Das Lesen von Tagebüchern ist ein grosses voyeuristisches Vergnügen. Umso mehr, je boshafter ihre Autoren gesinnt waren. Ein Blick in die intimen Journale von Kafka bis Ernst Jandl.
Der 8. August 2025 war offenbar ein guter Tag, um einmal von der «Spaciousness» amerikanischer Parkplätze zu berichten. Vom langsamen und selbstbewussten Anrollen schwerer Autos vor den Läden und auf den Strassen. Von den riesigen Cadillacs, Chevrolets oder Jeeps. In Chicago seien «alle immer überall on the MOVE», schreibt Rainald Goetz. Der deutsche Schriftsteller ist es gerade auch. Er fährt quer durch die Stadt und an den Strand. Am 9. August liest man in seinem Instagram-Tagebuch: «36 Grad – und es wird noch heisser.» Ein Foto zeigt Kinder auf einer Holztreppe. Ihre Gesichter sind von der Hitze gerötet.
Ende der achtziger Jahre, als das Internet noch sehr jung war, hat Rainald Goetz eine neue verführerische Kraft entdeckt. Die Möglichkeit, Tagebuch in digitaler Echtzeit zu führen. Seine Blog-Mitschriften aus der realen Welt waren für jeden lesbar und mussten nicht auf spätere Veröffentlichung warten. Auf einen Abkühlungszustand, der die Temperatur des Lebens schon nicht mehr zeigte. «Minutendinger» und «tägliche Textgebete» nannte der Autor das, was vor einem Vierteljahrhundert unter dem Titel «Abfall für alle» dann auch gedruckt erschien.
Er war beglückt von einer «Gegenwartsmöglichkeit», die er am 7. November des letzten Jahres wieder neu entdeckte. Zwei Tage nach der Wahl Donald Trumps postete Goetz auf Instagram ein Foto vom Kassenzettel einer Berliner Bahnhof-Buchhandlung. Deutsche und internationale Zeitungen für 89 Euro 85. Neben der Vertikale des Kassenzettels steht «Trump Tower». Weil der König von New York wieder als landesweiter Potentat agieren würde, musste man sich mit den Einschätzungen der Presse für das Kommende munitionieren.
Rainald Goetz ist ein manischer Zeitungsleser, und er ist auch so etwas wie ein Zeitungsschreiber. Das Medium ist in diesem Fall er selbst, als Druckerschwärze dient sein eigenes Ich. Mit flirrender Nervosität nimmt der Schriftsteller wahr, was geschieht. Vor einem Monat hat er Frauke Brosius-Gersdorf bei Markus Lanz gesehen und dann ein paar Sätze auf Instagram gepostet. Die SPD-Kandidatin für das Verfassungsrichteramt komme ihm vor wie ein «bebendes, hyperkluges, ältliches Kind». Später war der Post wieder gelöscht, und der Mann dahinter sprach jetzt von seinen «bösartig scharfen Beobachtungen». Er sei erschrocken über sich selbst, «weil er mitgemacht hat beim Gemeinsein».
Das Leben geht weiter
Tagebuchschreiben ist Selbstaktualisierung. Im Schlechten wie im Guten. In dieser Hinsicht hat Rainald Goetz die Möglichkeit digitaler Schnelligkeit genützt. Als er am 7. August schon ganz lapidar berichtet, dass Brosius-Gersdorf ihre Kandidatur zurückgezogen hat, sieht man ein Foto von ihm am Strand des Lake Michigan. Der Schriftsteller trägt ein Basecap und ist zum Schutz vor der Sonne ganz in Handtücher eingehüllt. «Sand all over», steht da noch, «gebadet gedämmert». Das Leben geht weiter.
Liest man die Internet-Einträge von Rainald Goetz, dann fragt man sich, ob sie vor der gerade herrschenden Weltendämmerung kapitulieren oder ob sie eine Art subtiler Kampf sind: Rückeroberung von Gebieten, Aufwertung des Subjektiven gegen die Übermacht globaler anonymer Politik, die den Planeten noch viel schneller verändert, als man auf Instagram mitschreiben könnte.
Was Rainald Goetz macht, hat etwas rührend Antiquiertes, und das passt in die Geschichte des Mediums namens Tagebuch, das immer paradox bleibt. Es will aktuell sein und kommt weltgeschichtlich trotzdem immer zu spät. Die Stärke des Tagebuchs sind die Ich-Geschichten. Auch Goetz ist ein von sich selbst Ergriffener, wie es viele Schriftsteller-Diaristen vor ihm waren.
In den Tagebüchern, ob sie jetzt digital sind oder aus Papier, geht das Leben immer weiter. Es schwingt sich von Datum zu Datum. Man weiss nicht, ob es gerade aufwärts geht oder abwärts, oder ob alles ein einziger Stillstand ist. Für den 22. September 1917 notiert Franz Kafka ein einziges Wort: «Nichts.» Kafka ist ein inverser Houdini, ein Selbstfesselungskünstler. Liest man sein Tagebuch, kann man ihm dabei zuschauen, wie er sich kunstvoll in sich selbst verstrickt und zum Verschwinden zu bringen versucht. Am besten Kiste zu und Deckel drauf.
So etwas fiele Rainald Goetz nicht ein. Er schreibt Tagebuch, um ganz da zu sein, und nicht nur das: um mehr zu sein als er selbst. Statt eines Profilfotos steht bei Goetz das Wort «Aura» über dem Account. Die Dinge der Welt sind aufgerufen, gemeinsam mit dem Autor «Sinn zu effloreszieren», wie es bei dem 71-Jährigen gerne heisst. Er macht Fotos von Alltagsgegenständen und hofft auf Erscheinungen. Neben einem schwarzen Herrenhandschuh, der im Herbstlaub liegt, liest man: «Wo endet die Stadt? Er muss zu den Rändern, den Saum der Stadt, die Stadt umwandern.»
Wer den Saum der Städte kennt, wird dort eher Baumärkte finden statt Epiphanien, aber so etwas stört Goetz nicht. Man kann es ja versuchen. Ganz insgesamt scheint der Autor das Experiment mit digitalen Selbstauskünften nicht zu überschätzen: «Instagram läuft ganz über schwellenschwache Akzeptanz, spontane Affirmation im Hinguckmoment der Initialrezeption, dann bestenfalls Freude, und dann erst, manchmal, ein Gedanke dazu, manchmal auch zwei.»
Das Erfrischende am neuen Instagram-Experiment des «Abfall für alle»-Autors: Er weiss, dass die Bedeutungstiefe manchmal nur Selbsttäuschung ist. In ihrer ganzen Breite ist die Wirklichkeit wohl weniger denn je zu erfassen, und die narzisstische Kränkung jahrhundertelangen Tagebuchschreibens holt auch den Propagandisten der «Gegenwartsmöglichkeit» ein.
Lügendetektor der Selbstdarstellung
Kann man wirklich Bedeutendes sagen über das, was da draussen vorgeht? Muss man Stellung beziehen? Vor allem in Krisenzeiten? Während des Ersten Weltkriegs beklagt der Österreicher Stefan Zweig, dass so viele Schriftsteller dem Furor der Epoche schreibend nichts entgegenzusetzen hätten. «Und ist das nicht der Tod, an einer solchen Zeit vorbeizuleben?», heisst es in einem Tagebucheintrag Stefan Zweigs vom 10. Juni 1915. Jeder Tagebuchschreiber ein innerer Kriegsminister, vielleicht sogar ein pazifistischer?
Das Schriftstellertagebuch ist eine Art Lügendetektor der Selbstdarstellung. Es ist ein Spiegel des Sozialen und der Einsamkeitsgefühle. Auf den digitalen Kanälen oder in Notizbüchern können sich zweite Ichs zeigen, die über die Welt triumphieren oder sich des eigenen Krisenzustands bewusst sind. Thomas Mann, der klassische Tagebuchschreiber, der sich in diesem Metier bewegt hat, als wäre es bürgerliche Pflichterfüllung, pendelte zwischen beidem.
Er war der Beobachter schlechthin. Das Internationale war ihm gleich wichtig wie das Innere des eigenen Körpers. Diplomatie wie Darm waren Objekte einer gesteigerten und sich in immer neue Genauigkeit hineinsteigernden Aufmerksamkeit.
Dazu kamen noch die Protuberanzen der Sexualität: «Morgendliche Voll-Erektion, aus gewissem Grunde besonders erheiternd», schreibt der Literaturnobelpreisträger. Auch in der grössten Erschöpfung wird Thomas Mann seiner selbst nicht müde. 1934 liest er noch einmal seinen Tagebuchjahrgang von 1927/28. Es wird nachts sehr spät dabei. «Ich war tief aufgewühlt, gerührt und ergriffen vom Rückblick.»
Arno Schmidt hat das Pathos der Diaristen der Lächerlichkeit preisgegeben, hat sich über den «unzureichend auf sich=selbst=allein eingestellten Tagebüchler» lustig gemacht, über seinen «ungelernten Schwänzeltanz vorm papierenen Spiegel». Schmidt schreibt: «Das TB ist das Alibi der Wirrköpfe; ist einer der Abörter der Literatur.»
Das hat den deutschen Schriftsteller allerdings nicht gehindert, selbst ein Tagebuch zu führen. Es ist voller privater Geheimcodes und in seinem trockenen Formwillen selbst schon wieder Kunst. Taucht in Schmidts Notizen hinter dem Namen eines Menschen, mit dem er im Gespräch war, das Kürzel «Ba» auf, dann bedeutet das: «Brille abgenommen.» Brille abgenommen, weil das plaudernde Gegenüber der Aufmerksamkeit nicht wert war «und man mich über Gebühr ennuyiert habe».
Kafka beobachtet sich selbst
Es gibt einen Trick des Schriftstellertagebuchs, der verhindern soll, dass man sich mit sich selbst langweilt: Man erfindet sich ein zweites Ich. Max Frisch war ein Meister dieser Neuerfindungen und Verdoppelungen des Selbst. Über die Tagebücher hinaus sind auch die Romane Doppelgängerkunst. Spiegelkabinette aus Eitelkeit und Unsicherheit. Man kann so etwas dramatisch auch noch aufdoppeln, wie es Robert Musil getan hat.
Er begegnet sich selbst in der finsteren Verkleidung eines sogenannten «monsieur le vivisecteur». Die Ich-Zerlegung bei lebendigem Leib ist die Königsklasse bei der Verschriftlichung des Daseins. Bei Musil war die eigene Nüchternheit allerdings Narkose genug, um so etwas zu ertragen. Um «der Gelehrte zu sein, der seinen eigenen Organismus unter das Mikroskop setzt und sich freut, sobald er etwas Neues findet».
Tagebuch schreiben heisst: an sich selbst die Welt messen. Einer, der dieses Prinzip radikal umgekehrt hat, war Franz Kafka. Er mass sich an der Welt und konnte nicht anders, als sich selbst dabei als nichtig zu empfinden. Wieder und wieder verzeichnen seine Notizen unter den hohen Ansprüchen scheiternde Roman-Schreibversuche. Die Ursachen dieses Scheiterns sind in allen Einzelheiten benannt und bilden eine kulturelle Patientengeschichte des 20. Jahrhunderts, die weit über das private Schicksal eines Schriftstellers hinausgeht.
Der übermächtige, lebenslang nachwirkende Vater, der Zweifel an der Autorität der eigenen Wörter und auch der Zweifel an der Wirklichkeit der Welt haben Kafka in einen Kosmos der Auflösung katapultiert. Er will an seinen Notizen dranbleiben, um sich selbst nicht zu verlieren. «Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muss ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es», heisst es im Dezember 1910.
Glück und Unglück gehen in den Lebensbeschreibungen ineinander über. Wenn von einer Hochstimmung die Rede ist, dann klingt das so: «Es ist wirklich etwas Moussierendes, das mich mit leichtem angenehmem Zucken ganz und gar erfüllt.» Aber gleich ist wieder vom Unvermögen die Rede, das von diesem Frohsein nur kaschiert wird.
An anderer Stelle heisst es: «Heute Abend war ich wieder voll ängstlich zurückgehaltener Fähigkeit.» Die Sinnlosigkeitsgefühle mitten im Dasein können so weit gehen, dass das Tagebuch wie eine Parodie auf sich selbst wirkt. «Sonntag, den 19. Juni 10 geschlafen aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben.»
Für die Nachwelt gefährliche Tagebücher
Wenn Kafka mit seinen Notizbüchern allein ist, scheint die Welt aus den absonderlichsten Geschichten zusammengesetzt. Gesehenes und Geträumtes vermischen sich und werden im Aufschreiben zum exakten Abbild einer absurden Lage. Auf Selbstbezichtigungen folgen Phantasmagorien der Bestrafung: «Immerfort die Vorstellung eines breiten Selchermessers, das eiligst und mit mechanischer Regelmässigkeit von der Seite her in mich hineinfährt und ganz dünne Querschnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast eingerollt davonfliegen.»
Wo andere im Tagebuch versuchen, den täglichen, den äusserlichen Fortgang der Wirklichkeit zu beschreiben, hofft Kafka mit der Inständigkeit seines Herzens, sie möchte als Ganzes verschwinden. Das Drama des Ichs ist sein Vorhandensein. Kafkas Aufzeichnungen schillern zwischen tiefster Demut und existenzieller Selbstüberhöhung.
Franz Kafka hat auf die postume Vernichtung seines Werks gehofft. Warum aber schreibt jemand ganz bewusst an der Bruchkante zwischen Intimität und Öffentlichkeit? Auf geradezu monströse Weise stellt sich diese Frage bei Elias Canetti. Bis dreissig Jahre nach seinem Tod waren die täglichen Notizen gesperrt. Zugänglich sind sie seit letztem Jahr und werden seither wie ein verbotener Schatz gehütet.
Vor sechzig Jahren hat Canetti einen Aufsatz über das Tagebuch geschrieben und ihm den Titel «Dialog mit dem grausamen Partner» gegeben. Darin heisst es: «Es kann gar nicht genug Listen und Vorsichtsmassregeln geben, um ein echtes Tagebuch geheim zu halten. Schlössern ist nicht zu trauen. Geheimschriften sind besser.»
Elias Canetti, der vor der Gefährlichkeit von Tagebüchern warnt, ist ein besonders gutes Beispiel eitler Selbsttäuschung. Im Gegensatz zu seiner in dem Essay aufgestellten Behauptung liefert sich Canetti weniger selbst ans Messer, als er hinterrücks gerne auf vermeintliche Gegner einsticht. Die Tagebücher des Nobelpreisträgers liegen bis auf weiteres in den Zürcher Archiven. Wohl aus gutem Grund ist auch nicht geplant, sie im Ganzen zu veröffentlichen.
In den Herausgeberkommentaren einer neuen Canetti-Werkausgabe kann man sehen, wie das verbale Waffenarsenal des Schriftstellers aussieht. Den Charakterbildern von «Der Ohrenzeuge» sind Tagebuchzitate angefügt. Zum deutschen Philosophen Ernst Bloch hat sich Canetti 1970 eine ganze Liste kurioser Schmähungen ausgedacht: «Ein hüpfender Bandwurm. Ein Erhabenheits-Syrup. Ein Marx-Streuer. Ein apokalyptisches Salzfass. Eine gefüllte Paprika. Eine Gotteswurst. Ein Zigzag-Olympionike. Ein Sonnenfleck. Eine Wort-Nähmaschine. Eine Graswolke, aus der es Häcksel regnet. Ein Schwarz- und Blauredner. Ein heilloses Gemisch-Gemasch. Ein vollgelaichter Teich. Eine rasende Rumpelkammer. Ein Gottgebräu. Ein Fahrrad für hundert, jeder in eine andere Richtung tretend.»
Auf der nächsten Seite in Canettis Tagebuch steht der Satz: «Schimpfen ist schön.» Ernst Bloch bleibt auch bei weitem nicht der Einzige, dem solche grimmigen Selbstaufstachelungen gewidmet sind. Thomas Bernhard wird als «der Reliquiar» beschimpft, und zu Max Frisch gibt es eine Notiz, die wenige Tage vor dessen Tod entstanden ist: «Wachsende Abneigung gegen schreibende Zeitgenossen, selbst wenn sie’s aufgegeben haben. M. F. verkörpert für mich alles, was mich an der Schweiz langweilt. Er ist vernünftig wie eine Sauna, nachdenklich wie eine Bank, berechnend wie ein Unternehmen.»
Gibt es eine Typologie der tagebuchschreibenden Schriftsteller? Selbstrettung im gefühlten Verdrängungswettbewerb scheint bei Elias Canetti ein Motiv zu sein. Wo ich bin, darf ein anderer nicht sein. Eine ganz andere Form der Verdrängung hat Wolfgang Herrndorf erlebt, der Autor des 2010 erschienenen Coming-of-Age-Romans «Tschick», einer melancholischen Feier der Freundschaft. Als Herrndorf im gleichen Jahr erfuhr, dass sich in seinem Kopf ein Hirntumor gebildet hatte, begann er den Blog «Arbeit und Struktur».
Ernst Jandls Geschwätz
Die laufend im Internet zu lesenden Aufzeichnungen waren Therapieversuch und Motivation zugleich. Weiterschreiben, solange es geht. Die Gedanken unter dem unabänderlichen Glioblastom bis zum Ende beisammenhalten. In einem Tagebuch, das ein grosses Trotzdem ist. «Im Schneetreiben Fahrrad gefahren. Die vierspurige Torstrasse eine einzige plattgewalzte, weisse Fläche. Vor Freude noch ein paar Umwege gefahren, um dem Körper Gelegenheit zu geben, sich der winterlichen Schulwege zu erinnern: piksender Schnee in den Augen, das Verreissen des Lenkers, das Gegensteuern. Hellbraune Schlangen, die sich unterm Schutzblech stauen und wachsen und seitlich herauskringeln wie an einer Softeismaschine.»
Ein Jahr später, zwischen den häufigen medizinischen Untersuchungen und der Arbeit am Roman «Sand», notiert Herrndorf: «Warten. Wenn man stirbt, stirbt das Bewusstsein. Was ist das Bewusstsein? Man spürt es nicht. Um es zu spüren, fehlt das Organ.» Die Ironie dieses bis zum Todesjahr 2013 geführten Tagebuches besteht darin, dass es genau ein solches Organ ist. In der Niederschrift spürt sich das Ich, findet Worte für seine unter der Krankheit wechselnden Aggregatzustände. Für finstere und hellere Tage. «Sturm und Wolkenbruch. Ich laufe in meiner Wohnung herum, um der Reihe nach durch alle Fenster zu sehen und mich zu freuen.»
Nach und nach verflüchtigen sich die Wörter. Man kann in diesem Tagebuch mitlesen, wie die Inseln der Sprache immer kleiner werden, wie sie überflutet werden von einem Schweigen, das kein freiwilliges ist. Was ist der Rede wert? Die Krankheit auf jeden Fall, weil sie die «Gegenwartsmöglichkeit», die Rainald Goetz beschwört, auf eine grausame Probe stellt.
Tagebuch zu schreiben, ist der fortgesetzte Versuch, sich für das eigene Ich zu interessieren. Manch einer verlebt in dieser Konstellation lebenslange Flitterwochen, andere scheitern schon bei den Anfängen. In den fünfziger Jahren legt sich Ernst Jandl ein «Exercise Book» zu, das als Diarium dienen soll. Darin hält er kurz darauf fest: «Eine Woche nichts eingetragen – wirklich eine Schweinerei!» So geht es dahin in einem äusserst lückenhaften Selbstprotokoll, zu dem es 1974 einen neuen Versuch gibt. Das ganze Jahr kommt auf insgesamt vier kurze Notizen, auf die man laut einem Eintrag Jandls offenbar auch hätte verzichten können: «Was für ein Geschwätz!»