Dienstag, Oktober 8

Die deutsche Regierung hat sich ein Jahr vor der Bundestagswahl bereits aufgegeben. Dauerstreit, Führungsschwäche und handwerkliche Mängel fordern ihren Tribut.

Als Sabine Christiansen noch ihre Talkshow am Sonntagabend hatte, handelte sie die Themen mit Lust an der Apokalypse ab. Jede Sendung mündete in die imaginäre Frage: Ist Deutschland noch zu retten? Die Frage ist aktueller denn je.

Omid Nouripour, der Co-Vorsitzende der Grünen, nennt die Ampelkoalition eine «Übergangskoalition am Ende der Ära Merkel». Es ist ein erstaunliches Verdikt aus dem Mund eines Repräsentanten dieser Koalition.

Übergangskoalition – das klingt, als sei die Regierung bereits Geschichte. Zum Ende der Sommerpause herrscht in Berlin eine Stimmung wie auf der «Titanic», kurz nachdem das Orchester aufgehört hat zu spielen.

Robert Habeck redet, als habe er mit dem, was vor drei Jahren mit einem Selfie als «Fortschrittskoalition» begonnen hatte, längstens abgeschlossen. Auf die Frage, weshalb die drei Parteien Tantalusqualen bei der Verabschiedung eines ordentlichen Haushalts durchleiden würden, antwortet er: «Ist halt so, ne.»

Beinahe-Impfpflicht, Gaspreisbremse, Heizungsgesetz, Bürgergeld, Kindergrundsicherung, verfassungswidriger Haushalt mit Klatsche in Karlsruhe: Ist halt so. Lapidarer hat noch niemand das Elend dieser Regierung auf den Punkt gebracht als ihr Vizekanzler.

Nicht einmal die beiden linken Parteien können noch miteinander

Ist Deutschland noch zu retten? Hinge das Wohlergehen des Landes allein von dieser Regierung ab, bestünde Anlass zur Unruhe. Selbst Sabine Christiansen, die routinierte Dompteurin der Apokalypse, wäre sprachlos angesichts des ziemlich einmaligen Schauspiels. Auch früher gab es Zerwürfnisse, aber der Koalitionskrach war die Ausnahme. Heute ist er die Regel.

Eine Regierung ist nicht der Gesangsverein «Harmonie». Streit in der Politik ist nichts Schlechtes, solange er produktiv ist.

Doch nachhaltige Ergebnisse sind nicht die Kernkompetenz der Ampelkoalition. Auf der Suche nach den Gründen für das Elend stösst man auf drei strukturelle Faktoren:

Was Gott geschieden hat, soll der Mensch nicht künstlich fügen. Tagtäglich rächt sich, dass hier drei Partner regieren, die nicht zusammenpassen. Auf der einen Seite eine liberale Partei, die wenig anderes zu bieten hat und deswegen die Schuldenbremse verteidigt wie ein Hund den abgenagten Knochen. Um sich hier durchzusetzen, ist die FDP bereit, fast jeden Unsinn mitzumachen, sei es das Selbstbestimmungsgesetz, eine halbgare Rentenreform oder die Subventionsspritze für den Regionalverkehr. Den Unsinn des 49-Euro-Tickets hat das liberale Verkehrsministerium selbst auf den Weg gebracht. Die Mittel fehlen jetzt für die Sanierung der maroden Bahn-Infrastruktur.

Auf der anderen Seite die SPD, die sich nie von der sozialdemokratischen Erbsünde, der Agenda 2010, erholt hat. Sie versucht daher immer wieder, ihre «Schuld» durch eine Sozialpolitik auf Steroiden zu tilgen.

Hält man einen Hammer in der Hand, ist die Lösung für jedes Problem ein Nagel oder in der sozialdemokratischen Welt: eine staatliche Subvention – ob die Erhöhung des Bürgergelds oder des Mindestlohns. Die Kanzlerpartei hat keine bessere Idee für die Zukunft Deutschlands als die Aufblähung des Sozialstaats.

Und schliesslich die Grünen, die nicht begreifen wollen, dass sich hehre Ziele nicht losgelöst von der politischen Realität durchsetzen lassen. Beim Klimaschutz wie der Migrationspolitik benötigt man Mehrheiten, sonst erleidet man Schiffbruch. Das Klimagesetz ist das Mahnmal eines weltfremden Idealismus und nicht umsonst der Anfang vom Abstieg der Grünen.

Die bunte Menagerie umfasst eine Partei, die Austerität für einen Selbstzweck hält; eine Partei, die mit Schuldenmachen alle Probleme glaubt lösen zu können; und eine Partei von ewig pubertierenden Weltverbesserern. Wie soll das gutgehen?

Nicht einmal die beiden linken Parteien verstehen sich mehr. Die disziplinierten und nüchternen Regierungssozis können mit dem zerknautschten Hedonismus eines Robert Habeck oder der woken Identitätspolitik einer Lisa Paus wenig anfangen.

Liberale und Grüne sind ohnehin Rivalen, weil sie dieselbe besserverdienende Klientel umgarnen. O-Ton Habeck: «Sollte ich jemals Kanzler werden, wird Christian Lindner nicht Finanzminister.» Wie gut, dass Habeck nie Kanzler wird.

Jeder der drei Partner ist nur noch darauf aus, den anderen ein Bein zu stellen in der Hoffnung, sich zu profilieren. Diese Regierung hat etwas Destruktives. Doch genau deshalb werden die Partner bis zur Bundestagswahl zusammenbleiben. Etwas anderes fällt ihnen schlicht nicht ein.

«Wer Führung bestellt, bekommt sie bei mir.» So redet Olaf Scholz über Olaf Scholz. Jede angehende Führungskraft lernt, dass Eigenbild und Fremdwahrnehmung nicht diametral auseinanderklaffen dürfen. Sonst drohen der Verlust der Glaubwürdigkeit und Unruhe in der Belegschaft. Der Kanzler erfährt das gerade beim Haushalt oder der Ukraine-Hilfe. Er sieht sich als erfahrenen Profi und ruhenden Pol inmitten des «Ampel»-Wahnsinns.

Doch die Finanzpolitik des ehemaligen Finanzministers ist fortgesetzter Murks. Erst der gesetzwidrige Nachtragshaushalt, den nur das Verfassungsgericht stoppen konnte; dann der Dauerstreit um den Etat 2025. Der erste Entwurf war rasch Makulatur, weil Finanzminister Lindner Zweifel an der Verfassungsmässigkeit seines eigenen Werks befielen. Der zweite Entwurf ist das Eingeständnis von Resignation. Die Koalitionspartner können ein Haushaltsloch von zwölf Milliarden Euro nicht stopfen und schieben deshalb dem Parlament ein halbfertiges Opus zu.

Fast die ganze Belegschaft, also der Grossteil der Deutschen, gibt der Führungskraft Scholz schlechte Noten. Sein Plan, sich mit Stoizismus den Respekt der Wähler und die Wiederwahl zu verdienen, kann als gescheitert gelten. Nur ein Wechsel zu Boris Pistorius würde den Kanzler-Malus vielleicht noch in einen Bonus verwandeln.

Die Sozialdemokraten werden jedoch Pistorius unter keinen Umständen zum Kandidaten befördern. Die SPD wäre nicht die SPD, wenn sie sich von ihren Wählern beirren lassen würde. Die Funktionäre halten traditionell ihre Irrtümer für die grössten Errungenschaften.

Wie die «Ampel» die Zeitenwende infrage stellt

Wer regieren will, muss es auch können. Um ihre Pläne für eine Aufstockung der Sozialleistungen für Kinder umzusetzen, forderte die Familienministerin zusätzliche Milliarden, eine neue Behörde und 5000 Stellen. Seither hört man nichts mehr von der Kindergrundsicherung.

Die Innenministerin liess ein obskures rechts-esoterisches Blättchen verbieten und musste sich von einem Gericht darüber belehren lassen, dass die Meinungsfreiheit auch für das inzwischen im ganzen Land bekannte Magazin «Compact» gilt. Nachhilfe in Verfassungskunde für die Verfassungsministerin. Wie peinlich.

Lisa Paus, Nancy Faeser, Annalena Baerbock oder Karl Lauterbach, der Racheengel aller Ungeimpften: Fachliche Defizite und überforderte Minister säumen den Weg der «Ampel». Manchmal fallen alle drei Faktoren zusammen: Streit, Führungsschwäche und mangelndes Handwerk. So bei der Ukraine-Hilfe, die Finanzminister Christian Lindner vorläufig stoppen liess.

Nur noch bereits bezahlte Lieferungen werden aus dem regulären Haushalt abgewickelt. Künftig sollen die Waffen mit den Zinserträgen aus den in der EU eingefrorenen Mitteln der russischen Zentralbank finanziert werden. Wann diese Gelder zur Verfügung stehen, ist allerdings unklar. Ein ungedeckter Check also als Grundlage deutscher Sicherheitspolitik.

Das Finanzministerium handelt dilettantisch, indem es das Kernstück der Legislaturperiode mit einem buchhalterischen Trick infrage stellt und damit Freund wie Feind verwirrt. Scholz, der Erfinder der Zeitenwende, steht düpiert da. Mit diesem Schlingerkurs überzeugt er in Ostdeutschland niemand davon, dass Deutschland Kiew helfen muss. Der Kanzler wirkt nur noch hilflos, wenn er jetzt an seine Richtlinienkompetenz erinnert.

Auch wenn die Koalition die Zeitenwende immer wieder verrät, hat sie diese doch angestossen. Der Bruch mit Russland und die Aufrüstung der Bundeswehr wären der schwarz-roten Regierung schwergefallen – auch deshalb, weil die SPD unter Angela Merkel jede Kursänderung in der Sicherheitspolitik verhinderte.

Nur ein sozialdemokratischer Kanzler konnte diese Widerstände überwinden. Darin liegt das historische Verdienst von Olaf Scholz. Daher werden Wohlmeinende dereinst über die Ampelkoalition dasselbe sagen wie über die DDR: Es war nicht alles schlecht.

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