche Unterorganisation der Vereinten Nationen arbeitet deshalb die Unesco seit 2021 an einem Entwurf für sogenannte Neurorechte. Sie sollen einen ethischen Rahmen für Regelungen bilden, um unsere Gehirne vor Datendiebstahl zu schützen. Aber wie realistisch ist dieses Szenario?

Bis jetzt sind Gehirn-Computer-Schnittstellen wie jene von Ian Burkhart noch klobige Ungetüme aus Rechnern, Kabeln und Platinen. Doch es wird emsig daran geforscht, die Systeme kompakter zu gestalten. Wirklich mobil seien zwar auch die neuen Systeme nicht, sagt der Neurologe Simon Jacob vom Klinikum rechts der Isar in München. Man könne sie nun aber beim Patienten im Wohnzimmer aufbauen anstatt im Labor.

Jacob war es, der erstmals in Europa eine Schlaganfall-Patientin mit einem Gehirnimplantat ausstattete. Die Patientin hatte ihre Sprechfähigkeit verloren und lernt, mithilfe der Neurotechnologie und der Kraft ihrer Gedanken wieder zu kommunizieren. Weltweit leben heute knapp 70 Patienten mit solchen Gehirnimplantaten.

Neurotechnologie auf dem Weg zum Konsumprodukt

Als Massenprodukt bleiben solche Implantate sicher noch lange Science-Fiction. Denn den Chip einzusetzen, erfordert eine Operation am offenen Gehirn mit enormen Risiken – der Nutzen müsste also schon erheblich über die gedankengesteuerte Bedienung einer Mikrowelle hinausgehen.

Doch es gibt noch eine nichtinvasive Methode, auf das Gehirn zuzugreifen: über die Kopfhaut. Diesen Weg nutzt schon seit einem Jahrhundert die Elektroenzephalografie (EEG), in deren Hirnstrom-Kurven sich zum Beispiel Auffälligkeiten von Menschen mit Epilepsie nachweisen lassen.

Das Prinzip der EEG macht die Neurotechnologie nun auch als Konsumprodukt interessant. Zahllose Forschungseinrichtungen und Firmen – Schätzungen belaufen sich auf über tausend – entwickeln inzwischen Produkte für Konsumenten. Sie heissen «mindmesh», «neorythm» und «mindwave» und sollen den Schlaf verbessern, die Konzentration steigern oder Depressionen linden. Der Markt wird schon jetzt auf 15 Milliarden Dollar geschätzt.

EEG-Kopfhörer liefern hauptsächlich Rauschen

Doch im Gegensatz zu EEG-Hauben aus Medizin und Hirnforschung, die zum Teil Hunderte von Elektroden besitzen, handelt es sich bei den kommerziellen Angeboten häufig um Kopfhörer-ähnliche Produkte, die der gesunde Nutzer beliebig auf- und absetzen kann.

Doch damit liessen sich Gehirnströme nur sehr ungenau erfassen, sagt der Neurologe Jacob. «Diese Produkte sind letztlich Spielzeuge. Die Gehirnsignale sind so gedämpft, dass es äusserst schwer ist, Informationen aus ihnen herauszuziehen», sagt er. Sie seien weit davon entfernt, unsere Gedanken zu entschlüsseln.

Dennoch ist Jacob sich sicher, dass in Zukunft Durchbrüche im Bereich der Neurotechnologie zu erwarten sind. Leistungsstärkere Algorithmen könnten bisher unzugängliche Informationen aus dem Rauschen der Gehirndaten filtern.

Neurorechte sollen die Information aus unserem Gehirn schützen

Solche Durchbrüche erwartet auch Marcello Ienca: «Das Ziel der Neurotechnologie ist, dass jeder sie im Alltag nutzen kann. Genauso wie wir heute Smartphones und Computer nutzen.» Der Neuroethiker an der EPFL Lausanne sieht seine Aussage dadurch bestätigt, dass sich Tech-Giganten schon auf dem Neurotechnologiemarkt in Position bringen.

So bewarb sich der Technologiegigant Apple 2023 um ein Patent für eine neue Version seiner In-Ear-Kopfhörer. Mit bis zu 40 Elektroden sollen sie die Hirnströme der Träger aufzeichnen, während diese Musik hören. Das könnte Apple Zugriff auf Hirndaten von Millionen Menschen weltweit geben. Bis jetzt gibt es keine Entscheidung zum Patent.

Was Firmen heute wirklich aus diesen Daten lesen könnten, ist unklar. Trotzdem bereitet es Ienca und anderen Fachleuten Sorge, dass Unternehmen womöglich eines Tages dank besseren Algorithmen Zugriff auf heikle Information bekommen könnten.

Gehirndaten geben ein ungefiltertes Bild des Trägers

Diese Sorge treibt auch die Morningside Group um, eine Gruppe von Experten aus Hirnforschung, Computerwissenschaften und von Tech-Firmen wie Google. In einem 2017 im Journal «Nature» veröffentlichten Grundsatzpapier warnen die Experten davor, dass Firmen in Zukunft unsere Interessen, Wünsche und Ängste ausspionieren könnten.

Denn Gehirndaten könnten heikler sein als die Daten, die wir im Internet und in den sozialen Netzwerken hinterlassen. Welche Suchbegriffe wir bei Google eingeben, entscheiden wir bewusst. Doch Hirnströme – so die Sorge der Forscher – könnten ein ungefiltertes Abbild von uns selbst zeigen, das wir niemals willentlich entblössen würden.

«Wo Messungen der Gehirnaktivität als Enthüllung mentaler Inhalte interpretiert würden, gäben sie Information über das Denken selbst frei» schrieben die Forscher der Morningside Group. Was wäre, wenn diese Informationen Technologiefirmen, dem Arbeitgeber oder dem Staat zur Verfügung stünden?

Solche Sorgen werden mittlerweile weltweit ernst genommen. Einige Länder wie Chile, Brasilien oder Frankreich und auch der amerikanische Gliedstaat Kalifornien haben bereits sogenannte Neurorechte in Kraft gesetzt. Sie sollen die Privatsphäre der Gedanken und die Unversehrtheit der mentalen Prozesse schützen.

Unesco arbeitet an einem Entwurf für Neurorechte

Seit 2023 beschäftigt sich ein Gremium aus 24 internationalen Neurotechnologie-Experten im Auftrag der Unesco mit Richtlinien zur globalen Regulierung von Neurotechnologie. Marcello Ienca repräsentiert Westeuropa in diesem Gremium: «Wir brauchen eine Art Genfer Konvention, einen globalen Konsens, wie Neurotechnologie in der Zukunft genutzt und speziell wie sie nicht genutzt werden darf.»

Neurotechnologie entwickle sich rasant und unvorhersehbar, so Ienca. «Es braucht einen dynamischen Ansatz. Zu spezifische Regulierungen würden die Neurorechte gleich wieder obsolet machen.» Ienca bereitet Sorge, dass es künftig für Technologiegiganten möglich werden könnte, verschiedene Datenströme einer Person zu kombinieren, beispielsweise die Standortdaten des Handys und gleichzeitig aufgenommene Kopfhörer-Daten der Gehirnaktivität. So könnten Apple und Co. in der Zukunft wissen, wo wir uns wie gefühlt haben.

Aus diesem Grund schliesst die Unesco-Gesetzesempfehlung die Nutzung von Neurotechnologie zur Überwachung im zivilen, aber auch militärischen Kontext strikt aus. Zurzeit tauschen sich die Unesco-Experten mit den Regierungen aller Uno-Mitgliedstaaten über den Entwurf der Neurorechte aus. Bis Ende Jahr können die Staaten ihr Feedback einbringen, 2026 plant die Unesco dann die Verabschiedung von Neurorechten.

Allzu gross ist die Eile nicht. Zwar entwickelt sich die Neurotechnologie schnell, bis ein iPhone unsere Gedanken liest, dürfte es aber trotzdem noch viele Jahre dauern.

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