Die Automobilindustrie kämpft mit der Umstellung auf E-Antrieb, die Motorradbranche aber zögert sogar noch deutlicher. Jetzt zeigen zwei neue Modelle von Husqvarna und Royal Enfield, wie vielseitig, leistungsfähig und bezahlbar Elektromotorräder sein können.
Im Gegensatz zur Automobilindustrie blickt die Motorradbranche optimistisch in die Zukunft – und denkt zunehmend elektrisch. Unter den kommenden E-Töffs verdienen zwei besondere Aufmerksamkeit: Da ist zum einen die in Österreich gebaute Husqvarna Pioneer, die im Frühjahr für unter 11 000 Franken zu haben sein wird und als strassentaugliche Dual-Sport-Enduro der Zukunft gilt. Der Preis erscheint hoch, ist aber zumindest im Vergleich zu früheren Angeboten wie einer Harley Davidson Lifewire noch relativ günstig. Die Kostendeckung ist bei Elektromotorrädern schwierig, Marken wie der Buell-Spin-off Fuell oder die italienische Energica haben kürzlich Konkurs angemeldet.
Die Pioneer ist das erste Elektro-Dirtbike der 1903 gegründeten, ursprünglich schwedischen Marke. Diese nahm drei Monate vor Harley-Davidson die Produktion auf und gilt damit als zweitältester noch existierender Motorradhersteller der Welt. Seit 2013 gehört Husqvarna Motorcycles zu KTM und damit zur Pierer Mobility AG; der Schwerpunkt der Marke liegt traditionell auf Geländemaschinen.
Eine Elektro-Enduro liegt nahe, zumal man offenbar davon ausgeht, dass Zweitaktmotoren selbst in ihrem letzten Reservat Motocross bald Geschichte sein werden: Das käme nicht nur in Österreich einem jähen Riss im Portfolio gleich. Leichtfüssige Elektro-Motorräder, die ähnlich brachial beschleunigen wie Zweitakter, könnten diese Lücke ebenso elegant wie abgasfrei schliessen. Noch ist das Gros der Offroad-Klientel den Verbrennern treu, Umsatzeinbrüche in diesem renditestarken Segment sind zu erwarten. Der Zeitpunkt ist ungünstig, derzeit ist der Pierer-Konzern hoch verschuldet.
Die Modellbezeichnung Pioneer weist in eine hoffentlich bessere, elektrische Zukunft: Ein Chrom-Molybdän-Stahlrahmen integriert den E-Motor als tragendes Element. Das völlig neue Leichtbau-Motorrad ist hochbeinig, die Sitzhöhe beträgt 91 Zentimeter. Konstruktiv entspricht es weitgehend dem zeitgleich lancierten Konzernbruder Freeride E von KTM, der bereits seit 2014 elektrisch unterwegs ist – wenn auch bisher nur in homöopathischen Dosen. Optische Unterschiede betreffen Kunststoffverkleidungen oder Farben. Während das Ladegerät bei der etwas radikaler positionierten KTM zu Hause bleiben oder im Rucksack mitfahren muss, ist es bei der vielseitigeren Husky samt Kabel staub- und wasserdicht unter der Sitzbank verstaut.
Auf der Habenseite jeder E-Enduro stehen der im Gelände vorteilhafte, weil nahezu geräuschlose Antrieb sowie deutlich längere Serviceintervalle. Geländemaschinen mit Verbrennungsmotor sind nutzungsbedingt wartungsintensiv. All das hat die Pioneer nicht; Komponenten wie Lenker, voll einstellbares Fahrwerk, Felgen oder Bremsanlage sind markentypisch hochwertig. Der E-Motor leistet zwischen 11 und 19,2 kW sowie knapp 38 Nm, der Li-Io-Akku 5,5 kWh bei einer Kapazität von 110 Ah.
Das 112 kg leichte Bike beschleunigt blitzschnell auf abgeregelte 95 km/h – einen genaueren Wert nennt man nicht, dafür aber die durchschnittliche Reichweite. Genau 137 Kilometer sollen es sein, genug für drei Stunden Spiel im Schlamm. Mit dem serienmässigen 660-Watt-Ladegerät dauert es acht Stunden auf 100 Prozent Batteriestand, ein später erhältliches 3,3-kW-Gerät soll es in weniger als zwei schaffen. Husqvarnas Marketingchef Antonio Comelli sagt, die Batterie lasse sich in zehn Minuten ausbauen, und mit dem schalt-, weil kupplungslosen Pioneer wolle man neue Käufer ohne Offroad-Erfahrung ansprechen. Ein Ersatzakku für die neue KTM Freeride kostet über 4000 Franken.
Das Umdenken muss auch bei den Kunden passieren
Ein Lifestyle-Motorrad also, für die Feldwege hinter dem Dorf oder die nächste Kiesgrube? In Wäldern und Wüsten gibt es bekanntlich kaum Ladestationen. Die Pioneer bietet zwar drei Rekuperationsmodi, doch die bringen wenig. Entsprechend abfällig äussern sich Moto-Globetrotter in den sozialen Netzwerken, lästern etwa über die filigrane Federgabel des Minibikes TC 85 oder die maximale Zuladung von 90 Kilo: Im Rollersegment ist Elektro längst auf dem Vormarsch, und bei den Enduros ist Husqvarna nicht allein. Auch Can-Am, CFMoto, Kove, Stark oder Zero bereiten derzeit E-Modelle vor – wer früh anfängt, hat bekanntlich später die Nase vorn.
So scheint es auch bei Royal Enfield, dem 1901 in England gegründeten und damit ältesten Motorradhersteller der Welt. Seit 1955 in Indien ansässig und seit 30 Jahren auch in indischer Hand, hat man allein 2024 über 940 000 Motorräder hergestellt und will den Wandel mitgestalten: Die Metropolen des Subkontinents, in denen über 260 Millionen Motorräder unterwegs sind, ersticken im Smog, die Feinstaubwerte liegen bei über 1000 Mikrogramm pro Kubikmeter (der EU-Grenzwert liegt bei 40 μg/m3). Die meisten indischen Motorräder fahren mit weniger als 150 Kubikzentimetern Hubraum, diese Klasse gilt als besonders schmutzig und wird deshalb ab April 2025 verboten.
Das Hubraumrevier von Royal Enfield liegt derzeit bei zwischen 350 und 650 cm3, doch die Nummer 4 unter den indischen Motorradherstellern (nach Hero, Bajaj und TVS) will auch den Elektro-Umsteigern etwas bieten, denn die nationale Nachfrage nach bezahlbaren Transportmitteln ist gigantisch. Das erste E-Bike des Hauses, an dem sechs Jahre gearbeitet wurde, soll Anfang 2026 auf den Markt kommen und ist auf die urbane Fortbewegung im Alltag ausgerichtet. Diese soll in Indien so schnell wie möglich emissionsfrei werden: Das jüngste staatliche Förderprogramm «PM E-DRIVE» konzentriert sich ausser auf den öffentlichen Nahverkehr auf den Ausbau der Ladeinfrastruktur für zwei- und dreirädrige Fahrzeuge. Knapp 50 000 Ladestationen sind in den kommenden zwei Jahren geplant; derzeit umfasst das Netz ein Fünftel solcher Stationen.
Der «Fliegende Floh» steht jetzt unter Strom
Mit der flächendeckenden Stromversorgung soll auch das E-Angebot von Royal Enfield wachsen. Der Name «Flying Flea» stammt aus der Vergangenheit: So hiess eine zwischen 1939 und 1945 gebaute Zweitakt-Maschine mit 125 Kubik, die die britische Armee im Zweiten Weltkrieg mitsamt ihren Soldaten hinter feindlichen Linien abwarf – der Fallschirm im neuen Logo erinnert daran. Heute ist der «Fliegende Floh» eine eigenständige Elektromarke; «Royal Enfield» steht auch drauf, aber erst an zweiter Stelle.
Dem Erstling C6 sollen zahlreiche weitere E-Modelle folgen, darunter eine zweisitzige Scrambler-Version S6. Angetrieben wird der «Floh» von einem Motor mit geschätzten 12 und in der Spitze bis zu 20 kW, der seine Kraft stufenlos über einen Carbonriemen auf das Hinterrad überträgt. Schräg darüber sitzt die Batterie mit rund 6 kWh. Fünf Aluminiumträger bilden mit dem Antrieb ein robust wirkendes Leichtbau-Chassis, das hinten eine Schwinge mit Zentralfederbein aufnimmt. Der Clou ist eine geschmiedete Trapezgabel mit seitlich integrierten Dämpfern: So sahen Fahrwerke vor 100 Jahren aus.
Die C6 wiegt rund 110 Kilogramm und wird bei 90 km/h elektronisch abgebremst, um eine Reichweite von 150 Kilometern zu ermöglichen. Das Ladegerät ist in einem Tank-ähnlichen Fach oberhalb der Batterie fest installiert. Das ist einfacher in der Handhabung und auch diebstahlsicherer: Hunderttausende von E-Motorrädern in Delhi, Mumbai oder Pune, irgendwo parkiert im Kabelsalat . . . Herausnehmbare Akkus sind sicher ein weiteres Puzzleteil zur Lösung, zumal Royal Enfield «einfaches und schnelles Aufladen an einer 3-poligen Haushaltssteckdose» in Aussicht stellt.
Das technische Know-how stammt zum Teil vom spanischen E-Moto-Startup Stark Future, an dem sich Royal Enfield Ende 2022 mit 50 Millionen Euro beteiligt hat. Stark Futures erstes Modell Varg ist eine Motocross-Maschine ähnlich der Husqvarna Pioneer, kommt bis zu 200 Kilometer weit und und kostet mit 12 500 Euro so viel wie vergleichbare Verbrenner-Modelle – der Preis ist für viele Interessenten ein entscheidendes Kriterium.
Das weiss auch Siddhartha Lal: Der Generaldirektor des Royal-Enfield-Mutterkonzerns Eicher hat das Revival der Motorradmarke über Jahre mitgestaltet und ist stolz auf sein neuestes Baby. Doch für viele Inder ist eine C6 noch zu teuer; der durchschnittliche Monatslohn liegt bei knapp 47 000 Rupien (rund 485 Franken). Deshalb wird Flying Flea für knapp 7000 Euro ab Ende nächsten Jahres zuerst in den USA und Europa lanciert, der Heimatmarkt muss noch warten.
Auf der Suche nach dem Preisunterschied drängt sich ein Vergleich des C6 mit dem über 50 Prozent teureren Pioneer auf. An der Ausstattung liegt es kaum, der «Fliegende Floh» verfügt sogar über Kurven-ABS und Traktionskontrolle, der Husky über keinerlei elektronische Assistenzsysteme. An den grundsätzlich ähnlichen Antrieben liegt es auch nicht. Den grössten Einfluss auf den Preisunterschied haben die nach wie vor deutlich niedrigeren Produktionskosten in Asien. Für die europäischen Hersteller bedeutet das nichts Gutes. Das Lohngefüge der westlichen Welt funktioniert im globalen Dorf vielerorts nicht mehr – auch, weil viele fernöstliche Zweiräder zu qualitativ vergleichbaren Alternativen geworden sind.
KTM hat reagiert und wird 2023 Teile der Produktion nach Indien und China verlagern. Royal Enfield steht vor einer anderen Herausforderung: In Los Angeles, London oder Paris dürfte die C6 bald als schickes Kurzstreckenmotorrad reüssieren. Spannender ist die Frage: Ob sich die vollelektrische Submarke im Heimatland etablieren kann und, wenn ja, wie?