Donnerstag, Mai 8

Seit Jahresbeginn brauchen Kosovaren kein Visum mehr für den Schengen-Raum. Der überfällige Schritt beschert Reiseunternehmen einen Boom, facht aber auch die Debatte über die massenhafte Auswanderung an.

Adem und seine beiden Freunde rauchen noch eine Zigarette, bevor sie am Busbahnhof von Pristina in den Reisecar steigen. Die jungen Männer fahren für das Wochenende aus Kosovos Hauptstadt nach Thessaloniki. «Gut essen, einkaufen und ein bisschen feiern», fasst Adem seine Pläne für den Kurztrip nach Griechenland zusammen.

Seit Jahren ein Reizthema

Die Grossstadtluft und das mediterrane Lebensgefühl von Griechenlands nördlicher Metropole sind nur vier Stunden Fahrt entfernt. Ein Retourbillett ist für weniger als 30 Euro zu haben. Trotzdem war eine Reise nach Thessaloniki für die Bürger des jüngsten Staates Europas bis vor kurzem mit grossen Umtrieben verbunden – wenn sie überhaupt möglich war. Denn wie für jedes andere Schengen-Land brauchten Kosovaren für Griechenland ein Visum.

Die Reisefreiheit war während Jahren ein Reizthema in Kosovo. In praktisch jeder Unterhaltung über Europa kam es zur Sprache. Dass man als letztes Land auf dem Balkan noch ein Schengen-Visum brauchte, wurde als brennende Ungerechtigkeit empfunden.

Tatsächlich erfüllt das Land die Bedingungen für die Visafreiheit schon seit 2018. Weshalb die knapp zwei Millionen Kosovaren eine grössere migrationspolitische Herausforderung darstellen sollten als die mehr als 40 Millionen Einwohner der Ukrainer, konnte sowieso niemand verstehen. Für die Ukraine war die Visumspflicht bereits 2017 abgeschafft worden, für die Länder des westlichen Balkans sogar schon 2009 – mit der Ausnahme Kosovos.

Städtetrip nach Griechenland, Skiferien in Bulgarien

Seit dem 1. Januar dürfen nun endlich auch die Kosovaren frei reisen. Vom neuen Recht machen sie rege Gebrauch. Griechenland steht hoch im Kurs. Eine Million Euro geben kosovarische Touristen laut einem Unternehmerverband jedes Wochenende in dem Land aus.

Auch Bulgarien ist populär. Statt in die Berge von Brezovica im Süden Kosovos fuhren Wintersportler dieses Jahr lieber nach Bansko, in das grösste Skigebiet des Balkans. «Und wer sich längere Reisen leisten kann, fliegt nach Italien oder Spanien», sagt Jeton Sahiti, der in Ferizaj in der Nähe von Pristina ein Reisebüro betreibt. Bisher waren die Türkei und Montenegro die einzigen klassischen Ferienländer, die ohne Visum erreichbar waren.

Er verkaufe auch viel mehr Flugtickets ohne Hotelbuchung, sagt Sahiti. «Das sind vor allem Verwandtschaftsbesuche.» Praktisch jede kosovarische Familie hat Angehörige im Ausland, besonders in den deutschsprachigen Ländern. Mehr als eine halbe Million Menschen mit Wurzeln in Kosovo leben in Deutschland. In der Schweiz sind es ungefähr 250 000.

Traditionellerweise besucht die Diaspora im Sommer die Heimat. Doch dieses Jahr gehe es auch in die andere Richtung, sagt Sahiti. «Es gibt viele Menschen, die noch nie gesehen haben, wie ihre Kinder oder Enkel in der Ferne leben. Nun lässt sich das leichter nachholen.»

Keine Perspektiven in Kosovo

Zumindest aus westlicher Sicht standen in der Debatte um die Visumspflicht freilich nicht Ferienreisen und Verwandtschaftsbesuche im Vordergrund, sondern Fragen von Grenzsicherheit, Korruptionsbekämpfung und Emigration. Schliesslich ist Kosovo ein Auswanderungsland.

Zwischen 2012 und 2022 ist fast ein Fünftel der Bevölkerung ausgewandert. Allein im letzten Jahr haben 40 000 Personen das Land verlassen. 28 Prozent der über 18-Jährigen, die im Land leben, tragen sich laut einer Studie mit dem Gedanken.

Astrit Hashani ist einer von ihnen. Der 37-jährige Familienvater hat als Hilfskoch auf einer amerikanischen Militärbasis in Afghanistan gearbeitet und in Deutschland im Gerüstbau. Vom ersparten Geld hat er sich in seiner Heimatstadt Ferizaj eine Wohnung gekauft. Trotzdem möchte er wieder fort, am liebsten nach Österreich, wo auch seine Schwester lebt.

«Für meine Kinder ist das der bessere Ort zum Aufwachsen. Nur schon wegen der Schule und der Gesundheitsversorgung», sagt Hashani. Und natürlich verdiene man dort viel besser. 2500 Euro könnte er in Linz auf dem Bau bekommen. In Kosovo liegt der Durchschnittslohn bei weniger als 600 Euro. «Das lohnt sich nicht. Da warte ich lieber auf eine Gelegenheit im Ausland.»

Das gelte für die meisten hier, sagt Hashani und zeigt auf die vielen Besucher des Cafés, in dem das Gespräch stattfindet. Die Annonce an der Eingangstür für eine neue Servicekraft bleibt bezeichnenderweise unbeachtet.

Zugang zum Arbeitsmarkt

«Wir können noch keine konkreten Aussagen zu den Auswirkungen der Reisefreiheit machen», sagt Blendi Hasaj vom Institut GAP in Pristina. Die Denkfabrik hat Ende letzten Jahres eine Studie zum Thema veröffentlicht. Dass Menschen in grosser Zahl nach Ablauf der 90 Tage im Schengen-Raum untertauchten, halte er wegen der Erfahrung aus anderen Staaten der Region für unwahrscheinlich. Auch aus Botschaftskreisen heisst es, dass es hierfür bis jetzt keine Anzeichen gebe.

Die Arbeitsmigration dürfte aber weiter zunehmen, vermutet Hasaj. Es sei viel einfacher, sich vor Ort eine Stelle zu suchen, um dann eine Arbeitserlaubnis zu beantragen. Den Effekt habe es bereits gegeben, als Albanien von der Visumspflicht befreit worden sei. «Und heute haben wir einen viel stärkeren Abwanderungsdruck als damals – und einen einfacheren Zugang zum Arbeitsmarkt im Westen.»

Solange sie über einen Vertrag mit einem Arbeitgeber in Deutschland verfügen, können sich Personen aus dem westlichen Balkan weitgehend unabhängig von ihrem Ausbildungsstand um ein deutsches Arbeitsvisum bewerben. Über ein ähnliches Verfahren in Österreich bewirbt sich der ehemalige Hilfskoch Hashani mit einer zugesicherten Stelle bei einer Baufirma um eine Arbeitserlaubnis.

Zweischneidiges Schwert

Die Reisefreiheit wirft ein Schlaglicht auf das Massenphänomen Auswanderung. Deren Auswirkungen seien für Kosovo viel grösser als für die Zielländer, sagt Artan Mustafa. «Kosovo hat die Grösse eines Istanbuler Stadtteils. Für Europa ist die Zuwanderung aus unserem Land kein Problem», erklärt der Sozialwissenschafter aus Pristina. «Die Frage ist, was es für uns bedeutet.»

Tatsächlich ist die Migration ein zweischneidiges Schwert für Kosovo. Die ökonomische Bedeutung der Diaspora ist gewaltig. Allein die Direktüberweisungen aus dem Ausland machen etwa 12 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Gleichzeitig verliert das Land jedes Jahr Zehntausende von Arbeitskräften, unter ihnen auch viele gut qualifizierte. Das hemmt die Entwicklung. Nicht nur das Café in Ferizaj sucht vergeblich nach neuen Angestellten.

Überall in Südosteuropa haben die traditionellen Auswanderungsländer mittlerweile selbst einen Arbeitskräftemangel, sogar das arme Kosovo. Eine nennenswerte Einwanderung, wie etwa in Kroatien, findet hier aber nicht statt. Die knapp 1000 Türken und 700 Bangalen, die 2023 als grösste Ausländergruppe eine Aufenthaltsbewilligung erhielten, können die 40 000 Einheimischen nicht ersetzen, die im gleichen Zeitraum das Land verlassen haben.

Bessere Löhne dank Visafreiheit?

Die Visafreiheit verschärfe das Problem, sagt der Gewerkschaftsführer Jusuf Azemi. «Schengen ist gut für den Einzelnen, aber schlecht für die Gesellschaft.» Es sei deshalb dringend notwendig, die Löhne zu erhöhen.

Azemis harsches Urteil über die Visafreiheit teilen die wenigsten in Kosovo. Dass die Emigration die Position von Arbeitnehmern stärkt, ist aber unbestritten. Schon im vergangenen Jahr habe es in vielen Branchen Lohnerhöhungen gegeben, sagt Blendi Hasaj vom Forschungsinstitut GAP. Ausserdem böten immer mehr Arbeitgeber Teilzeitbeschäftigung an. «Das ist ein wichtiger Schritt, um mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu bekommen.»

Hasaj macht sich aber keine Illusionen. Die Abwanderung wird stark bleiben. Die Diskrepanz der Löhne sei einfach zu gross. Ausserdem zögen die Menschen nicht nur wegen der Verdienstmöglichkeiten weg, sondern auch wegen der Lebensqualität im Allgemeinen.

Einen Beitrag zu deren Verbesserung leistet allerdings auch die Visafreiheit. «In den ersten Wochen nach Jahresbeginn sind vierzehn Personen aus meinem Team für einige Tage ins Ausland gefahren», sagt Hasaj. «Es ist toll, dass das endlich möglich ist!»

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