In den tückischen Tiefen des Atlantiks wachsen Algen, die so wertvoll sind, dass sie auch als «braunes Gold» bezeichnet werden. Als Superfood landen sie auch auf Tellern in der Schweiz.
Es gibt Tage, an denen es einfach nicht sein soll. Kate Burns und der junge Philip haben an diesem sonnenverwöhnten Morgen von der Marina an der Church Bay aus losgemacht, um Ernte einzufahren. Die zwei mit Bojen markierten Stellen vor der Westküste von Rathlin Island sind dann auch in zehn Minuten erreicht. Dort gelingt es Mutter und Sohn, mit einiger Mühe, den motorisierten Kutter mit einem Fangeisen an den Bojenketten festzumachen.
Von dem goldbraun durch das Wasser schimmernden Seetang, um den es ihnen geht, können sie trotzdem nur einen bescheidenen Teil an Bord zerren, selbst mit dem Einsatz der Seilwinde und unter grösster Anstrengung. Starke Strömungen unter der friedlich erscheinenden Oberfläche der See lassen das Boot kaum zur Ruhe kommen. Ausserdem hat sich in dem glitschigen Fang eine zweite, für sie nutzlose Art von Tang verheddert.
Den jetzt auseinanderzubringen, wissen beide aus Erfahrung, lohnt den Aufwand nicht. Also durchtrennt Philip mit einem Messer die ineinander verwirbelten Unterwasserpflanzen und überlässt den weit grösseren Teil wieder dem Meer. Dann treten sie die Rückfahrt an. «Wenigstens haben wir jetzt neue Proben für das Labor», sagt Kate unterwegs. «Wir müssen die Qualität des Tangs regelmässig überprüfen.» In dem Sinne ist die Exkursion für die energische Frau mit den dicken, vom Salzwasser gebleichten Haaren, die in keinem Moment wie über 60 wirkt, nicht umsonst gewesen. Und wer an der gesamten Küste der irischen Insel wüsste je vorher, welchen Fang er heute macht oder ob Wind und Wetter einem in die Karten spielen?
Braunalgen sollen gut für den Organismus sein
Petersfisch und Meeräsche, Heilbutt und Katzenhai holen Fischer seit Menschengedenken aus den so tiefen wie tückischen Wassern um Rathlin Island – die einzige bewohnte Insel Nordirlands, elf Seemeilen von der schottischen Halbinsel Kintyre entfernt. Andere bringen regelmässig kapitale Hummer in Fangkörben an Land. Doch für Kates ehrgeiziges Projekt muss es entweder Fingertang, Laminaria digitata, oder Zuckertang, Saccharina latissima, sein. Diese Tangarten sind ernährungswissenschaftlich betrachtet die wertvollsten Arten von Braunalgen, englisch «kelp», die in diesen Tiefen, in denen der Atlantik auf die Irische See trifft, hervorragend gedeihen. Sie zu pflanzen und zu ernten, ist für die studierte Ökonomin und erfahrene Projektmanagerin weit mehr als nur Business.
Denn Islander Kelp, so der Name ihres vor neun Jahren lizenzierten Unternehmens, kann aus dem unterseeischen Rohstoff Bio-Lebensmittel ohne Zusätze herstellen, wie sie unter dem Schlagwort Superfood stark nachgefragt werden. Lebensmittel, die reich an Proteinen und Mineralien, Omega-3-Fettsäuren und Vitamin D, Jod und Kalzium sind und nachweislich die Fettaufnahme im Körper blockieren. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Seetangprodukte unter Umständen helfen, Krebszellen im Organismus zu bekämpfen. Auch deshalb soll Islander Kelp «nicht bloss eine Marke» sein, wie es auf der Website von Burns’ Firma heisst, sondern «es ist eine Philosophie».
Ausserdem bereichert Seetang die Küche, ob naturbelassen oder schonend weiterverarbeitet. Der frisch geerntete Fingertang etwa muss nur kurz blanchiert und getrocknet werden, bevor er zur Herstellung von Dashi in alle Welt, hauptsächlich aber nach Asien verschickt werden kann. Das ist jener Fischsud, der dort Grundlage für mannigfaltige Suppen ist. Andere Abnehmer nutzen Fingertang als Zutat, um den kritisch hohen Natriumgehalt bestimmter Lebensmittel deutlich zu senken.
Schweizer Abnehmer von Zuckertang
Zuckertang wiederum wird im Meerwasser angepflanzt, bis seine winzigen, an Röhren aufgezogenen Samenfäden binnen einiger Monate zu entwickelten Pflanzen heranwachsen. Die werden dann geerntet und gesäubert, gefriergetrocknet und in Handarbeit geschnitten, bis sie fertige «Kelp Noodles» geworden sind. Ein Premiumprodukt, das in Europa laut Burns nur auf Rathlin hergestellt wird und über einen niederländischen Vertrieb in die Gastronomie gelangt. Zu den Abnehmern gehört auch die Schweizer Restaurantkette Tibits.
Noch ist der Ausstoss von Kates Firma, die auch Salz, Salsa und Pesto aus Algen herstellt, halbwegs überschaubar. Dennoch erfordert er bereits einen gewissen Apparat. So sind in einem Anbau am Hafen, hinter dem einzigen Konsum auf der Insel, ein kleines Labor, Kühlschränke und diverse Maschinen für die Manufaktur untergebracht. In diesen beengten Verhältnissen sorgen Kates Söhne Philip und Benji mit vier, fünf eigens dazu ausgebildeten Kräften dafür, dass die globale Nachfrage bedient werden kann. Das ist für die Gründerin der zweite, nicht minder wichtige Effekt: «Fünf Arbeitsplätze mögen woanders nicht viel sein. Aber auf so einer Insel bedeuten sie eine Menge.»
Kate Burns möchte schliesslich ihren persönlichen Beitrag dazu leisten, dass dieses etwas über 14 Quadratkilometer kleine Eiland mit den vielen felsigen Buchten und den von Steinmauern markierten Schafweiden, den sumpfigen Heideflächen und vom Wind gekämmten, winzigen Seen eine Zukunft mit Menschen hat. Dass also eine erstaunliche Geschichte fortgesetzt werden kann, die nach seriösen Schätzungen schon im sechsten Jahrtausend vor Christus begann – und damit früher als auf jeder anderen Insel vor Irland. «Ich habe den Ort nie aus meinen Knochen bekommen», wird sie an einem anderen Tag sagen. «Darum will ich ihn mitgestalten, so nachhaltig, wie es nur geht.»
Drei Leuchttürme lotsen an Riffen vorbei
Knapp 7 Meilen breit von West bis Ost, in der Mitte geknickt wie ein Bumerang und am höchsten Punkt 135 Meter über null: So liegt dieser Fleck im North Channel, von der Ortschaft Ballycastle am berühmten Giant’s Causeway kaum eine halbe Fährstunde entfernt. Gleich drei Leuchttürme sollen den Schiffsbesatzungen helfen, bei Nacht und Nebel den brisanten unterseeischen Riffen auszuweichen. Und doch kann so gut wie jeder auf Rathlin die Namen etlicher Boote aufzählen, die in der Meerenge versunken sind. Boote der britischen Marine wie solche von Fischern und Schmugglern.
Hundertfünfzig Menschen sind es noch, beziehungsweise wieder, die heutzutage zwischen baumlosen Hügeln, blühenden Heideflächen und dem winzigen Hafen leben: Schafbauern und Fischer, Familien und Aussteiger, Privatiers und Pensionäre. Manche kommen auch noch einer zweiten und dritten Aufgabe nach, damit das Gemeinwesen funktioniert. Fahren morgens mit dem Postwagen herum, bedienen mittags im Konsum und helfen abends noch im «McCuaig’s» aus, dem einzigen Pub auf Rathlin. Ausserdem ist von April bis September das Besucherzentrum zu besetzen: Anlaufstelle und Zimmervermittlung, Souvenirshop und improvisiertes Museum.
Dort kann man auch das seltene Porzellanitgestein anfassen, aus dem in vorchristlichen Zeiten Äxte gefertigt wurden. Sie avancierten an vielen Küsten zu Rathlins erstem Exportschlager, gaben jedoch auch eine blutrünstige Richtung vor: Immer wieder kämpften Stämme und Clans, Pikten und Wikinger, Iren und Schotten sowie Engländer um die Herrschaft über die Insel. Horrende Massaker vernichteten mehrfach beinahe die gesamte Bevölkerung, aber eben nie ganz.
Folgt man Überlieferungen, wurde die Besitzfrage 1617 letztlich durch das Orakel um eine Schlange gelöst. Sollte die ihre Aussetzung überleben, wäre Rathlin den Schotten zuzuschlagen gewesen. Weil sie aber schnell verstarb, blieb die Insel ein Stück Irland. Fortan konnten ihre Bewohner sich darauf konzentrieren, ums pure Überleben zu kämpfen, und das war mühsam genug.
Eier von nistenden Seevögeln gegen die Hungersnot
Zwischendurch auf über tausend Einwohnerinnen und Einwohner angewachsen, verliess ein grosser Teil von ihnen das Eiland Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Kartoffelkäferplage auch hier dramatische Hungerkatastrophen auslöste. Manche kletterten in ihrer Not mit Steigeisen die Klippen am Westpoint hinauf, um an die Eier nistender Seevögel zu gelangen – oder diese selbst zum Verzehr zu fangen. Ein Jahrhundert später sorgten zwei Weltkriege für weiteren Schwund. So sank der «head count» zur Jahrtausendwende auf unter achtzig, während die Verhältnisse, unter denen sie ausharrten, in ihrer Rückständigkeit fast schon skurril anmuteten.
Bei Elektrizität etwa war Fehlanzeige, als eine junge Studentin aus der historischen Grafschaft Down im Osten Nordirlands erstmals für einen Tauchlehrgang auf die Insel gelangte. Sämtliche Lampen wurden mit Paraffin oder Gas betrieben. Warmwasser kam nicht aus der Leitung, sondern aus grossen Töpfen, die man auf Kohleöfen erhitzte. Wer saubere «rags», also Klamotten, haben wollte, musste zum Waschbrett greifen, und eine Fähre ging zuverlässig nur am Wochenende – hauptsächlich für die Halbwüchsigen, die auf dem Festland höhere Schulen besuchten. Von Arztpraxen oder Kanzleien ist bis heute keine Spur. Einmal im Jahr kämen zwei Polizisten vom Festland herüber, erzählt man, um die Kennzeichen der Autos auf ihre Gültigkeit zu überprüfen.
Trotzdem, oder genau deshalb, war hier etwas, das Kate Burns in grösseren Abständen immer wieder anzog. So lernte die Absolventin der Belfaster Queens University einen Einheimischen kennen, den sie ziemlich schnell heiratete und zum mehrfachen Vater machte. Was dazu führte, dass die Insel für einige erfüllte, wenn auch nicht idyllische Jahre ihre neue Heimat wurde. Es war ja «ein tougher Ort, um Kinder grosszuziehen». Mit dem ersten Stromgenerator wurde manches einfacher, «und was war das für eine Sensation, als wir irgendwann die erste Waschmaschine bekamen. Das muss in den Neunzigern gewesen sein.»
Ein neues Denken ist auf der Insel gefragt
Weil auch noch eine Karriere auf sie wartete und die Ehe zerrüttete, war die agile Mrs. Burns später nur gelegentlich auf Rathlin zu sehen. Doch mit dem Abstand der vertrauten Besucherin bemerkte sie bald eine erstaunliche Veränderung: Im neuen Jahrtausend zogen auch wieder jüngere Jahrgänge auf die Insel. Die waren im Zweifel gut ausgebildet und nahmen die Dinge lieber selbst in die Hand, als nur darüber zu klagen. Bauten mit Handwerkern vom Festland die alten Cottages aus Naturstein aus oder errichteten neue, bescheidene Häuser; renovierten die Schule, legten daneben einen Basketballplatz an und sorgten für mehr Strassenlicht. Das bewirkte den Turnaround, der laut Burns dringend an der Zeit war.
«Es ist wunderbar, eine alteingesessene Gemeinschaft zu haben. Aber man braucht auf so einer Insel auch neues Denken, neue Fähigkeiten. Und nun haben wir hier beides, in einem sehr schönen Gleichgewicht.»
Inzwischen kann man auf Rathlin nicht nur Waschmaschinen und Strom, sondern auch Mobiltelefone und Rechner benutzen. An der Church Bay steht ein achtsam restauriertes Hotel im georgianischen Stil, das in früheren Jahrhunderten ein Herrschaftshaus war. In seinem Restaurant gibt es nach dem Heilbutt oder frischen Hummer einen passablen Cappuccino. Ausserdem sind da ein paar weitere Guest-Houses beziehungsweise Ferienwohnungen, und in der Saison kommen so viele Fähren wie nie zuvor aus Ballycastle. Sie bringen mit den Pendlern auch eine gut auszuhaltende Menge Touristen an Land, die sich zu benehmen wissen.
Die meisten von ihnen kommen für einen Tag herüber, um mit einem der bunten Busse zu den steilen Klippen am Westpoint zu fahren – einer grandiosen Naturbühne für Papageientaucher und andere, schnatternde Seevögel, die hier zu Zigtausenden brüten. Oder begeben sich über ein komplettes Wochenende mit Rucksack und festen Schuhen auf die zahlreichen Wanderwege. Hinein in eine komplette Stille, wo man die Schafe Gras kauen hört. Mehr als drei, vier Stunden Fussweg ist ja nichts voneinander entfernt, und kleine Geschichten, grausam bis phantastisch, lauern auf diesem Eiland hinter jedem zweiten Haus.
Zum Beispiel an der Route Richtung Osten und dem Rue Point Lighthouse: Da passiert man nahe der Mill Bay die wuchtige Ruine eines etwa 250 Jahre alten Kalksteingebäudes, das seinerzeit als «kelp store», also Lagerhalle für Seetang, diente. Der wurde übers Frühjahr durch Stürme an Land gewirbelt oder am Ufer mit Sicheln geerntet sowie im Sommer mehrere Tage lang auf von Steinen geformten Feuerstellen (kilns) am Strand verbrannt. Die aus der Asche gewonnene, alkalische Flüssigkeit wurde getrocknet, zu festen Blöcken geformt und schliesslich zur Herstellung von Seifen, Laugen oder Fensterglas nach Glasgow oder Liverpool verschifft.
Seetang war schon einmal internationales Handelsgut
Es gab also schon einmal eine Ära, in der ein Folgeprodukt aus Rathlins Seetang international gehandelt wurde – bis ins junge 20. Jahrhundert hinein, als man es durch Chemikalien ersetzte. Nur dass die dafür aufgewendete Arbeit ungleich härter war. Das legen auch die Notizen von Letitia Stevenson nahe, Gattin eines Schulrektors, die vor gut hundert Jahren Augenzeugin des Prozederes wurde. «Welch ein Grunzen, Stöhnen und Schwitzen, wie es vor sich ging inmitten des Rauchs, der Flammen und des Gestanks», so hielt sie das Erlebnis in ihren Notizen fest. «Ich weiss nicht, wie sie das unter der brütenden Sonne aushalten konnten . . .»
In dem Sinne knüpft Islander Kelp an eine althergebrachte Tradition an: Auch hier wird das «braune Gold» der Insel so weiterverarbeitet, dass man das Endprodukt vermarkten kann. Noch übersteigt der Ausstoss im Jahr kaum vierzig Tonnen, doch einstweilen ist diese Marke für Kate Burns gut genug. Mehr noch: Sie und ihr kleines Team hätten wohl «ein ernsthaftes Problem», wie sie gesteht, sollten sie in kurzer Zeit ganz andere Mengen stemmen müssen. Und ist eine allmählich ansteigende Kurve nicht demütiger sowie im Zweifel nachhaltiger?
Philip Burns möchte ohnehin nicht jeden Morgen mit dem Boot hinaus, um nach den unterseeischen Kelpwäldern zu sehen, und den Rest des Tages nur Algennudeln vakuumdicht verpacken. Er hat Anfang der Saison ein kleines Café mit Blick auf den Hafen eröffnet, zusammen mit seiner deutschen Freundin; das soll jetzt einmal ans Laufen kommen. Ähnlich hat sein älterer Bruder Benji nicht vor, seinen Hauptjob eines mit allen lokalen Strömungen vertrauten Fischers aufzugeben. Der bleibt für ihn die erste Leidenschaft.
So mögen die Burns für einige Leute Jobs kreieren – sie selbst lassen sich nur auf Teilzeit ein. Und was wäre dagegen zu sagen? Letztlich soll hier doch bloss eine gute, neue Idee, aber bestimmt kein millionenschweres Enterprise ins Rollen kommen. Business im Stil von Rathlin Island.
Infos: www.ireland.com