Montag, September 30

Die Titel des Spezialchemiekonzerns zählten zu den Überfliegern am Schweizer Aktienmarkt, seit drei Jahren hinken sie ihm nun aber hinterher. The Market geht der Frage nach, was es braucht, um einen neuen Höhenflug auszulösen.

Aus Sicht von Chartanalysten haben sich die Aktien von Ems-Chemie mustergültig verhalten. Im Zuge einer steilen Aufwärtsbewegung erreichten sie Mitte August 2021 ein Hoch von 1033 Fr. Nach einem vorübergehenden Taucher unter 900 Fr. stiegen sie dann bis Anfang 2022 auf 1038 Fr. Auf die Weise formte sich ein sogenanntes Doppeltop, auf das eine starke Kurskorrektur folgte.

Auf einem Niveau um 600 Fr. konnten die Aktien einen Boden ausbilden. Seit letztem Herbst haben sie zugelegt, auch wenn sie jüngst wieder Mühe hatten, dem breiten Schweizer Aktienmarkt zu folgen.

Es lassen sich zwei hauptsächliche Erklärungen finden, weshalb die Aktien von Ems-Chemie sich in den letzten drei Jahren – seit dem ersten Hoch im August 2021 – deutlich schlechter entwickelt haben als der Markt. Die erste betrifft die Bewertung.

Hohe Bewertung als Bumerang

Die langjährige Tiefzinspolitik der Notenbanken trieb die Aktienbewertungen nach oben. Voran die Preise von Qualitätsaktien stiegen auf nicht nachhaltige Höhen: Zu dieser Kategorie zählen die Papiere von Ems-Chemie. Nach den Konsensdaten von Bloomberg wurden sie Ende 2020 und dann im August 2021 zu einem vorwärtsgerichteten Kurs-Gewinn-Verhältnis von mehr als 40 gehandelt. Anfang 2022 lag es erneut bei fast 40.

Als die Notenbanken inflationsbedingt die Wende einläuteten und die Zinsen erhöhten, begannen die Aktienbewertungen zu sinken. Ems-Chemie wird an der Börse heute noch zum 30-Fachen des geschätzten Gewinns für 2025 gehandelt.

Der Bewertungsrückgang erklärt zu einem grossen Teil, weshalb der Aktienkurs von Ems-Chemie seit dem Hoch um mehr als 35% gesunken ist. Ein zweiter Grund für die schlechte Performance findet sich im Marktumfeld, im Besonderen in der Entwicklung des Automobilmarktes. In ihm macht das auf Hochleistungspolymere und Spezialchemikalien fokussierte Unternehmen rund 60% seines Umsatzes.

Automarkt enttäuscht seit Jahren

Die weltweite Automobilproduktion erreichte 2017 ihr Hoch. Damals wurden 97,3 Millionen PW und Nutzfahrzeuge gefertigt. Im Covid-Jahr 2020 waren es noch 77,6 Millionen oder ein Fünftel weniger. Seither ist dieser Wert wieder gestiegen, bis auf 93,5 Millionen im zurückliegenden Jahr.

Für dieses Jahr bleiben die Erwartungen verhalten. Jüngst wurden die Prognosen für die weltweite Autoproduktion in der zweiten Jahreshälfte nach unten korrigiert, in Europa herrscht diesbezüglich Depression. Dementsprechend erwartet zum Beispiel AMS Osram, die gut die Hälfte des Umsatzes im Autosektor erwirtschaftet, dass im Halbleitergeschäft die Nachfrage nach Automobilprodukten schwächer wird.

Die Ems-Gruppe selbst hat sich im Juli veranlasst gesehen, ihr Ziel für 2024 zu reduzieren: Der Umsatz soll statt auf Vorjahreshöhe nun «leicht unter Vorjahr» ausfallen.

Unsicherheit belastet Nachfrage

Marktbeobachter führen die seit Jahren schleppende Entwicklung des Automarktes auch auf die Verunsicherung von Produzenten und Konsumenten zurück. Ein Grund dafür seien die Diskussionen um den Kraftstoffverbrauch der Autos – angeheizt noch durch den Skandal um die Manipulationen, mit denen Volkswagen die Grenzwerte für Autoabgase zu umgehen versuchte.

Diese Abgasaffäre löste nach der Aufdeckung in den USA 2015 eine weitreichende Krise in der Automobilindustrie aus. Dadurch habe sich der Fokus der Autohersteller verschoben und sei weniger als zuvor auf breite Innovationen gerichtet, sagt Marc Possa, Manager des Fonds SaraSelect.

Die Energiewende und ihre Folgen haben auch die Stimmung der Konsumenten beeinträchtigt. Die Europäische Union (EU) hat das Aus für neue Verbrenner ab 2035 beschlossen. Die Hersteller fokussierten sich auf die Entwicklung von Elektroautos – inzwischen ist die Euphorie darüber abgeflaut. Die Nachfrage nach Elektroautos harzt, und mehr und mehr Stimmen sprechen von einem Comeback des Verbrenners.

Für Possa ist klar, dass das Hin und Her im Markt und der schleppende Verkauf von Autos «an Ems-Chemie nicht spurlos vorübergegangen sind».

In den Zahlen des Unternehmens zeigt sich der Einfluss des Automarktes bedingt. Der Umsatz der Ems-Gruppe hat nach 2017, im Gegensatz zur globalen Automobilproduktion, weitere Hochs erreicht. Der bisherige Rekordwert datiert von 2022, als das Unternehmen 2,44 Mrd. Fr. umsetzte.

Eine Eigenheit

Im letzten Jahr aber musste Ems einen Umsatzrückgang um 10,4% auf 2,19 Mrd. Fr. hinnehmen. Gründe dafür waren in der allgemeinen Zurückhaltung der Konsumenten und Unternehmen zu suchen. In Deutschland, dem wichtigsten europäischen Industrieland und mit einem Umsatzanteil von einem Fünftel auch der grösste Ländermarkt von Ems, brach die verarbeitende Industrie regelrecht ein.

Dazu schmälerten, wie gewohnt, schwächere Fremdwährungen den Umsatz in Franken deutlich. Diese negativen Währungseffekte schlagen sich auf der Stufe des Betriebsergebnisses (Ebit) deutlich nieder, was sich mit einer Eigenheit der Ems-Gruppe erklärt.

Meist streben Unternehmen eine natürliche Absicherung gegen Währungsrisiken an, indem sie soweit möglich dort produzieren und Kosten anfallen lassen, wo sie ihre Umsätze erzielen. Ems hat sich entschieden, zu einem grossen Teil in der Schweiz, am Werkplatz Domat/Ems, zu produzieren. Das hat neben Nachteilen auch Vorteile: So profitiert das Unternehmen nicht nur von tieferen Steuern und dem Patentschutz, sondern auch vom guten Ausbildungsniveau sowie dem hohen Qualitätsbewusstsein in der Schweiz.

Die Faktoren hinter dem Erfolg

Eine hohe Qualität in allen Belangen ist denn auch das, was Ems charakterisiert. Dass sich das Unternehmen trotz der seit längerem enttäuschenden Entwicklung des Automarktes, allgemein schwierigen Konjunkturbedingungen und ungünstigen Wechselkurseffekten so gut behaupten und sehr hohe Ebit-Margen von konstant über 20% erzielen kann, liegt an seinem speziellen Geschäftsmodell, seiner Innovationskraft sowie der aussergewöhnlichen Unternehmenskultur und -führung.

Ems hat Hochleistungskunststoffe für anspruchsvolle technische Anwendungen als Kerngeschäft definiert: 2023 steuerte der Bereich Hochleistungspolymere 91% zum Umsatz und 95% zum Ebit der Gruppe bei, der Rest entfiel auf Spezialchemikalien.

Chemiegiganten wie Dow Chemicals oder BASF stellen ebenfalls Hochleistungspolymere her, in grossen Mengen. Die Ems-Gruppe verfolgt eine andere Strategie, so Fondsmanager Possa: «Sie hat den Willen zur Fokussierung.» Sie sei nicht darauf ausgerichtet, möglichst grosse Volumen zu produzieren. Der Fokus von Ems richte sich vielmehr darauf, eine hohe Profitabilität zu erzielen.

Auf den Kunden zugehen

Die Hochleistungskunststoffe von Ems dienen insbesondere auch zur Gewichtsreduktion: Es ist ein gängiger Trend, in der Autoproduktion wo möglich Stahl durch leichtere Polymere zu substituieren. Durch die Beimischung von Additiven lässt sich den Werkstoffen und damit den Endprodukten auch gewünschte Eigenschaften wie eine spezifische Steifigkeit, eine gute Kratzfestigkeit oder einen hohen Glanz mitgeben.

Wie Possa erläutert, «versteht sich das Unternehmen sehr gut darauf, über Innovationen für seine Kunden Mehrwert zu schaffen.» Zu dem Zweck gehen die Ingenieure von Ems zu den Kunden, hören sich ihre Bedürfnisse an und unterbreiten Verbesserungsvorschläge. Danach werden auf dem Werkplatz Domat/Ems Pilotanlagen errichtet, auf denen man Produktbestandteile des Kunden mit den spezifischen Polymeren testweise herstellt. Am Ende fertigen die Kunden die betreffenden Bestandteile selbst, während Ems das benötigte Granulat liefert.

Expansion in China und USA

Ems schafft es, sukzessive Marktanteile zu gewinnen. Dies lässt sich grundsätzlich auf zwei Wege erreichen: Der erste besteht darin, anderen Anbietern von Polymeren Marktanteile abzuknöpfen. Ems zielt aber vielmehr darauf ab, über die Substitution anderer Werkstoffe durch Polymere ihr Geschäft auszubauen: Das Unternehmen muss daher strategisch definieren, welche Marktsegmente es angehen will.

In geografischer Hinsicht sieht Ems (Umsatzanteil in Europa: 52%) Wachstumschancen vorab in China sowie den USA: Die Expansion verläuft zwar nicht gradlinig, und in beiden Ländern sank der Verkauf zuletzt ebenfalls. Doch während in Europa insgesamt der Umsatz von 2018 bis 2023 um mehr als 12% sank, stieg er in China fast 12%, wodurch sich der Anteil am Gruppenumsatz von 14,1 auf 16,7% ausdehnte. Ems bemüht sich insbesondere darum, mit ihren Polymeren Eingang in neue Elektromodelle der Autohersteller zu finden.

In den USA ist in den vergangenen fünf Jahren derweil der Umsatz mehr als 8% gestiegen, womit sich der Umsatzanteil der Region von 11,2 auf 12,9% erhöhte. Nach Meinung von Fondsmanager Possa müsste Ems davon profitieren können, dass der US-Automobilbau dem in Europa technologisch hinterherhinke und noch viel Verbesserungspotenzial aufweise.

Unrast als Antreiber

Ein entscheidender Erfolgsfaktor von Ems ist die Unternehmenskultur: Sie ist geprägt von einem unternehmerischen Denken und, so Possa, «von einer Unrast, die sich darin ausdrückt, sich immer zu hinterfragen». Dieses Umfeld schafft die Voraussetzung für die hohe Innovationskraft und fördert das Bestreben, sich ständig zu verbessern und die Effizienz zu steigern.

Verkörpert wird diese Kultur von der Unternehmensführung Magdalena Martullo-Blocher, in Personalunion CEO, Vizepräsidentin des Verwaltungsrats und mit einem persönlichen Anteil von fast 50% die dominante Aktionärin von Ems. Sie hat auch als SVP-Nationalrätin kein Problem, unbequeme Ansichten unverblümt zu äussern und gilt als sehr fordernd. Eine der Anekdoten über sie besagt, dass Kaderleute selbst in den Ferien auf einen Anruf von ihr innerhalb einer Stunde zurückrufen müssten.

Eine Grossinvestition

Als Unternehmerin und Miteigentümerin steht Martullo, anders als manch kurzfristig orientierter Manager, für ein betont langfristiges Denken. Das bewies sie etwa im Jahr 2021, als sie in einem unsicheren Marktumfeld ein grosses Investitionsprogramm von über 300 Mio. Fr. am Hauptstandort Domat/Ems ankündigte, um das erwartete überproportionale Wachstum bewältigen zu können.

Mit dem Unternehmen ist also alles in bester Ordnung. Der letztgültige Beweis dafür ist die Fähigkeit, frei verfügbare Mittel zu generieren: Der freie Cashflow lag nach Bloomberg in den acht Jahren von 2016 bis 2023 im Durchschnitt bei 420 Mio. Fr. oder hohen 19,4% des Umsatzes.

Was braucht es aber, damit die Aktien von Ems-Chemie zu einem neuen Höhenflug ansetzen? Die Anleger sollten nicht einfach darauf setzen, dass die Bewertung dieses Mid Cap alte Höhen erreicht und das vorwärtsgerichtete Kurs-Gewinn-Verhältnis wieder auf 40 und darüber steigt.

Keine Angst vor der R-Frage

Damit bleibt als Kurstreiber das Gewinnwachstum. Ems ist dank ihrem Investitionsprogramm gerüstet, auch künftig mit neuen Projekten Marktanteile gewinnen und überproportional wachsen zu können. Bei aller Exzellenz kann sich das Unternehmen schwächelnden Märkten aber nicht entziehen: Auch über Ems schwebt die Frage, ob es eine Rezession geben wird – und ob der Aktienkurs das Tief in diesem Zyklus schon gesehen hat.

Langjährige Aktionärinnen und Aktionäre von Ems-Chemie brauchen darüber nicht beunruhigt zu sein. Das Unternehmen hat ungewöhnlich hohe Liquiditätsbestände (Nettocash-Position von 454 Mio. Fr. per Ende 2023) und wird aus jeder Krise gestärkt hervorgehen. Auch in schwierigen Jahren wird eine Dividende gezahlt, wobei die Ausschüttung ergebnisorientiert ist und daher Schwankungen unterliegt.

Aus Sicht von The Market eignen sich die Titel von Ems-Chemie aufgrund der Eigenschaften und Stärken des Unternehmens als ein Eckpfeiler in einem diversifizierten Schweizer Aktienportfolio.

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