Donnerstag, Oktober 3

Mit seinem tragikomischen «Schwäbischen Capriccio» nimmt der lettische Vertriebene Anslavs Eglitis das Schwaben-Bashing der Berliner Republik vorweg.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs flüchtet ein Lette nach Schwaben. Nach mehrtägiger Zugfahrt in überfüllten Waggons steigt der Mann in eisiger Nacht spontan in «Pfifferlingen» auf der Schwäbischen Alb aus. Doch wo einkehren, fragt er sich launig – beim «Bären», beim «Adler» oder beim «Lamm»? Er entscheidet sich für den Gasthof «Zum Lamm», denn: «Vor dem Bären bin ich auf der Flucht, und Adler mag ich auch nicht.»

Peteris Drusts, so heisst der Fremde, ist nämlich vor den Sowjets aus Riga geflohen, um sich daraufhin aus den brennenden Trümmern Gross-Berlins zu retten. Nun erwartet den Junggesellen, die Hauptfigur von Anslavs Eglitis’ burlesk-bitterem «Schwäbischem Capriccio», Leerlauf: Für mehrere Jahre wird der Grossstädter als Displaced Person im Treibsand der schwäbischen Provinz feststecken.

Zerstörte Karriere

Die Vertreibungsgeschichte Drusts’ folgt im Wesentlichen der Lebenslinie seines Autors. Der 1906 geborene Anslavs Eglitis gehörte zur ersten Generation von Künstlern im unabhängigen Lettland, die, endlich von der baltendeutschen Adelsklasse befreit, das mondäne Riga der Zwischenkriegszeit als «Paris des Nordens» feierte. Die neuen lettischen Künstlerzirkel porträtierte der Sohn des symbolistischen Dichters Viktors Eglitis und Stiefsohn der Malerin Hilda Vika in seinem Erfolgsroman «Homo novus» (1943/44). Doch Hitler und Stalin machten seine vielversprechende Karriere zunichte und führten den Autor in ein südwestdeutsches «Liliputstädtchen».

«Schwäbisches Capriccio» konnte erst 1951 in den USA erscheinen – wo der Autor bis zu seinem Tod 1993 mit Romanen und Artikeln für Exilzeitschriften um sein Renommee rang.

Die Schwaben kommen in diesem Buch nicht gut weg. Die grosse Niederlage Deutschlands spiegelt sich im Kleinen, in der Bedeutungshuberei, der Habgier und Hoffart der Pfifferlingerinnen und Pfifferlinger wider. Da ist der Landsmann, der sich über ein beim Sturm auf sein Grundstück geflogenes Dach freut und es zu Brennholz zerkleinert, bevor er merkt, dass es sich um das Dach seines eigenen Hühnerstalls handelt. Oder der dicke Arzt, der sich bei Drusts für viele zusammengehamsterte Mahlzeiten endlich mit einem Festmahl revanchiert und vor Ärger über die verschwenderische Ausgabe fast platzt.

Mieslinge und Misanthropen

Selbst der Antifaschist, der nach dem Krieg einen einflussreichen Posten bekommt, ist ein Miesling. Hinter seinem Rücken versteckt seine Familie einen Nazi im Haus, und gerade als der Misanthrop Meldung bei der französischen Besatzungsbehörde machen will, trifft ihn der Schlag. Immerhin verhindert der listige Pfifferlinger Bürgermeister noch einen blutigen «Endkampf», indem er sich auf den «Führer» selbst beruft: «Aus der Anordnung geht nicht eindeutig hervor, ob wir bis zu unserem oder bis zu seinem letzten Atemzug kämpfen müssen.» Also ergibt man sich vierzehn Tage früher als das übrige Reich.

Gelegentlich kann Drusts die Einheimischen mit seiner Eloquenz übertölpeln. An die schöne Metzgerstochter Melusine, deren Finger so «weiss und zart wie (. . .) appetitliche, noch nicht geräucherte Würstchen» sind, kommt er allerdings nicht heran. Im echten Leben hatte Anslavs Eglitis eine lettische Ehefrau, die Malerin Viktoria Janelsina, die nicht nur im schwäbischen Tailfingen – Pfifferlingen ist eine Fiktion –, sondern auch in Los Angeles mit ihren Bildern tatkräftig für beider Überleben sorgte.

Anslavs Eglitis: Schwäbisches Capriccio. Aus dem Lettischen von Berthold Forssman. Guggolz-Verlag, Berlin 2024. 318 S., Fr. 37.90.

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