Mittwoch, November 5

Gerade sind die ersten beiden Bände der neuen Zürcher Ausgabe erschienen. Sie zeigen den Literaturnobelpreisträger Canetti von seiner intimen und boshaften Seite zugleich.

In Elias Canettis frühester Erinnerung ist alles in Rot getaucht. Ein Flur, eine Treppe und ein Mann, der aus einer Tür kommt. «Zeig die Zunge!», sagt der Mann. Er zieht ein Taschenmesser und droht damit, dem Kind die Zunge abzuschneiden. Ganz nah hält er das Messer, bis er es plötzlich wieder zurückzieht: «Heute noch nicht, morgen.»

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Was Canetti da erzählt, ist mehr als eine Reminiszenz aus der Kindheit. Es ist die Geschichte eines Traumas, das den Kern des Menschen berührt. Seine Fähigkeit, zu sprechen und sich damit selbst zur Sprache zu bringen. Nicht ohne Grund steht die Episode am Anfang von Canettis autobiografischer Trilogie, deren erster Band auch «Die gerettete Zunge» heisst. Er hat den Weltruhm des beim Erscheinen schon 72-jährigen Schriftstellers mitbegründet. Vier Jahre später bekam er den Nobelpreis.

Canetti ist ein grosser Geschichtenerzähler. Dass sich sein Leben immer wieder in Pointen verdichtet zu haben scheint, hat dieser Literatur nicht geschadet. Im Gegenteil. Wenn jetzt das Gesamtwerk in der sogenannten Zürcher Ausgabe neu ediert wird, dann eröffnen die Kommentare der Herausgeber und das Material aus dem Nachlass eine luzide Welt.

An Tagebuchnotizen, Aufzeichnungen und sonstigen Selbstkommentaren sieht man, wie das alles gemacht ist: Canettis feinmechanisches Räderwerk aus Erinnern und Verstehen, aus Ich und Welt. Dass die Welt vor dem Massstab des Ichs bisweilen verkleinert wirkt, gehört hier dazu. Über die Autobiografie sagt der Schriftsteller ehrlicherweise: «Ihr ursprünglicher Charakter ist der einer Prahlerei: Ich bin ich.»

Das Geheimnis der Worte

«Die gerettete Zunge» ist die Geschichte einer emanzipativen Selbstermächtigung. Hier wird einer zum Autor, der hellhörig ist für die Nuancen der menschlichen Rede. Das bulgarische Rustschuk, wo Canetti 1905 geboren wird, ist ein babylonisches Paradies. Hier begegnen sich die Sprachen der Welt. In der eigenen Familie wird Spaniolisch gesprochen, ein jüdisches Spanisch. Der Stammbaum der Canettis hat türkische und sephardische Wurzeln. Wenn sie vom Kind nicht verstanden werden wollen, verwenden die Eltern Deutsch als Geheimsprache.

Dass die Worte ein Geheimnis haben können, ist für den Heranwachsenden Skandal und Versprechen zugleich. Glaubt man der Autobiografie, dann wäre Elias Canetti aus diesem Grund schon im zartesten Alter fast zum Mörder geworden. Aus Eifersucht hat er eine Freundin mit der Axt bedroht, weil sie wusste, was die Buchstaben in ihrem Schulheft bedeuten, und es ihm nicht sagen wollte.

Als die Familie 1911 ins englische Manchester zieht, gehen Sprache und Welt neue Beziehungen ein. Ist das Kind für sich allein, spricht es mit den Tapeten. In den Mustern sieht es Menschen. Es erfindet Geschichten, in denen diese vorkommen. «Ich hatte nie genug von den Tapetenleuten und konnte mich stundenlang mit ihnen unterhalten», schreibt Elias Canetti.

Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters im Jahr 1912 steigt er in neue papierene Welten auf. Er wird nach und nach zum Sparringpartner der despotisch schöngeistigen Mutter. Sie liest und bewundert und macht auch ihren Sohn zum Leser und Bewunderer von Literatur. «Die gerettete Zunge» ist das Zeugnis einer delikat platonischen Hingabe an Mathilde Canetti und gleichzeitig die Geschichte einer Überwindung.

Auf dem Weg über Stationen wie Wien und Zürich gewinnt der spätere Schriftsteller Distanz zu den impulsiven innerfamiliären Katastrophen und gelinden Grausamkeiten einer sehr speziellen Mutter-Sohn-Beziehung. Mit «Verzückung und Bewunderung» betrachtet er die Mutter. Allmählich wird sie zum Stoff für Literatur, und das erspart Elias Canetti, sich selbst als ihr Opfer zu stilisieren. Auch wenn «Die gerettete Zunge» dem jüngeren Bruder George gewidmet ist, bleibt das Buch eine grosse Verbeugung vor jener Frau, die ihn letztlich doch gelehrt hat, sich nicht verbiegen zu lassen.

Die Bannung der Menschen durch Überzeichnung ist schon Stilprinzip von Canettis erstem Roman, «Die Blendung», der 1936 erschienen ist. Politische Auflösungstendenzen der Zeit sind in den Vereinzelungen menschlicher Charaktere gespiegelt. Jeder für sich und jeder eine Abspaltung der Grundidee einer Spezies.

Man kann das eine sehr moderne Idee nennen. Was sich heute im Zeitalter der neuen Medien und der politischen Polarisierung vielleicht noch einmal verschärft hat, hat in der «Blendung» einen querdenkenden Hauptcharakter: den «Büchermenschen», der sein Interesse absolut setzt. Er ist mit der Welt zerfallen, und seine zunehmende Umnachtung ist im psychopathologischen Sinn erhellend. Am Ende zündet er sich selbst und seine ganze Bibliothek an.

Apodiktisch wie die Mutter

Eine ganze «Comédie humaine an Irren» wollte Elias Canetti schreiben. Herausgekommen ist ein von Publikationspausen und Formenvielfalt geprägtes Werk. Allerdings ist es, von der «Blendung» bis zum philosophischen Grossessay «Masse und Macht», von einer bestimmten Idee geprägt: den Menschen in seinen kleingeistigen und zugleich grössenwahnsinnigen Bedürfnissen zu zeigen.

Der gelernte Chemiker Canetti legt sein Personal ins Säurebad des Schreibens. Dass so ein Zugang auch etwas Selbstgerechtes hat, sieht man bei diesem Schriftsteller aufs Schönste. Er ist apodiktisch wie die Mutter. Ein Fanboy mancher Vorbilder und gleichzeitig zu grösstem Hass fähig. Charaktermasken, vor allem «akustische Masken», also Masken der Redeweise, setzt er seinen Figuren auf, um sie ihnen dann vom Gesicht zu reissen.

Das Buch «Der Ohrenzeuge», 1974 zum ersten Mal erschienen und jetzt auch gerade in der Zürcher Werkausgabe, ist eine Fundgrube dieser analytischen Technik. Fünfzig kritikwürdige Charaktere nimmt sich Elias Canetti vor und gibt ihnen den Ernst des Unterfangens fast schon wieder unterlaufende poetische Namen. Es gibt die «Mondkusine» und die «Silbenreine», den «Höherwechsler» und die «Tischtuchtolle». Den «Tränenwärmer», den «Leichenschleicher» und den «Leidverweser».

Der «Wortfrühe», man kennt ihn, «sagt nichts, über das er nachgedacht hat, er sagt es vorher». Der «Hinterbringer» hat immer Gerüchte zur Hand und hinterbringt sie dem Betroffenen, bevor es andere tun. Die «Geworfene» findet sich jede Nacht in anderen Betten und ist ein Inbild der Canettischen Misogynie.

Im «Ohrenzeugen» sind die weiblichen Figuren haushaltspenibel oder gefühlsweich oder beides. Der Mann dagegen kann schon einmal ein «Saus und Braus» sein. Dann jettet er per Flugzeug durch die Welt, macht sich überall breit, weil es ihm an Tiefe fehlt. Im Gegensatz zum «Nimmermuss», einer Art Echo auf Melvilles Schreiber Bartleby und sein «I would prefer not to». Canetti: «Statt des Rückgrats hat er ein kräftiges Nein, verlässlicher Knochen.»

Canetti selbst war verlässlich, wenn es darum ging, Eigenschaften von Bekannten oder Freunden zu denunzieren. Und so sind die fünfzig Physiognomien in «Der Ohrenzeuge» auch oft nur leicht stilisierte Porträts. Die Freundin Marie-Louise von Motesiczky ist als «Selbstschenkerin» abgebildet, der Philosoph Bertrand Russell als der «Silbenreine». Der KZ-Überlebende und Schriftsteller Hans Günther Adler ist der «Leidverweser».

Einige satirische Skizzen finden sich nicht in der endgültigen Sammlung. Zum Beispiel der «Nasenlose». Damit ist Max Frisch gemeint, über den Canetti schreibt: «Ein zahmer Raunzer, der es aus Mangel an Leidenschaft zu etwas gebracht hat.» Und: «Er kritisiert sein Land, damit man sich über ihn ärgert. Doch so, dass es ihm dabei gut geht.»

Ist es eine Schutzbehauptung, wenn Elias Canetti meint, dass in mindestens zwanzig seiner Porträts auch er selbst stecke? Der «Wollust der Einteilung» könne er nicht entsagen, heisst es einmal. Von anderen in einen Setzkasten der Eigenschaften befördert zu werden, hat sich der Schriftsteller verbeten. Die Psychoanalyse war diesem Analytiker ein Graus: «Ich werde keine Ruhe haben, bevor ich nicht etwas Vernichtendes über die Psychoanalyse geschrieben habe.»

Die Kindheitsepisode mit der geretteten Zunge wäre bester Stoff für Sigmund Freud und seine Gewerbe gewesen, ein schillerndes Beispiel für Sprechverbote im Zeichen der Lust. Tatsächlich hat sich die Sache wie geschildert zugetragen. Der Mann mit dem Messer im Hotelflur war eine Karlsbader Affäre von Canettis Kindermädchen. Der Zweijährige musste über etwas schweigen, für das er noch gar keine Worte gehabt hätte.

Elias Canetti: Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. Das Gesamtwerk. Zürcher Ausgabe, Band 4. Hanser-Verlag, München 2025. 208 S., Fr. 49.90. – Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Das Gesamtwerk. Zürcher Ausgabe, Band 5. Hanser-Verlag, München 2025. 544 S., Fr. 61.90.

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