Samstag, September 28

Die Feministin Emilia Roig forderte das Ende der Ehe. In ihrem neuen Buch schreibt sie, dass Beziehungen ohne Sex die Welt besser machten. Dabei verknüpft sie das Intime mit Ideologie. Was treibt sie an?

Emilia Roig kann auf eine junge Generation von urbanen Frauen zählen. Die Frauen füllen Säle, wo immer die feministische Aktivistin aus einem neuen Buch vorliest oder auf einem Podium sitzt. Roig bietet mit ihrem Denken Identifikation und lädt ihre weibliche Anhängerschaft ein, sich als Teil einer kämpferischen Gemeinschaft zu fühlen.

Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Emilia Roig mit ihrer Forderung, die Ehe abzuschaffen. Die Ehe sei eine patriarchale Institution, die auf Unterdrückung basiere, sagt die 41-jährige Politologin. «Männlichkeit muss verschwinden, wenn wir das Patriarchat überwinden wollen», schreibt sie in ihrem Buch «Das Ende der Ehe». Denn die gesellschaftliche Macht liege weiterhin bei den Männern.

Laut Roig leben die meisten Paare nicht gleichberechtigt. Glücklich verheiratete Frauen sind sich demnach der strukturell bedingten Benachteiligung nicht bewusst. Von der Ehe profitierten vor allem der Staat und die Wirtschaft.

Selbst die Penetration in der «cis-heteronormativen Beziehung» ist für die Autorin der Beweis für patriarchale Unterdrückung und Zwang. Denn sie sei mit Fortpflanzung verbunden. Eine Frau, die Mutter werde, bleibe umso abhängiger.

Roig wird groupiehaft verehrt, aber auch heftig kritisiert: Sie teile die Welt in Unterdrücker und Unterdrückte ein. Diese Schablone hat sie nach dem 7. Oktober auch auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gelegt. Das Massaker der Hamas verurteilte sie. Doch bald war für sie klar, dass Israel in Gaza einen Genozid begeht. «I’m Jewish, but I’m not standing with Israel», teilte sie ihren über 70 000 Followerinnen und Followern auf Instagram mit.

Seither wiederholt sie in öffentlichen Talkrunden oder bei Uni-Vorträgen dieselbe Botschaft: Es gebe «eine systematische Verschmelzung» von Zionismus und Judentum. Wer in Deutschland den Zionismus kritisiere, gelte als antisemitisch – so würden selbst jüdische Kritiker diffamiert.

In einem «Spiegel»-Interview sagte Roig, Deutschland hätte den Juden Bayern als Heimat geben können, statt sie den jüdischen Staat im Nahen Osten gründen zu lassen.

Traumata begründen ihre Theorien

Wegen solcher Aussagen wird ihr vorgeworfen, von der jüdischen Geschichte und Geografie Israels wenig Ahnung zu haben. Sie erzähle «blanken Unsinn», urteilt die «Jüdische Allgemeine». Roig verweist dann gerne auf ihren eigenen familiären Hintergrund: Ihr Vater ist ein algerischer weisser Jude. Ihre schwarze Mutter stammt von der Karibikinsel Martinique.

Roig, die heute in Berlin lebt, hat sich schon als «Produkt des französischen Kolonialismus» bezeichnet. Aufgewachsen ist sie bei Paris, in einer «rassistischen Familie», wie sie sagt. In einer Dokumentation für Arte liess sie auch ihren jüdisch-algerischen Grossvater auftreten. Dieser sagte ihr unbekümmert ins Gesicht: «Die Vermischung der Rassen ist das grösste Problem unserer Zeit.» Solche persönlichen Erfahrungen fliessen in ihre Arbeit ein. Roig forscht zu Rassismus, Postkolonialismus und Diskriminierung. Davon handelt ihr erstes Buch «Why We Matter».

Auch in «Das Ende der Ehe» illustriert Roig ihre Thesen und Theorien mit Erlebtem. Sie war selber verheiratet, fiel nach der Hochzeit in eine Depression, nach sieben Jahren scheiterte die Ehe. Roig hat einen Sohn und liebt heute Frauen.

Nun legt sie den Essay «Lieben» vor, in dem sie noch mehr von ihrer eigenen Geschichte offenbart. In dem schmalen Buch erwähnt sie, dass sie als Kind jahrelang sexuell missbraucht worden sei. Der Täter: ein Verwandter. Solche Traumata tragen zu ihrer Sicht auf die Kleinfamilie bei.

Diese sei eine mächtige, gesellschaftliche Norm, «die kollektiv aufrechterhalten wird, unter anderem durch das Schweigen darüber, was innerhalb von Familien wirklich geschieht», schreibt sie. Ihr Vater, unter dessen autoritärer, patriarchaler Erziehung die Familie litt, glaubte ihr nicht, ihre zwei Schwestern wandten sich von ihr ab.

Beim Online-Gespräch sitzt Emilia Roig in ihrer Wohnung in Berlin-Neukölln. Ein Feigenbaum, Fotos an der Wand. Natürlich kenne sie die Kritik: dass es heisse, sie nehme ihre schlechten Erfahrungen zum Massstab, wenn sie gesellschaftliche Zustände wie das Patriarchat kritisiere. «Wir sind nie getrennt von unserer privaten Geschichte», sagt sie. Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht seien prägend dafür, wie jemand denke und sich in der Welt bewege. Dennoch gebe es auch eine deutliche Statistik zu sexuellem Missbrauch und familiärer Gewalt. «Wenn eine Frau von Männern Gewalt erfahren hat, sollte sie für ihr Denken nicht diskreditiert werden», sagt sie.

Roig möchte die Liebe revolutionieren. Sie schreibt auch in «Lieben», welche Beziehungen schädlich seien und welche es aufzuwerten gelte. Sie klingt nicht nur radikal, sondern auch bevormundend. Dabei spricht sich Roig eigentlich gegen eine Hierarchisierung von Liebesbeziehungen aus, zu denen sie auch die Liebe zu Tieren und zur Natur oder jene zwischen Freunden zählt.

Im Gespräch ist Roig weniger konfrontativ und zeigt Verständnis für Vorbehalte. Sie wolle niemandem etwas vorschreiben, sagt sie. Sie zeige bloss auf, «wie Beziehungen in einem System der Ungleichheit verankert sind». Sie sei auch nicht «gegen Heterosexualität an sich»: «Ich kann mich morgen in einen Mann verlieben.»

Für unterschätzt hält Roig Freundschaften. In diese spiele kein sexuelles Begehren hinein, und also seien sie von Machtdynamiken befreit. Sie selber hat allerdings keine männlichen Freunde, wie sie bekennt. «Freundschaften haben in einer patriarchalen Welt etwas Subversives», sagt sie. Da sie nicht vertraglich geregelt sind, bedeuteten sie Freiheit. Sie hätten das Potenzial, die Gesellschaft zu erneuern. Etwa durch gegenseitige Fürsorge in Notsituationen. «Je dezentraler die Liebe ist, desto gesünder kann jede einzelne Beziehung sein.»

Solche Gedanken kommen an in einem linken Milieu, das der «heteronormativen» romantischen Beziehung immer skeptischer gegenübersteht. Junge Frauen bekunden öffentlich ihre Unlust, überhaupt noch Männer zu daten. Wenn man sich einlässt, dann unverbindlich. Sex geht auch ohne Gefühle. Oder man lebt polyamourös.

Deshalb klingt es stereotyp, die Realität verkennend und auch anachronistisch, wenn Roig behauptet: Weil die weibliche Sexualität so lange unterdrückt worden sei, würden sich Frauen immer noch für ihr Begehren schämen und sich schuldig fühlen.

«Antisemitismus von rechts ist gefährlicher»

Roig exponiert sich mit ihrer Meinung zu Israel. Nach dem 7. Oktober scheuten sich viele linke Feministinnen, die sexuelle Gewalt an Israelinnen am 7. Oktober klar zu verurteilen. Nun hat sie den sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit öffentlich gemacht, auch deshalb, weil Opfern oft nicht geglaubt wird, wie sie in ihrer eigenen Familie erfuhr. Was sagt sie zum Schweigen der Feministinnen?

Sie habe die Vergewaltigungen durch die Hamas verurteilt, antwortet Roig: «Man muss den Frauen glauben.» Doch sogleich schickt sie eine Relativierung hinterher. Wenn Gewalt gegen Frauen von Männern «aus einem bestimmten Kulturkreis» ausgeübt werde, werde sie instrumentalisiert. «Man muss auch auf die sexualisierte Gewalt an Soldatinnen innerhalb der IDF hinweisen oder gegenüber palästinensischen Gefangenen.» Es werde bei diesem Thema zweierlei Mass angewendet, sagt sie – und impliziert mit der Gleichsetzung, dass in den IDF und in israelischen Gefängnissen systematisch Frauen vergewaltigt und verstümmelt würden.

Ist es nicht entlarvend, dass ein Teil der Linken die israelische Regierung und den Gaza-Krieg verurteilt, aber den Terror der Hamas verharmlost oder verschweigt?

«Das würde ich komplett bestreiten. Wir reden die ganze Zeit darüber, wie grausam und barbarisch die Hamas ist. Kaum je wird erwähnt, wie viele Zivilisten in diesem Krieg umkommen, dass Abertausende von Kindern getötet werden. Das ist durch nichts zu rechtfertigen, so wenig, wie die Taten der Hamas zu entschuldigen sind.»

Natürlich gebe es in Deutschland auch einen arabischen und muslimischen Antisemitismus. Für gefährlicher hält sie aber den Judenhass von rechts, etwa von Politikern der AfD, «die über viel mehr politische und wirtschaftliche Macht verfügen als die Jungen aus der Sonnenallee in Neukölln». Dass Drohungen und Gewalt gegen Juden von dieser Seite spürbarer geworden sind seit dem 7. Oktober, spart sie aus.

Ein Hang zum Spirituellen

Sowieso möchte Roig lieber über ihr Buch reden, in dem sie früh den Satz formuliert: «Aktivismus ist Liebe.» Jeder Bewegung für soziale Gerechtigkeit oder die Umwelt liege diese Motivation zugrunde: dass man nämlich jedem und allem mit derselben Empathie begegnen sollte, dass uns über alle Differenzen hinweg das Menschsein miteinander verbindet und wir «Teil eines grösseren Ganzen» sind.

Roig beschreibt, wie der Tod ihres zweiten Kindes kurz nach der Geburt ihren Blick auf die Welt verändert habe, nicht politisch oder ideologisch, sondern sie nennt es «ein spirituelles Erwachen».

Da spürt man eine Verletzlichkeit und ihr Bedürfnis, dem Erlebten eine Bedeutung zu geben. Sie schildert tiefe Naturerlebnisse, Offenbarungen während psychedelischer Trips und ihren Glauben an Astrologie, die ihr zu Selbstakzeptanz verholfen habe. Nun geht es weniger um den Kampf für eine gemeinsame grössere Sache als um die Hinwendung zu sich selbst. Dabei hat Roig keine Angst, als Esoterikerin zu gelten.

Denn harte Wissenschaft und Metaphysik schliessen sich für sie nicht gegenseitig aus. Bevor man sich aber wundert über die Zwiesprache mit Bäumen, Eseln und Sternen, ist wieder von der «paternalistischen Vorstellung der Natur» die Rede, dass der Mensch im Kapitalismus sich der Natur bemächtigt habe, von deren «Dekolonialisierung» und von «Ökofaschismus». Für ihre Leserinnen sind auch dies magische Worte.

Emilia Roig: Lieben. Hanser-Verlag, Berlin 2024. 128 S., Fr. 29.90.

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