Mittwoch, April 23

Die SP-Bundesrätin steht schon wieder im Abstimmungskampf gegen die eigene Partei. Sie sagt, ein Ausbau der Prämienverbilligung um mehrere Milliarden führe zu höheren Steuern.

Selten hatten linke Pläne zum Sozialausbau so gute Chancen wie heute. Im März sagte das Volk Ja zur 13. AHV-Rente, und laut Umfragen hat auch die Prämienentlastungsinitiative Ihrer SP eine Mehrheit. Just in dieser Zeit übernahmen Sie freiwillig das Innendepartement, wo Sie gegen die eigene Partei und wohl auch die eigene Überzeugung antreten müssen. Frau Bundesrätin, weshalb tun Sie sich das an?

Ich kämpfe als Bundesrätin nicht gegen meine Partei, sondern bin Teil einer Exekutive. Meine Aufgabe ist es, dem Volk die Argumente des Bundesrats darzulegen, so dass es seine eigenen Entscheidungen treffen kann.

Ist es Ihnen nicht unangenehm, eine Position zu vertreten, die nicht Ihre eigene ist?

Ich finde es merkwürdig, dass Sie zu wissen meinen, was ich denke.

Ihr Parteikollege Pierre-Yves Maillard sagte vor der Abstimmung über die 13. AHV-Rente, er habe keinen Zweifel daran, wie Sie abstimmen würden. Nehmen Sie ihm diesen Paternalismus übel?

Ich möchte nicht darüber urteilen, was Pierre-Yves Maillard sagt, den ich schätze. Aber Sie haben recht, ich war nicht so glücklich, als ich das las. Ich mag solche Aussagen allgemein nicht – auffällig oft sind es Männer, die zu wissen meinen, was eine Frau denkt. Ich bin 60 Jahre alt und fälle meine Entscheidungen selbst. Meine politische Arbeit ist Ausdruck davon. Beispielsweise die Art und Weise, wie ich den Bundesrat während des Abstimmungskampfes zur 13. AHV vertreten habe.

Die AHV-Abstimmung haben Sie verloren, jetzt beginnt der Kampf um die Verbilligung der Krankenkassenprämien. Ihre Partei verlangt, dass niemand über 10 Prozent des verfügbaren Einkommens für die Grundversicherung ausgeben muss. Weshalb lehnen Sie das ab?

Der Bundesrat sieht, dass es für viele Menschen schwierig ist, die Prämien zu zahlen. Aber 25 Prozent der Versicherten bekommen bereits heute eine Prämienverbilligung. Der Bund übernahm 2022 über die Hälfte der Kosten, die Kantone den Rest. Wenn die Prämien steigen, erhöht der Bund seinen Beitrag. Leider machen das nicht alle Kantone, gewisse haben die Verbilligungen sogar gesenkt, obwohl die Prämien gestiegen sind. Daher legen wir dem Volk einen Gegenvorschlag vor. Er verpflichtet alle Kantone, einen Mindestbeitrag zu bezahlen.

Im Kanton Jura, Ihrem eigenen Kanton, müssen finanziell schwächere Haushalte trotz Verbilligung teilweise bis zu 20 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die Prämien ausgeben. Finden Sie das angemessen?

Das ist schwierig. Ich möchte nicht über einzelne Kantone reden, auch nicht über meinen eigenen. Grundsätzlich ist jeder Kanton für seine eigene Sozialpolitik verantwortlich. Die Kantone bestimmen auch wichtige Bereiche des Gesundheitswesens und können so Einfluss nehmen auf die Kosten. Genau hier setzt der Gegenvorschlag an: Er entlastet die Prämienzahler und setzt für die Kantone einen Anreiz, gegen das Kostenwachstum vorzugehen. Steigen die Kosten, steigt auch der kantonale Mindestbeitrag für Prämienverbilligungen.

Wird der Gegenvorschlag Fälle wie im Jura verhindern?

Ob solche Fälle ganz ausgeschlossen wären, kann ich nicht sagen. Aber der Gegenvorschlag wird die Situation für sehr viele Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen verbessern: Die mindestens 360 Millionen Franken, die die Kantone zusätzlich zur Verfügung stellen müssen, sind ein substanzieller Beitrag.

Die Initianten verweisen gern auf den Kanton Waadt, der bereits eine Obergrenze für die Prämienbelastung eingeführt hat.

Dieser Vergleich passt nicht: Die Waadtländer Vorlage regelte neben dem Ausbau der Prämienverbilligungen auch gleich dessen Finanzierung mittels einer Steuerreform für Firmen. Die Initiative, über die wir am 9. Juni abstimmen, sagt nur, der Bund müsse zwei Drittel übernehmen, die Kantone den Rest. Aber mit welchen Mitteln wir das finanzieren sollen, sagen die Initianten nicht. Und es sind immerhin 3,5 bis 5 Milliarden Franken pro Jahr, Tendenz steigend.

Ihre Partei sagt, der Mittelstand würde profitieren: Laut SP würde eine vierköpfige Familie mit einem Einkommen von 9000 Franken netto mehrere hundert Franken im Monat sparen. Warum sollten die Bürger ein solches Angebot ablehnen?

Ich verstehe, dass das Angebot attraktiv klingt. Doch die Initiative hat einen wirklich hohen Preis. Der Bund braucht mehr Einnahmen, um sie zu finanzieren. Es kann sein, dass die erwähnte Familie zwar von mehr Prämienverbilligungen profitiert, im Gegenzug aber mehr Bundes- oder Mehrwertsteuern bezahlen muss.

Sprich: Falls die Initiative angenommen wird, gibt es eine Steuererhöhung?

Wie genau der Bund das finanzieren würde, kann ich nicht sagen. Im Bundesrat sind sieben Leute, und das Parlament hat auch ein Wörtchen mitzureden.

Finanzministerin Karin Keller-Sutter hat kürzlich gesagt, dass eine Steuererhöhung angesichts der drohenden Mehrkosten unausweichlich wäre. Ist die Argumentation der SP unter diesen Umständen redlich?

Es ist nicht an mir, dies zu beurteilen. Sicher ist: Man kann nicht heute Ja zu dieser Initiative sagen und morgen erschrecken, dass sie etwas kostet. Wenn ich mir den Finanzplan anschaue, in dem einige Milliarden fehlen, muss ich meiner Kollegin zustimmen: Bei einer Annahme der Initiative wird es nicht ohne Steuererhöhung gehen.

Wenn Sie wirklich die Entwicklung der Gesundheitskosten dämpfen wollten, müssten Sie die Mitte-Initiative für eine Kostenbremse unterstützen. Weshalb lehnen Sie sie ab?

Die Initiative ist zwar sympathisch, aber zu eng formuliert. Der Bundesrat findet es falsch, die Entwicklung der Krankenversicherung allein von der Entwicklung der Löhne und der Wirtschaft abhängig zu machen. Es gibt andere Faktoren, die man nicht ausblenden darf: die Alterung der Gesellschaft, die Zunahme von Mehrfacherkrankungen oder der medizinisch-technische Fortschritt, der neue Behandlungen ermöglicht, aber auch Kosten auslöst. Deshalb empfehlen wir den Gegenvorschlag, der weniger starr ist.

Er sieht unverbindliche Kostenziele vor. Was soll das konkret bringen?

Transparenz und Planungssicherheit. Alle Akteure von den Ärzten und Spitälern bis zu den Krankenversicherern wären gezwungen, im Voraus zu sagen, wie hoch ungefähr das Kostenwachstum in den nächsten vier Jahren sein wird. Nach Anhörung der Akteure legt der Bundesrat Kostenziele fest: für das gesamte System, aber auch für die einzelnen Bereiche der Versorgung wie die Arztpraxen oder die Spitäler.

Für den Anstieg der Prämien sind die Gesamtkosten entscheidend. Wie stark dürften sie mit dem neuen Modell noch steigen?

Das kann ich nicht vorhersagen. Aber sicher weniger stark als in den letzten Jahren. Es muss möglich werden, dass wir Doppelspurigkeiten verhindern, dass keine unnötigen Behandlungen mehr gemacht werden, die es heute – leider – gibt.

Wie soll das mit den vorgesehenen Kostenzielen gelingen?

Indem wir Ärzte und Spitäler stärker in die Pflicht nehmen. Sie wären erstmals gezwungen, Transparenz zu schaffen und Rechenschaft über die Kosten abzulegen. Wenn diese stärker steigen als vorgesehen, müssen sie dies nachträglich erklären. Dann kann die Politik entscheiden, ob Massnahmen getroffen werden müssen. Es darf nicht mehr möglich sein, Leistungen so oft anzubieten, wie man will, ohne dass es medizinisch wirklich notwendig ist.

Können Sie Beispiele nennen?

Das überlasse ich den medizinischen Fachleuten. Es ist ihre Verantwortung, im Einzelfall zu beurteilen, wann welche Untersuchung oder Therapie nötig ist – und wann damit unnötige Kosten verursacht werden. Wenn wir nach vier Jahren sehen, dass die Kosten in einem Bereich aus unerklärlichen Gründen aus dem Ruder laufen, ist die Politik am Zug. Dann müssen wir zeigen, dass es uns ernst ist mit dem Sparen.

Das klingt nach einem Papiertiger . . .

. . . das denke ich nicht. Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wir dürfen nicht überstürzt handeln. Sonst gefährden wir die hohe Qualität der Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Starre Obergrenzen können unerwünschte Folgen haben, deshalb lehnt der Bundesrat die Initiative für eine Kostenbremse ab.

Dann haben die Gegner der Initiative recht, wenn sie im Fall einer Annahme vor Rationierung und Zweiklassenmedizin warnen?

Eines ist klar: Wir können nicht dasselbe Angebot haben wie heute und deutlich weniger dafür bezahlen. Das geht nicht auf. Wollen wir die Kosten stark bremsen, hat das Folgen, zum Beispiel längere Wartezeiten beim Arzt oder im Spital.

Der Bundesrat will ja das Kostenwachstum ebenfalls bremsen . . .

. . . aber mit durchdachten Massnahmen, indem wir zum Beispiel Doppelspurigkeiten verhindern wollen.

Das will auch die Mitte-Partei mit ihrer Initiative.

Schön, dann sind wir schon zwei. Aber weil wir wissen, wie schwierig das ist, wollen wir nicht mit derart starren Obergrenzen vorgehen, wie die Initiative sie verlangt.

Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass Sie die Gesundheitskosten dämpfen können? Ihr Vorgänger Alain Berset wirkte gegen Ende konsterniert. Er sprach von einem «Kartell» im Gesundheitswesen, das alle Reformen verhindere. Wie wollen Sie die Blockaden überwinden?

Durch Zusammenarbeit. Mein Eindruck ist, dass das Problembewusstsein wächst. Immer mehr Akteure merken, dass es so nicht weitergehen kann. Man sieht es bei den Problemen der Spitäler in manchen Kantonen, man sieht es beim Fachkräftemangel. Das ganze System stösst an Grenzen.

Aber das geht doch nicht zusammen: Sie sprechen vom Sparen, gleichzeitig haben die Spitäler schon heute zu wenig Geld, und es fehlt an Personal. Beides wird die Kosten weiter erhöhen. Das ist ein Widerspruch.

Das sehe ich nicht so. Es gibt auch Kantone, die Spitäler geschlossen und Kosten gespart haben und weiterhin eine hohe Versorgungsqualität haben. Die Probleme, die nun zutage treten, zeigen, dass wir uns fragen müssen, wie wir zum Beispiel die Spitallandschaft aufstellen müssen, damit die Versorgung sichergestellt ist, aber auch bezahlbar bleibt.

Verstehen wir Sie richtig: Sie hoffen, dass die Finanzprobleme dazu führen, dass nun vermehrt Spitäler geschlossen werden?

Ich mische mich nicht in die Zuständigkeit der Kantone ein. Aber es dürfte für alle klar sein, dass wir die Probleme nicht ohne Reformen lösen können. Wenn nun alle Spitäler ihre Defizite überwinden wollen, indem sie mehr Patienten behandeln oder höhere Tarife verlangen, droht der finanzielle Kollaps.

Gibt es zu viele Spitäler?

Ich masse mir nicht an, von Bern aus darüber zu urteilen. Es ist die Verantwortung der Kantone, zu schauen, wie es weitergeht.

Braucht es eine nationale Spitalplanung, um zu verhindern, dass die Bereinigung unkoordiniert und zufällig abläuft?

Nein. Aber es braucht mehr Koordination.

Zuletzt eine einfache Frage: Wenn Ihre Partei gewinnt und das Volk die Prämienverbilligung ausbaut, überwiegt dann für Sie der Ärger über die Abstimmungsniederlage oder die Freude an der Sache?

Das ist die schwierigste Frage, die Sie mir je gestellt haben! (Lacht.) Im Ernst: Meine Gefühle haben keine Bedeutung.

Sicher? Für Ihre Karriere als Bundesrätin ist es enorm wichtig, ob Sie eine weitere Abstimmung von grosser Tragweite verlieren, nicht?

Für mich ist die Sache entscheidend: Wie geht es in der Gesundheitspolitik weiter, wenn diese Initiative angenommen wird? Meine Sorge ist, dass die Politik dann praktisch keinen Spielraum für Reformen mehr hätte. Wir wären auf Jahre hinaus damit beschäftigt, die Finanzierung zu regeln. Damit wären wir in der gleichen Situation, wie wir sie bei der Altersvorsorge bereits haben. Hier nimmt die 13. AHV-Rente so viel Raum ein, dass wir daneben kaum neue Akzente setzen und eigene Projekte lancieren können. Ich hoffe, dass nun im Abstimmungskampf alle ihre Verantwortung wahrnehmen, auch die Parteien und Verbände. In der Debatte um die 13. Rente habe ich mich ein wenig allein gefühlt.

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