Freitag, Oktober 18

In einem Zuger Dorf ist Englisch für jeden vierten Einwohner die Hauptsprache. Eine Studie untermauert den Trend: Der Zug für die Landessprachen an den Schulen ist mehr oder weniger abgefahren.

Der Kauf einer Brille bei einem Optiker in der Zürcher Innenstadt wurde für Simon König (Name geändert) zur Herausforderung der ganz besonderen Art: Das Verkaufspersonal sprach kein Wort Deutsch – das Beratungsgespräch zu Sehstärken und den Vorteilen von Gleitsichtgläsern musste König wohl oder übel in Englisch führen. Dies, weil kurzfristig nicht genügend Personal mit deutscher Muttersprache verfügbar war und Angestellte aus einer Filiale in London einspringen mussten.

Der Trend «English only», der vor einigen Jahren in Zürcher Trendlokalen einsetzte, schwappt auf immer mehr Bereiche und Regionen über. Inzwischen ist schon fast alltäglich, dass Kundinnen und Kunden in Schweizer Städten und Tourismusorten – ohne dass mit der Wimper gezuckt wird – in Englisch angesprochen werden. Das beschränkt sich keineswegs nur auf Zürich, Genf, Zermatt oder St. Moritz. Im Gegenteil: Der Ort, an dem in der Schweiz am häufigsten Englisch gesprochen wird, dürfte Walchwil im Kanton Zug sein.

Kanton Zürich beim Englisch nur an vierter Stelle

Eine genaue Statistik darüber, wie viele Einwohner einer Gemeinde welche Sprache sprechen, gibt es zwar nicht. Doch im Rahmen der Strukturerhebung 2022 hat das Bundesamt für Statistik (BfS) auch Angaben zur Sprache der Bewohnerinnen und Bewohner erhoben. An der Spitze liegt dabei der Kanton Zug: Dort haben 14,1 Prozent der Bevölkerung angegeben, dass sie hauptsächlich Englisch sprechen. Kein anderer Kanton ist so stark anglisiert wie das Innerschweizer Steuerparadies. Dahinter folgen die Kantone Basel-Stadt (12,5 Prozent), Genf (11,8 Prozent) und Zürich (10,8 Prozent).

Zürich liegt nur auf Rang 4

Anteil der Bevölkerung mit Englisch als Hauptsprache

Schlüsselt man die Zuger Zahlen nach Gemeinden auf, ist das Bild noch krasser: Im beschaulichen Walchwil mit seinen knapp 4000 Einwohnern spricht fast jede dritte Person ab 15 Jahren Englisch, nämlich 27,3 Prozent. Auf den zweiten Blick allerdings ist dies weniger überraschend. Die exklusiven Wohnlagen mit bester Sicht auf den Zugersee können sich vor allem gutverdienende Expats leisten. In der Kantonshauptstadt Zug ist Englisch für jeden Fünften die Hauptsprache. In der Stadt Zürich sind es 12,5 Prozent, die Englisch als Hauptsprache angeben.

Auffallend ist, wie rasant sich Englisch verbreitet. Innert 22 Jahren hat sich die Zahl der Einwohner mit Englisch als Muttersprache mehr als versiebenfacht. Sprachen im Jahr 2000 weniger als 2 Prozent der Zuger Bevölkerung hauptsächlich Englisch, waren es 2012 bereits über 8 Prozent. Seit 2012 hat sich der entsprechende Anteil nochmals um rund 6 Prozentpunkte erhöht. In Zug scheint diese Entwicklung zwar besonders eindrücklich, doch sie passt ins Bild: Auch in anderen Kantonen drückt Englisch die übrigen Landessprachen an den Rand.

Für 75 Prozent der unter 25-Jährigen ist Englisch Standard

Der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch des Englischen ist indessen längst nicht allein auf die Zuwanderung zurückzuführen. Wichtiger sind die Dominanz des Englischen in den sozialen Netzwerken oder auf Netflix – sowie der Fremdsprachenunterricht. Unter dem Titel «Wie viel Englisch braucht die Schweiz?» warnte der Romanist Marco Baschera 1997 in der NZZ vor der Einführung des obligatorischen Englischunterrichts vor dem Französischunterricht an der Primarschule im Kanton Zürich. «Leider haben sich meine damaligen Befürchtungen bestätigt», konstatiert der inzwischen emeritierte Literaturprofessor im Gespräch mit der NZZ.

Zahlen des Bundesamtes für Statistik belegen dies: In der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen wird Englisch von fast drei Vierteln mindestens einmal pro Woche gesprochen, geschrieben, gelesen oder gehört. 2014 waren es erst 62 Prozent. Das ergab eine Erhebung aus dem Jahre 2019. Inzwischen dürfte der Anteil sogar noch höher liegen. Dagegen verwenden deutlich weniger ältere Personen Englisch in vergleichbarer Regelmässigkeit.

Ab 75 Jahren benutzen die Sprache nur gerade 15 Prozent mindestens einmal in der Woche. Über alle Altersgruppen und alle Sprachregionen betrachtet kam Englisch 2019 als häufigste Nichtlandessprache bei 45 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz regelmässig zum Einsatz. Dagegen verwenden nur 39 Prozent der Bevölkerung regelmässig Französisch und nur 15 Prozent Italienisch.

Kaum etwas veranschaulicht diesen Trend hin zum Englischen besser als die Liste der Jugendwörter der letzten Jahre. Gekürt wird das Jugendwort des Jahres seit 2008 zwar vom deutschen Langenscheidt-Verlag – doch für die Schweiz hat es ebenso Geltung. Für 2023 lautet es «Goofy» und beschreibt eine tollpatschige Person. Auch in den Jahren zuvor standen englische Ausdrücke meist ganz oben: «Smash» (2022), «cringe» (2021), «lost» (2020) oder «fly sein» (2016). Die älteren – und eher mit Landessprachen vertrauten – Semester machen unterdessen mit cringen Englisch-Defiziten auf sich aufmerksam.

«I can nothing say to this issue»

Unvergessen ist der CNN-Auftritt des früheren Bundesrates Ueli Maurer nach seinem Besuch bei Donald Trump im Jahre 2019. Maurers Kommunikationschef musste die Fragen der Moderatorin für das Publikum hörbar ins Schweizerdeutsche übersetzen und ihm die Antworten vorsprechen. Maurer stolperte und verhaspelte sich, obwohl er inhaltlich kaum etwas sagte. Legendär seine Aussage zum Schluss des Interviews: «I can nothing say to this issue.»

Inzwischen werden Bundesratskandidaten und -kandidatinnen regelmässig auch auf ihre Englischkenntnisse abgeklopft. Für den im Dezember frisch gewählten Justizminister Beat Jans kein Problem: Der Basler ist – typisch für die Stadt mit dem zweithöchsten Anteil an Personen mit englischer Muttersprache – mit einer Amerikanerin verheiratet. Am Familientisch wird bei der Familie Jans regelmässig Englisch gesprochen.

Das Englische sei weit in das diffizile Beziehungsgeflecht der vier Landessprachen eingedrungen, erklärt der Literaturprofessor Baschera: «Nicht zuletzt wegen der gewichtigen Zunahme der Immigrationssprachen wird es zu einer Art gemeinsamer fremder Landessprache», sagt er. Er hält dies fatal für einen Staat, «für den die gelebte Mehrsprachigkeit ein wichtiges identitätsstiftendes Element ist».

Auch eine erst vor kurzem von der Universität Genf veröffentlichte Studie bestätigt, dass Englisch zumindest an den Gymnasien alles dominiert. «Der Zug für die Landessprachen an den Schulen ist mehr oder weniger abgefahren», sagt der Studienautor Daniel Elmiger. Nur rund 13 Prozent der zweisprachigen Matura-Abschlüsse in den einsprachigen Deutschschweizer Kantonen sind mit Französisch oder Italienisch als Zielsprache. Elmiger diagnostiziert eine schleichende Anglisierung des Unterrichts. Dies gilt auch für die Berufsschulen.

Kitt für die Schweiz?

Wenn sich eine junge Zürcherin und ein junger Jurassier in diesem Sommer in Bern am Konzert von Pink treffen, ist die Wahrscheinlichkeit deshalb hoch, dass sie sich auf Englisch unterhalten. Der Welschland-Austausch wird – falls er überhaupt noch stattfindet – zum Englisch-Training. Längst ist es auch selbstverständlich, dass Exponate in Museen in der Sprache des jeweiligen Landesteils und in Englisch angeschrieben sind. Theateraufführungen werden regelmässig englisch untertitelt, Sitzungen heissen Meetings, und gesprochen wird: Englisch. In vielen Unternehmen oder Forschungsteams ist nicht mehr Deutsch oder Französisch die gesprochene Sprache, sondern Englisch.

Für Pessimisten wird Englisch so zum Treiber, der die aus vier Sprachregionen gebildete Willensnation langsam auseinandertreibt. Für Optimisten ist es der Kitt, der sie noch besser verbindet.

Die Zeit aber, in denen dies Sprachpuristen als «shocking» empfanden, ist definitiv over.

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