In ihrem Schlussbericht macht die PUK erleichterte Kapitalanforderungen der Finma an die Credit Suisse mitverantwortlich für den Untergang der Bank. Recherchen zeigen, wie spät die PUK auf diese stiess.
Im März 2024 erhält Tidjane Thiam Briefpost aus Bern. Absender: das Sekretariat der parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK). Inhalt: ein Fragebogen zu Thiams fast sechs Jahren an der operativen Spitze der früheren Grossbank Credit Suisse (CS).
Laut dem Sprecher von Thiam wollte die PUK wissen, wie er sich in seiner Amtszeit zwischen Juli 2015 und Februar 2020 mit dem Bundesrat, der Finanzmarktaufsicht (Finma) und der Schweizerischen Nationalbank (SNB) austauschte und wie die Zusammenarbeit mit Regulatoren anderer Länder war. Gefragt wurde auch nach den zahlreichen Aufforderungen («calls») der Finma, die Bank zu restrukturieren. Allerdings: Für ein mündliches Interview wird Thiam nicht eingeladen. Laut seinem Sprecher wäre Thiam «sehr glücklich» gewesen, persönlich Stellung nehmen zu können. Die schriftlich verlangten Antworten habe er dann wie verlangt ans PUK-Sekretariat geschickt.
Thiam war nur einer der zentralen Auskunftspersonen zu den letzten Jahren der CS als eigenständige Grossbank, die entweder nur schriftlich oder gar nicht befragt wurden, wie Recherchen der «NZZ am Sonntag» zeigen. Die Zeitung unterhielt sich mit einem guten Dutzend von Insidern. Keiner will mit Namen genannt werden.
Das Vorgehen der PUK, zentrale Exponenten der CS, aber teilweise auch der Behörden nur schriftlich oder gar nicht zu befragen, wirft Fragen auf. Das zeigt sich eindrücklich am Beispiel der erleichterten Kapitalanforderungen aus dem Jahr 2017.
Keine einzige Frage zum Filter
Zur Erinnerung: Im Jahr 2017 gewährte die Finma der CS erleichterte Kapitalanforderungen als Rampe für den Übergang zu einem härteren Kapitalregime. Teil des Pakets war der regulatorische Filter, der es der CS ermöglichte, auch nach 2019 zur Berechnung der Eigenkapitalquote des Stammhauses in der Schweiz die bisher angewandte Bewertungsmethode für ihre Tochterfirmen beizubehalten. Das führte dazu, dass diese Stammhaus-Quote bereits für das Jahr 2019 ein 8 Milliarden höheres Eigenkapital auswies als ohne den Filter. Dieser Filter, zu diesem Schluss kam der PUK-Bericht, habe mit dazu beigetragen, dass die Schieflage der CS nicht mehr zu korrigieren war und der Handlungsspielraum der Behörden in der Krisenbewältigung teilweise beschränkt war.
Allerdings wurde der Experte für den Filter aufseiten der CS, David Mathers, von der PUK nicht einmal für eine schriftliche Stellungnahme angegangen, wie Insider bestätigen. Der langjährige CS-Finanzchef kannte als einziger die Zahlen der Grossbank in- und auswendig und diskutierte mit der Finma in Bern. Ebenfalls nicht angefragt wurde ein weiterer zentraler Finanzexperte der CS, der die Lage exakt kannte. Aber auch aufseiten der Finma wurden Spezialisten teilweise einzig schriftlich befragt. Ein Insider erinnert sich, dass im Fragebogen keine einzige Frage zum Filter gestellt wurde. Ein mündlich befragter Insider einer anderen Behörde betont, dass die erleichterten Kapitalanforderungen kein grosses Thema waren in den Befragungen.
Warum befragte die PUK wichtige Personen nicht vertieft oder gar nicht zu diesem im Schlussbericht dermassen zentralen Thema? Zunächst verantwortlich ist dafür die vertrackte Ausgangslage. Denn der Auftrag an die PUK war eng gefasst: Sie sollte das Zusammenspiel der involvierten staatlichen Behörden rund um den Untergang der CS untersuchen. Nicht Teil des PUK-Auftrags war eine Aufarbeitung der Vorgänge innerhalb der Bank.
Der heiklen Situation bewusst
Nur: In der Praxis erwies es sich als schwer, die richtige Balance zu finden. Denn die Interaktion der Behörden rund um die CS-Krise konnte die PUK nur dann beurteilen, wenn sie sich auch vertieft Einblick in die Vorgänge innerhalb der Bank vor ihrem Untergang verschaffte.
Die PUK-Mitglieder, die im Sommer 2023 mit der Arbeit loslegten, waren sich der heiklen Situation bewusst. Während das permanente PUK-Sekretariat von Behörden wie Finma, SNB und Eidgenössischem Finanzdepartement (EFD) umfassende Mengen an Unterlagen und nicht öffentlich zugänglichen Dokumenten anforderte, sammelte die PUK zusätzlich auch relativ breit Informationen zu den Vorgängen in der untergegangenen CS. Laut der PUK-Präsidentin Isabelle Chassot konnte die PUK hier auch auf die Unterstützung der UBS als neue Besitzerin der CS zählen.
Die Stimmung in der PUK sei gut und konstruktiv gewesen, ist zu hören, auch waren sich die Mitglieder einig, dass der Schlussbericht einstimmig verabschiedet werden musste. Die Kommunikation erfolgte mehrheitlich auf Deutsch. Laut Insidern waren nicht alle Mitglieder gleich aktiv, die Arbeit der PUK hätten vor allem die Präsidentin Isabelle Chassot (Mitte, Freiburg), Roger Nordmann (SP, Waadt), Thomas Matter (SVP, Zürich), Matthias Michel (FDP, Zug), Werner Salzmann (SVP, Bern), Heidi Z’graggen (Mitte, Uri), Maya Graf (Grüne, Basel), aber auch die Vizepräsidentin Franziska Ryser (Grüne, St. Gallen) vorangetrieben.
Bereits im Oktober 2023 starteten die ersten mündlichen Befragungen. Allerdings hatten die PUK-Mitglieder die riesige Menge an Dokumenten, die sich letztlich auf über 30 000 Unterlagen aufsummieren sollte, noch nicht studiert. Laut Insidern zeigte sich dieser Mangel an Fachwissen bei den Befragungen, so habe die PUK sehr breit gefasste und sehr allgemeine Fragen gestellt.
Tatsächlich gab es in der PUK nur einen Bankfachmann. Der SVP-Politiker Thomas Matter, der heute eine eigene kleine Bank führt, startete seine Karriere mit einer Banklehre bei der UBS, später holte ihn der heutige UBS-Chef Sergio Ermotti zur amerikanischen Investmentbank Merrill Lynch nach London und New York.
Erschwerend kam hinzu, dass die PUK gutschweizerisch im Milizsystem arbeitete, sprich die Arbeit neben den sonstigen Tätigkeiten erledigt werden musste. Der Anreiz war sicher nicht finanziell: Ein Kommissionsmitglied, das nach eigener Schätzung selber bis zu 40 Prozent der Arbeitszeit für die PUK aufgewendet hat, rechnet mit einer Entschädigung von total 20 000 Franken. Laut der Präsidentin Chassot werden den PUK-Mitgliedern die üblichen Taggelder für die Sitzungsteilnahme vergütet. Insgesamt sei das Budget für die PUK auf 5 Millionen Franken festgelegt worden, dieser Betrag werde nicht ausgeschöpft.
Die riesige Menge an Informationen allein zu den Zahlen der CS brachte die Mitglieder an ihre Grenzen – und teilweise wohl auch darüber hinaus. Auf den regulatorischen Filter stiess Thomas Matter erst im Laufe des Sommers 2024, also ein Jahr, nachdem die PUK ihre Arbeit aufgenommen hatte. Und begann zu recherchieren.
Tatsächlich hatte die Finma die erleichterten Kapitalanforderungen im Jahr 2017 öffentlich gemacht. Der Filter aber blieb lange unter dem öffentlichen Radar, so wurde er wohl erstmals in einem CS-Formular an die US-Aufsichtsbehörde SEC anhand der Zahlen 2018 erwähnt, ab 2019 wies ihn die CS quartalsweise kurz aus. Erstmals schrieb ein Analyst in einem nicht öffentlichen Bericht im Juli 2021 darüber. Der Lessons-Learned-Bericht der Finma von Ende 2023 merkte an, dass die Auswirkungen betreffend die Anwendung des regulatorischen Filters von der CS ja quartalsweise offengelegt werden mussten – und den Investoren somit bekannt waren.
Plötzlich erhielt der Filter ein grosses Gewicht
Aus der PUK ist zu hören, dass weder die CS noch die Finma in den Gesprächen gross auf den Filter hinwiesen, Matter und Nordmann hätten auch deshalb erst spät dessen mögliche Tragweite verstanden. Ab Herbst 2024 kam es dann zur Feuerwehrübung in der PUK. Die Uhr tickte, der Bericht sollte bis Ende Jahr publiziert werden. Befragte, die teilweise keine Frage zum Filter beantwortet hatten, waren überrascht, als sie bei der Durchsicht ihrer Aussagen sahen, wie viel Gewicht dem Thema nun beigemessen wurde.
Nun wurde offenbar der frühere Finma-Direktor Mark Branson, unter dessen Ära der Filter vergeben wurde, noch einmal zu einer Befragung spezifisch zu diesem Thema eingeladen, sagen Insider. Sie erklären, dass Branson wohl angeführt habe, dass die UBS und CS ohne den Filter ungleich behandelt worden wären, da die UBS von der Erlaubnis der britischen Behörden profitierte, eine Zweigniederlassung in London zu betreiben, was der CS nicht erlaubt worden war. Auch sei das Kapital in der CS-Gruppe stets vorhanden gewesen, einfach nicht im Stammhaus in der Schweiz. Und weiter, dass die knappe Kapitalsituation des Stammhauses seit Jahren Dauerthema in der Finma gewesen sei. Branson selbst nimmt keine Stellung.
Viele PUK-Mitglieder seien in jenem Herbst schon überzeugt gewesen, dass die Finma der CS den Filter nicht hätte gewähren sollen, sagt ein Insider. Die PUK habe ausgerechnet, dass die CS die 8 Milliarden Franken stattdessen hätte am Kapitalmarkt aufnehmen können, was es der Bank dann ermöglicht hätte, im Sommer 2022 den Verkauf der Investmentbank aus eigener Kraft zu stemmen. Das war ihr bekanntermassen wegen der tiefen Kapitalisierung des Stammhauses nicht mehr möglich. Über diese Frage sind sich die Experten bis heute uneinig, Kritiker bezeichnen das Gedankenspiel, wie sich die CS ohne Filter entwickelt hätte, als reine Spekulation.
In jenem Herbst 2024 wurde auch die Präsidentin Marlene Amstad noch einmal explizit zum Thema befragt. Die Finma bestätigt das indirekt und erklärt, dass die jeweils involvierten Personen der Finma der PUK jederzeit zur Verfügung gestanden seien, intensiv Fragen beantwortet und Dokumente geliefert hätten, auch zum regulatorischen Filter. Sie verweist zudem darauf, dass Amstad vor der PUK erklärte, nicht ausreichend über die Existenz und die Folgen des regulatorischen Filters informiert worden zu sein.
Nordmann wollte Bericht verschieben
Isabelle Chassot bestreitet auf Anfrage, dass in der PUK eine «Feuerwehrübung» stattgefunden habe, und betont, dass der Filter «ausgesprochen breit und tief abgehandelt» worden sei. Die Kommission habe sich vor allem für die Umstände und Hintergründe des Entscheids seitens der Behörden sowie die Wirkung des Filters interessiert. Deshalb seien auch zwei externe Aufträge vergeben worden.
Allerdings sind sich auch die Gutachter nicht einig – Urs Birchler, Professor für Banking, sieht den Filter ausserordentlich kritisch, die Wirtschaftsrechtsprofessorin Corinne Zellweger-Gutknecht dagegen erachtet ihn als aus damaliger Sicht geeignet für die Zielerreichung. Wegen der divergierenden Aussagen wollte Roger Nordmann die Publikation des PUK-Berichts verschieben, heisst es. Dagegen wehrten sich offenbar andere PUK-Mitglieder.
Chassot betont, dass sich die beiden Experten nicht widersprechen würden. Birchler hätte einen ökonomischen, Zellweger-Gutknecht einen juristischen Fokus, beide wiesen auf ein mögliches Dilemma der Finma hin. «Naturgemäss konnten nicht ganz alle Fragen zum Filter geklärt werden, trotz den umfassenden Abhandlungen», so Chassot, doch habe die PUK alle Anhörungen durchgeführt, die sie brauchte, um ihr Mandat zu erfüllen.
Allerdings sind auch nach der Untersuchung der PUK viele Fragen zur Geschäftsführung der früheren CS und zu den erleichterten Kapitalanforderungen offen. Selbst PUK-Mitglieder äussern hinter vorgehaltener Hand, dass es wichtig wäre, mit einer weiteren Untersuchung auch die Verantwortung des CS-Managements aufzuarbeiten. Eine solche müsse dann auch den Einbezug aller zentralen Personen umfassen.