Samstag, März 22

Ein Engländer brachte die zuvor unbekannte Bronzezeit auf Kreta ans Licht – und zerstörte sie, indem er sie wiederauferstehen liess.

Am Morgen des 23. März 1900 reiten zwei Männer auf Eseln von der Stadt Candia an der Nordküste Kretas fünf Kilometer nach Süden. Dort, wo zwei Flüsse sich treffen, liegt ein Hügel namens Kephala. Einem der beiden Männer, Arthur Evans, gehört dieses Stück Land; erst vor wenigen Wochen hat er nach jahrelangem Bemühen die fehlenden Bereiche endlich kaufen können. Er lässt den Union Jack hissen, so ist es in den Tagebüchern der Beteiligten nachzulesen, und um 11 Uhr beginnen 32 kretische Arbeiter damit, die Erde abzutragen.

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Innerhalb von wenigen Jahren werden sie eine der spektakulärsten archäologischen Stätten der Welt freigelegt haben: den sogenannten Palast von Knossos aus der Zeit der Minoer, 3500 Jahre alt. Zuvor wusste niemand, dass es diese bronzezeitliche Gesellschaft auf Kreta überhaupt gegeben hat. Es hat sie gegeben. Aber Evans findet die Minoer weniger, als dass er sie erfindet. Und noch 125 Jahre später werden Archäologen Mühe haben, sich von dem von Evans geschaffenen Bild dieser Gesellschaft zu lösen.

Kapitel I : Die Fahrten des Theseus

Theseus war der Sohn von Aegeus, dem König von Athen. Er reiste durch das ganze Land und vollbrachte Heldentaten. Damals war Athen dem König Minos auf Kreta tributpflichtig: Alle neun Jahre mussten 14 athenische Kinder und Jugendliche dem in einem Labyrinth hausenden Monster Minotaurus, das halb Stier war und halb Mensch, zum Frass vorgeworfen werden. Theseus liess sich dafür auswählen und fuhr nach Kreta, um den Minotaurus zu suchen.

Arthur Evans wurde als Sohn eines reichen englischen Papierfabrikanten geboren; ohne das Geld aus der Familie wäre die Geschichte der Archäologie anders verlaufen. In der Schule tat Arthur sich «athletisch nur im Ziehen voreiliger Schlüsse» hervor – das schrieb er als Schüler über sich selbst, und es wirkt heute wie eine überaus prophetische Selbsteinschätzung.

Arthurs Vater war, was man damals einen Altertumsforscher nannte, und ein angesehener dazu; zeitlebens würde der Ältere immer auch ein bisschen Konkurrent des Jüngeren bleiben. Arthur studierte Geschichte in Oxford. Auf der Suche nach Abenteuern reiste er kreuz und quer durch den Balkan, damals aufgeteilt zwischen Habsburgern und Osmanen, und wurde Korrespondent des «Manchester Guardian». Dann sprach er sich öffentlich gegen die habsburgische Herrschaft aus, und die Österreicher warfen ihn aus dem von ihm geliebten Land.

Der junge Mann wandte sich dem Mittelmeer zu. Heinrich Schliemann hatte nach Troja auch in Mykene in Griechenland bronzezeitliche Ruinen freigelegt; Evans besuchte ihn in Athen und bereiste das Land.

1884 bekam er in Oxford einen Posten am Ashmolean Museum, damals noch eine botanische Sammlung. In den folgenden zehn Jahren arbeitete Evans daran, sie zu einem archäologischen Museum umzubauen. 1893 fuhr er deshalb nach Athen, um Antiken zu kaufen.

Bei einschlägigen Händlern stiess er auf Siegel aus geschliffenem Stein, die von Kreta stammen sollten. Unbekannte Zeichen waren in sie eingraviert. Evans vermutete eine Schrift aus einer Zeit vor den Griechen mit ihren Statuen und Tempeln aus Marmor, eine Zeit, über die nicht die Geschichtsschreiber berichten, sondern die Mythen.

Homer, der älteste aller griechischen überlieferten Dichter, hatte schon Schliemann nach Troja und Mykene geleitet. Er singt aber auch von König Minos, der auf Kreta herrschte. Bilder auf antiken Keramikgefässen und die Texte griechischer Autoren erzählen den Mythos vom Minotaurus. Wie Schliemann war Evans überzeugt, dass diese Geschichten keine Erfindungen waren, sondern sich auf einst tatsächlich existierende Personen bezogen.

In den Jahren nach dem Fund der gravierten Siegel in Athen fuhr Evans mehrmals auf die damals noch zum Osmanischen Reich gehörende Insel Kreta und kaufte weitere dieser Objekte mit den unbekannten Schriftzeichen. «Galopétres», Milchsteine, so nannten die Kreter sie, denn die Frauen hängten sie sich beim Stillen ihrer Babys als helfende Amulette um den Hals.

In Candia, dem heutigen Iraklio, machte Evans 1894 Bekanntschaft mit einem Mann namens Minos Kalokairinos. Er hatte bereits Schliemann gezeigt, was er 1879 entdeckt hatte. Nun zeigte er es Evans.

Die Gegend um den Hügel Kephala war schon lange dafür bekannt – oder vielleicht war es nie vergessen worden –, dass hier einst die griechische Stadt Knossos gestanden hat. Ausländische Reisende, die sich für so etwas interessierten, waren seit Jahrhunderten hierhin geführt worden; mitunter fand sich im Staub auch eine Münze dieser Stadt, auf der ihr Name geprägt war, und darüber ein Labyrinth.

Kalokairinos gab zwanzig Arbeitern Schaufeln und liess sie graben. Schon bald tauchten Mauern auf, die Umrisse eines riesigen Gebäudes und Räume, in denen mannshohe Tongefässe standen. Dann wurde Kalokairinos von der Regierung der Insel gestoppt: Sie fürchtete, dass er allzu attraktive Objekte finden und diese von den osmanischen Herrschern nach Konstantinopel verschleppt werden könnten.

3D model rotation of the Palace at Minos

Erst zwanzig Jahre später zeichnete Kalokairinos einen Plan des Geländes und schrieb an diese Stelle: «Der Palast des Königs Minos». Kein Wunder, dass sich ausländische Altertumsliebhaber für dieses Stück Land zu interessieren begannen.

Schliemann, der Kaufmann, versuchte mehrmals, Kephala zu erwerben, wie er es in der Türkei mit dem Hügel getan hatte, unter dem Troja lag. Aber auf Kreta scheiterte er, und 1890 war er tot. Auch Evans brauchte mehrere Jahre. Dann aber war es so weit.

Kapitel II: Der Palast des Minos

Minos herrschte über die Insel Kreta und das umliegende Meer. Alle neun Jahre traf er seinen Vater, den Gott Zeus, auf dem Berg Ida und erhielt dort von ihm die Gesetze für sein Reich. Minos’ Enkel Idomeneus führte die kretischen Truppen in den Kampf um Troja und brachte alle Männer wohlbehalten zurück.

Als Kalokairinos ihm erzählte, er habe den Palast des Minos gefunden, hatte Evans ihn noch verlacht. Nach wenigen Wochen in Knossos änderte er seine Meinung. Zuerst tauchten bei der Grabung Schrifttäfelchen aus Ton auf mit in geraden Reihen geschriebenen Zeichen, aber ganz anderen als denen auf den Milchsteinen. Evans erkannte zwei verschiedene Systeme, er nannte sie Linear A und Linear B. Dann kamen Fragmente von Wandmalereien ans Licht, darunter das Motiv einer Person, die ein grosses, trichterförmiges Gefäss trägt. «Habe Fresken und Schrift gefunden In Liebe Arthur», telegrafierte er an seinen Vater.

Und dann, nach zweieinhalb Wochen, stiessen die Arbeiter auf einen Raum, an dessen einer Wand ein aus Alabaster gehauener Stuhl stand. Evans tat, was er schon als Schüler am besten gekonnt hatte, und zog einen voreiligen Schluss: nämlich, dass eine Königin darauf gesessen habe. Nach kurzer Zeit schwenkte er um – die vertiefte Sitzfläche sei für weibliche Hüften zu schmal. In einem Artikel in der Zeitung «The Times» verkündete er, er habe tatsächlich den Palast und den Thron von König Minos entdeckt.

Selbst den Spaten geschwungen hatte er natürlich nicht. Evans hatte genug Geld, um das Projekt zu finanzieren. Aber ihm war bewusst, dass er von praktischer Archäologie keine Ahnung hatte. Er stellte den in dieser Hinsicht erfahreneren Duncan Mackenzie an, der die Grabung beaufsichtigen und dokumentieren sollte.

Die eigentlichen Erdarbeiten erledigten Arbeiter. Schon in dieser ersten Saison wuchs ihre Zahl von einigen Dutzend auf fast 200; Frauen wuschen die Tonscherben. Mackenzie verstand sich mit den Arbeitern gut, lernte ihren Dialekt, wurde zu Hochzeiten und Taufen in ihre Dörfer eingeladen. Evans, der Aristokrat, streifte in Anzug und Krawatte mit seinem Gehstock auf der Grabung umher und notierte in seinem Tagebuch nur Funde, die ihn interessierten und seine Vorstellungskraft beflügelten.

Geeignetes Material gab es genug. Gegraben wurde anfangs nur wenige Wochen lang im Frühjahr; nach der zweiten Kampagne war trotzdem bereits die Hälfte des zwei Hektaren grossen Gebäudekomplexes mit dem unbebauten Hof in der Mitte freigelegt. Zwar gab es nach 1905 eine Unterbrechung, weil das Geld dann doch irgendwann aufgebraucht war, und dann kam der Erste Weltkrieg. Aber immer wieder machte Evans weiter. Bis in die 1930er Jahre hinein kamen noch Dutzende kleinere Gebäude, Gräber und andere Fundorte im Tal von Knossos dazu.

Zwischen den Mauern holten die Arbeiter Tausende Funde ans Licht: Keramikgefässe mit kunstvoller Bemalung, Reihen riesiger Vorratsgefässe, das grösste 2,17 Meter hoch, Fayence-Figuren von Frauen mit Schlangen in den Händen, ein prachtvolles Spielbrett, Fresken mit Stiersprung-Szenen, Fresken mit Menschen, Fresken mit Tieren.

Mit modernen oder wenigstens halbwegs wissenschaftlichen Methoden wäre das genug Arbeit für 125 Jahre gewesen. Ausgrabung bedeutet Zerstörung; was nicht dokumentiert wird, ist für immer verloren. Evans aber lobte eine Belohnung für denjenigen Trupp aus, der zuerst alle Schichten abtrug und bis zur Felssohle vorstiess.

Kapitel III: Die Erfindungen des Daidalos

Zeus verwandelte sich in einen Stier und entführte die phönizische Prinzessin Europa nach Kreta. Sie gebar drei Söhne, einer von ihnen war Minos. Als die drei um die Herrschaft über die Insel kämpften, bat Minos den Gott Poseidon um ein Zeichen seiner Unterstützung. Der Gott schickte einen weissen Stier, den Minos opfern sollte. Minos weigerte sich angesichts der Schönheit des Tieres. Zur Strafe bewirkte Poseidon, dass sich Minos’ Frau Pasiphae in den Stier verliebte. Sie bat den Erfinder Daidalos, ihr ein kuhförmiges Gestell zu bauen. In dieses kletterte sie hinein und hatte so Sex mit dem Stier. Sie wurde von ihm schwanger und brachte ein Wesen zur Welt, dessen untere Hälfte menschlich war, die obere jedoch ein Stier: der Minotaurus. Minos liess Daidalos ein Labyrinth bauen, und das Monster wurde darin eingesperrt.

Als Evans im Februar 1901 nach Knossos zurückkehrte, hatte der Frühlingsregen die Grabungsfläche in eine Schlammwüste verwandelt. Der «Thronraum» mit seinem Sitz aus empfindlichem Stein, die Schrifttafeln aus ungebranntem Ton, die Wandmalereien – alles, was 3500 Jahre lang geschützt in der Erde gelegen hatte und die Welt in Staunen versetzte, drohte im Wetter des gerade beginnenden 20. Jahrhunderts zu zerfallen.

Schnell musste ein Dach errichtet werden; gestützt wurde es von Säulen, wie sie auf Wandmalereien zu sehen waren. Das war der erste Schritt von dem, was Evans als «Wiederherstellung» bezeichnete.

In der Bronzezeit waren die Wände aus Geröll und Lehmmörtel gebaut, mit Balken und Säulen aus Zypressenholz, die oberen Stockwerke aus Lehmziegeln. Bis in die frühen 1920er Jahre liess Evans zur Stabilisierung und zum Schutz vor allem Holz verwenden, das jedoch innerhalb weniger Jahre verrottete.

So entschieden er und die hinzugezogenen Architekten sich für ein Material, das gerade erst auf den Markt gekommen war: Stahlbeton. Dieser war nicht nur dauerhafter, er erlaubte auch, Evans’ Interpretation der archäologischen Überreste Gestalt annehmen zu lassen. Damit begann die endgültige Entfremdung von der bronzezeitlichen Gebäudesubstanz. Evans rekonstruierte und zerstörte zugleich.

Vor allem der Architekt Piet de Jong nutzte in den 1920er Jahren eifrig Stahlbeton. Schon bald hatte der Thronraum nicht nur ein Dach, sondern ein Obergeschoss mit einer Loggia.

Doch der Stahlbeton kannte nur eine Linienform: schnurgerade. Der britische Archäologe Robin George Collingwood besuchte Knossos und schrieb in sein Tagebuch, Knossos sehe aus wie eine Ansammlung von «Garagen und öffentlichen Toiletten».

Paradoxerweise ist trotz dem völlig andersartigen Material für den Betrachter, egal wie geübt sein Auge ist, unmöglich zu erkennen, was alt und was neu ist in Knossos. Denn das originale Material wurde überdeckt.

Evans liess nicht nur Mauern und Stockwerke rekonstruieren, sondern auch Objekte und Wandmalereien. Dafür engagierte er einen Schweizer Maler namens Émile Gilliéron.

Gilliéron machte aus einem Fragment aus schwarzem Stein den Kopf eines Stieres mit goldenen Hörnern. Er gab der kleineren der beiden Frauenfiguren mit Schlangen in den Händen einen Kopf und setzte eine Katze darauf. Eine blaue Figur, die Krokusse pflückt, rekonstruierte er als Jungen; in Wirklichkeit war es ein Affe.

Und Gilliéron dachte sich den Lilienprinzen aus. Evans hielt die Fragmente richtigerweise für Teile von drei verschiedenen Figuren. Aber der Maler ergänzte sie zu einem schreitenden Mann mit Federkrone, und Evans war damit zufrieden – er sah in diesem Bild «Minos selbst in einer seiner sterblichen Inkarnationen».

Der Lilienprinz ist frei erfunden. Aber er ist überall. Auf Kreta hängt er nicht nur im Museum, er grüsst auch von den Schiffen der Reederei Minoan Lines, von Olivenölflaschen, und von Kühlschrankmagneten und Schlüsselanhängern sowieso.

Evans schuf die Minoer aus Stahlbeton und Wandfarbe, aber auch auf Papier. In seinem sechsbändigen Werk «The Palace of Minos» sind Grabungsbericht und Interpretation ebenso wenig auseinanderzuhalten wie in Knossos die bronzezeitlichen Mauern und der Neubau. Im Bauwerk und in seinen Büchern entwarf er das Bild einer Gesellschaft, in der ein männlicher Herrscher auf dem Thron sitzt und in einem Palast wohnt, aber die oberste Instanz eine Muttergöttin ist; einen Herrscher, der Krieg und Gewalt kennt, aber so mächtig ist, dass er diese Mittel kaum anwenden muss; eine Gesellschaft von Frauen mit offenen Blusen und Menschen, die sich an Blumen erfreuen.

In Reiseführern und Broschüren, bei geführten Rundgängen und im Museum in Iraklio wird den Besuchern im Wesentlichen heute noch Evans’ Bild der Minoer und von Knossos vermittelt.

Die Rekonstruktion in Stahlbeton und auf Papier ist mächtiger als König Minos je gewesen sein kann: Sie sitzt fest in den Köpfen.

Kapitel IV: Der Faden der Ariadne

Als Theseus mit den zum Opfer bestimmten athenischen Kindern auf Kreta ankam, begegnete ihm eine Tochter von Minos und Pasiphae: Ariadne. Sie verliebte sich in den Helden und gab ihm ein Wollknäuel mit ins Labyrinth. Den Faden befestigte er am Eingang und rollte ihn immer weiter ab. Theseus tötete den Minotaurus und fand mithilfe des Fadens zurück zum Ausgang. Mit Ariadne fuhr er auf dem Schiff Richtung Athen, liess sie dann jedoch auf einer Insel zurück. Der Gott Dionysos fand sie und machte sie zu seiner Gefährtin. Theseus aber vergass, wie mit seinem Vater Aegeus vereinbart, als Zeichen seines Sieges über den Minotaurus ein weisses Segel zu setzen. Aegeus in Athen sah das Schiff mit dem schwarzen Segel und stürzte sich von den Felsen ins Meer, das seitdem das Ägäische heisst.

Im Jahr 1935 zeigten die Kreter, wie dankbar sie Arthur Evans waren. Da stellten sie im Beisein des 84-Jährigen sein bronzenes Abbild in Knossos auf. Er hatte ihnen ihre Vergangenheit geschenkt, eine glorreiche und prunkvolle Vergangenheit, und die ganze Welt konnte sie sehen.

Auch viele andere Menschen werden immer noch von Knossos angezogen; jedes Jahr besuchen fast eine Million Touristen die Stätte.

Archäologen aber treibt der Ort in den Wahnsinn. Die Rekonstruktion ist in vielen Fällen falsch. Zudem ist es sowieso illusorisch, festzulegen, wie das Gebäude einmal ausgesehen hat: Der Komplex bestand ab etwa 1900 v. Chr. über 600 Jahre und war eine ständige Baustelle.

Durch Evans’ selektive Dokumentation lässt sich kaum mehr bestimmen, welche Mauern oder Wandmalereien in welcher Phase existierten. Auf dieser Grundlage die Funktion von Räumen und des gesamten Gebäudes zu interpretieren und Grundsätzliches über die minoische Gesellschaft herauszufinden, ist unmöglich. Nach derzeitigem Kenntnisstand stammt zum Beispiel der sogenannte Thron, das Herzstück von Evans’ Theorie vom Priesterkönig, gar nicht aus rein minoischer Zeit. Er wurde erst in der Zeit mykenischen Einflusses installiert, als auch aus den Linear B-Täfelchen ein männlicher Herrscher belegt ist.

Es braucht neue Interpretationen.

Andrew Shapland ist Kurator des Arthur-Evans-Archivs und der Bronzezeit am Ashmolean Museum in Oxford und forscht seit Jahren zu Knossos. Er weiss, dass sich aus Fresken nicht die soziale Ordnung einer Gesellschaft ableiten lässt.

Trotzdem glaubt er, dass sie wichtige Hinweise enthalten: «Wir sehen keinen männlichen Herrscher, sondern Frauen, und immer tragen sie kunstvolle Kleidung», sagt er in einem Videogespräch. Aus den Linear-B-Täfelchen sei bekannt, dass in Knossos bis zu 50 Tonnen Wolle im Jahr angehäuft wurden. Die Wolle sei an Weberinnen verteilt worden – dass sie weiblich waren, zeigt die grammatikalische Endung – und die fertigen Stoffe seien wieder eingesammelt worden. In einem Untergeschoss des Palastes seien massenhaft Webgewichte gefunden worden, und es gebe grosse Becken, in denen Textilien Safrangelb und Purpur gefärbt werden konnten.

«Meine Interpretation ist, dass das Gebäude ein Zentrum des Textilhandels war und dieser von Frauen kontrolliert wurde», erklärt Shapland. Auch er vermischt dabei allerdings verschiedene Phasen, denn die Linear-B-Täfelchen stammen aus nachminoischer Zeit, als die Griechisch sprechenden Mykener Kreta dominierten. Die Linear-A-Täfelchen mit der Sprache der Minoer sind nach wie vor nicht entziffert.

In den vergangenen 125 Jahren haben Archäologen an Hunderten von Fundorten auf Kreta Zeugnisse aus minoischer Zeit ausgegraben, auch weitere Gebäudekomplexe mit Innenhöfen, wenn auch keiner so gross ist wie Knossos. Sie haben Argumente für und gegen die Existenz eines starken männlichen Herrschers angeführt. Sie haben darüber gestritten, ob man «Palast» sagen sollte oder lieber «hofzentrierter Gebäudekomplex». Sie haben wie Shapland die Hinweise auf Wollproduktion und Textilhandel in den Fokus gerückt und auch die Rolle des lange vergessenen Minos Kalokairinos.

Sie wissen, dass Arthur Evans in vielem falschlag. Aber sie haben es nicht geschafft, eine bessere Geschichte von den Minoern zu erzählen als er.

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