Sonntag, September 29

Elke Heidenreichs Buch «Altern» stürmt die Bestsellerlisten. Die 81-jährige Schriftstellerin erklärt im Gespräch, wieso die Vorwürfe der Jungen gegenüber ihrer Generation falsch sind und weshalb sie sich überhaupt nicht alt fühlt.

Elke Heidenreich, als Sie angefragt wurden, für eine Reihe über das Leben das Thema Altern zu übernehmen, hätten Sie lieber übers Wohnen geschrieben. Warum?

Das Thema Alter hat mich nicht interessiert. Dagegen bin ich so oft umgezogen in meinem Leben und habe darüber nachgedacht, warum und was ich dabei eigentlich suche, darüber hätte ich gerne geschrieben. Und dann habe ich im Bett gelegen und gedacht: Warum eigentlich nicht, ich bin achtzig, ich sollte vielleicht mal über das Alter nachdenken.

Es soll auch ein Buch übers Streiten geben – auch passend für Elke Heidenreich?

Ja, streiten ist schön, das hält immer jung. Irgendjemand schrieb, im Alter höre es auf, dass man Pamphlete in die Maschine haue. Und ich tue es immer noch.

Was macht Ihnen denn am Altern Angst, so dass Sie das Thema zuerst nicht übernehmen wollten?

Gar nichts, mir macht gar nichts Angst. Ich habe einfach nie darüber nachgedacht. Ich lebe einfach mein Leben. Ich arbeite sehr viel, ich habe jeden Tag irgendwelche Termine. Ich denke manchmal, ich muss ein bisschen aufräumen, weil ich irgendwann sterben werde, und das Haus ist zu voll. Das macht es dem, der es erbt, nicht leicht. Aber ich habe mir gedacht, wenn jetzt der Hype mit diesem Buch vorbei ist und die Lesereiserei und wenn das alles mal ruhiger wird, dann habe ich vielleicht mal ein Jahr, wo ich aufräumen und aussortieren kann. Aber das wird mir schwerfallen. Haha.

Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?

Ich gehe mal morgens mit dem Hund, und von 10 bis 15 Uhr sitze ich am Schreibtisch, und danach kommt anderer Kram, Haushalt und so. Diese fünf Stunden habe ich jeden Tag, seit Jahrzehnten, und das hilft mir.

Wie erklären Sie sich den Riesenerfolg Ihres Buches?

Das habe ich mich auch gefragt, ich bin ja nun nicht die Autorin, auf die die Welt wartet. Ich erlebe es bei Lesungen und auf der Strasse, dass alte Leute mir danken und sagen: Jetzt habe ich keine Angst mehr. Das Altern ist nicht ein Warten auf den Tod – also in der Ecke sitzen, jetzt bin ich überflüssig, und das war’s schon. Warum hat ihnen das noch keiner gesagt? Jeder Tag ist ein Geschenk. Man kann rausgehen, man kann Menschen treffen, man kann ein Glas Wein trinken. Man hat sein Leben gelebt, man muss nichts mehr beweisen, man muss nichts mehr organisieren. Man kann jetzt einfach glücklich sein. Und ich bin total glücklich im Alter. Mehr als je vorher in meinem Leben.

Nun ist Elke Heidenreich eine starke Frau mit aussergewöhnlicher Schaffenskraft. Die durchschnittlichen Achtzigjährigen reisen ja nicht von einer Lesung zur anderen, geben nicht ein Interview nach dem anderen. Die könnten jetzt trotzdem resignieren und sagen: Ach ja, die Heidenreich, die schmeisst das halt mal alles so.

Nein, es ist aber nicht so, ich bin einfach immer noch in meinem Beruf. Und ich finde es schade, dass viele Menschen da wegen einer Altersgrenze aussortiert werden. Für manche, die schwer körperlich gearbeitet haben, ist das sicher gut, endlich aufzuhören. Aber für die, die geistig arbeiten, ist das sehr schwierig, aufzuhören. Und da muss man Gegengewichte finden. Mich machen meine Lesungen und die Reisen auch nicht immer glücklich. Das strengt mich oft sehr an, aber ich mache es, um im Leben zu bleiben. Und so muss jeder etwas finden. Man muss es ausprobieren. Warten halte ich für die schlechteste aller Lebensformen.

Mir erscheint «Altern» wie die Fortsetzung Ihres Buches «Hier geht’s lang», in dem Sie über Ihr Leben schreiben anhand der Bücher, die Sie gelesen haben. Es ist wie eine Autobiografie, die aufzeigt, wie die Literatur uns trösten, uns Wege weisen kann. Und Sie kommen jetzt zu einem klaren Fazit: «Es war schön.»

Ich leugne ja nicht, dass im Leben viel schiefgeht, weil man falsche Entscheidungen trifft. Ich sage nur, dass man nicht immer Dingen nachtrauern darf. Von Voltaire stammt der Satz: «Ich habe beschlossen, glücklich zu sein, weil es meiner Gesundheit dient.» Ich hab das auch beschlossen. Ich hatte so viele Niederlagen und Schrecklichkeiten in meinem Leben, aber ich habe nur dieses eine Leben, ich versuche, glücklich und dankbar zu sein. Und natürlich kann man in Frieden und einigermassen in Glück im Grunde nur altern, wenn man sorgenfrei altern kann, wenn man einigermassen gesund, einigermassen finanziell abgesichert ist, eine Wohnung und Menschen um sich herum hat. Und da habe ich gemerkt, wie gut ich es habe, weil mir all das gelungen ist. Ich war doch auch nicht immer glücklich, und ich bin es auch jetzt nicht jeden Tag, aber ich bin dankbar für die Dinge, die funktionieren, und bin dankbar, in einem demokratischen Land zu leben ohne Krieg.

Alle wollen heute möglichst alt werden, keiner möchte alt sein. Ist das nicht absurd?

Wir machen alles, um das Leben zu verlängern, aber wir tun nichts, um unser Alter sinnvoll zu gestalten. Und das möchte ich sagen: Jeder Tag ist schön, jeder Tag ist wichtig. Der Tod kommt sowieso, der weiss, wo wir wohnen. Also auf ihn zu warten, macht keinen Sinn. Man sollte sagen: Was ist gutgegangen, was hatte ich Gutes im Leben? Was kann ich mir jetzt gönnen, was kann ich jetzt geniessen? Und diese Botschaft, so einfach sie ist, die kommt dermassen sensationell an, dass ich geradezu fassungslos darüber bin.

Was sagt unsere widersprüchliche Haltung gegenüber dem Alter aus über uns als Individuum oder als Gesellschaft?

Es zeigt sich hier unser Anspruchsdenken. Wie wir immer erwarten, dass irgendetwas uns irgendwie glücklich macht. Nietzsche sagt, Glück ist in der Schöpfung nicht vorgesehen, das muss man erst erarbeiten. Und es kommt in kleinen Momenten, und daraus setzt sich dann ein gelungenes Leben zusammen.

Sie gehen hart ins Gericht mit den Jungen. Ihr Buch ist auch ein Pamphlet gegen den Vorwurf an Ihre Generation, diese habe den Planeten und die Zukunftsmöglichkeiten an die Wand gefahren. Was ärgert Sie so sehr?

Er ist falsch, kurzsichtig und dumm gedacht. Aber als ich jung war, war ich auch dumm. Und ich wollte dies mal eben kommentieren und sagen: Hallo! Gerade meine Generation hat sich befreit von den Nazieltern, gegen den Vietnamkrieg demonstriert, gegen die Stationierung von Atomraketen auf deutschem Boden, gegen die Notstandsgesetze. Wir haben die Grünen gegründet, auch wenn sie jetzt nicht die Politik machen, die uns gefällt. Aber damals war es wichtig, die hatten überhaupt einmal auf Umwelt und Tiere geachtet. Meine Generation hat den Paragrafen 218 entschärft, den 175er, den Schwulen-Paragrafen, abgeschafft. Wir haben Amnesty International, Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen gegründet. Ich kann noch mehr aufzählen! Wir waren eine tolle Generation, die tollste überhaupt bisher.

Empfinden Sie diese Vorwürfe als mangelnden Respekt gegenüber den Alten?

Nein, ich verlange überhaupt keinen Respekt. Ich sehe mich auch nicht als Alte, sondern eher als jemand, der jetzt älter ist. Ich bin immer noch eine alte Kantianerin. Der Mensch soll sich seines Verstandes bedienen. Ich lasse mir nicht vorwerfen, dass meine Generation das alles versemmelt hat. Wir sind doch nicht schuld an dieser gewaltigen Umweltzerstörung, weil wir zu viel nach Palermo in die Oper geflogen sind. Die Industrien haben seit dem 19. Jahrhundert die Umwelt ausgebeutet, gerodet und verpestet. Also ich bin auf die Jungen genauso wütend wie die Jungen auf uns Alte. Aber beides ist falsch.

Und was wäre der richtige Weg?

Wir sollten zusammenarbeiten daran, dass es besser wird. Denn die Entwertung der Welt schreitet in einem Masse voran, dass es uns alle bekümmern muss: die Entwertung von Demokratie, die Entwertung von Frieden, die Entwertung von Menschenwürde. Und mit Sich-auf-die-Strasse-Kleben oder Van-Gogh-mit-Tomatensuppe-Beschmeissen ist es eigentlich nicht getan. Wir müssen nicht mehr aufmerksam gemacht werden. Wir wissen, was los ist. Es muss sich jetzt etwas ändern, und dazu ist die junge Generation aufgerufen. Und was macht sie? Wählt rechts in Europa. Geht’s noch? Wir haben uns nicht von diesen Nazieltern gelöst, um jetzt in Europa wieder Parteien an der Macht zu sehen, die schon in ihrem Programm sagen, welche Grundrechte sie aufheben oder dass sie gleich Europa abschaffen wollen. Wie kann man so was wählen?

Sie haben vor nicht allzu langer Zeit noch gesagt, Sie seien nicht auf Social Media, weil Sie sich nicht deprimieren lassen wollten. Nun haben Sie allerdings doch einen Instagram-Account. Was ist passiert?

Ich habe das «Buch der Tage» gelesen von Patti Smith, die gegen die auf Instagram unter ihrem Namen sich tummelnden Accounts anschrieb: «This is Patti Smith». Daraufhin hab ich meine Freundin gebeten, mal im Netz nachzuschauen, und da gab es fünf Elke Heidenreichs. Zwei davon hiessen wirklich so, die anderen drei haben unter meinem Namen Bücher vorgestellt, und das fand ich einfach nicht gut. Und dann habe ich nach Smiths Vorbild, ich glaube, am 1. Januar 2022, angefangen, unter dem Namen «Dies_ist_Elke_Heidenreich» jeden Tag ein Bild mit einem Satz zu posten, manchmal sind es drei oder vier Sätze. Ich lese alle Kommentare dazu, die mich manchmal richtig glücklich machen. Ich antworte aber nicht. Das macht mir Freude. Ich mache es jeden Tag.

Und was ist aus den Elke-Heidenreich-Fake-Accounts geworden?

Die sind jetzt weg.

Sie beschreiben, wie Sie mit der besten Freundin vereinbart hätten, dass nach Ihrem Tod erst einmal niemand benachrichtigt und Ihre Asche verstreut werden soll – irgendwo, «wo auch der Hund hinkann». Das wird natürlich nicht funktionieren bei Ihrer Bekanntheit, oder?

Das schwöre ich Ihnen, dass das funktioniert. Ich habe ihr das Versprechen bei aller Liebe und bei allem, was sie von mir erbt, abgenommen. Das hat ja auch geklappt, als Senta Berger ihren Mann begraben hat, ganz in Ruhe mit ihrer Familie, und dann erst hat sie bekanntgegeben, dass er seit einer Woche tot ist. Und so wird das bei mir auch sein. Ich möchte einfach keine Nachrufe, keine Todesanzeige, kein Gedöns, keine Reden, keinen Pfarrer, keine Orgel, keine Freunde, die mit Tränen am Grab stehen. Diesen ganzen Zirkus möchte ich nicht haben. Ich möchte so gehen: Vielen Dank, war wunderbar, ich bin weg.

Was werden Sie als Nächstes schreiben?

Ich weiss es nicht. Wenn sich was ergibt, ist gut, wenn nicht, war es das letzte Buch, und dann ist es als letztes eigentlich auch schön. Weil das Alter mich gar nicht beschäftigt hatte, ich bin mittendrin und habe es nicht mal gemerkt. Die Literatur hat mich hier wieder auf viele Fährten geführt, um über mein eigenes Leben nachzudenken. Und das habe ich jetzt getan, und jetzt wird weitergelebt und weitergearbeitet.

Von Elke Heidenreich gerade erschienen: Altern. Hanser Berlin, 2024. 112 S., Fr. 29.90.

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