Freitag, April 25

Delgado ist einer der Besten der Welt in der Sportart Breakdance, die im Sommer erstmals olympisch sein wird. Dabei hielten ihn seine Eltern für einen Versager. Über einen, der scheinbar nie gut genug war – und trotzdem immer an sich glaubte.

Oktober 1990, San Francisco: Omar Delgado ist acht Jahre alt und obdachlos. Seine Heimat in der mexikanischen Grossstadt Guadalajara ist weit weg, nun übernachtet er in einem Auto, einem uralten Lincoln.

Zwei Jahre zuvor migrierte Delgado mit seinen Eltern und dem älteren Bruder von Mexiko nach Kalifornien. Der Vater hoffte hier auf Arbeit auf Weingütern. Die Familie wohnte zunächst in billigen Hotels. Doch dann ging das Geld aus, der Vater verdiente zu wenig, sie übernachteten fortan im Auto. Jede Nacht mussten sie sich ein neues Versteck suchen, manchmal parkierten sie inmitten von Weinreben im Napa Valley. Bloss nicht auffallen! Nach einem Monat fanden sie eine neue Bleibe, sie hatten nur ein Zimmer zur Verfügung, das sie sich zu viert teilten.

Heute ist Omar Delgado 42 Jahre alt, er lebt in Bern mit seiner Schweizer Frau und führt ein angenehmes Leben. Rückblickend spricht er von seiner Jugend als einer harten Zeit, einer, die ihn geprägt habe. Delgado sagt: «Meine Kindheit hat mich gelehrt, diszipliniert zu sein und durchzuhalten.»

Nur dank diesen Eigenschaften, sagt er, habe er sein grosses Ziel erreicht: einer der besten Breakdancer der Welt zu werden. Mehrmals wurde er Weltmeister, noch immer tritt er zu Wettkämpfen an. Und er vermittelt sein Wissen weiter: Delgado ist der Trainer der Breakdancer des Schweizer Nationalkaders.

Hip-Hop hat in den USA den Unterdrückten eine Stimme gegeben

Die Medien nennen Delgados Tanzstil Breakdance, in der Szene spricht man von Breaking. Die Tänzer und Tänzerinnen heissen B-Boys und B-Girls. Die Bewegungen sind energiegeladen, eigenwillig, verbinden Akrobatik mit Tanz.

Wenn Delgado zu Rap tanzt, dreht er sich auf dem Kopf schwindelerregend schnell um die eigene Achse, verknotet sich, macht einhändig den Handstand. Er ist nur 1 Meter 65 gross, ein Vorteil. Er ist flink und stark; perfekte Voraussetzungen für B-Boys.

Delgado spricht Englisch, die Stimme ist sanft und leise. Er sagt: «Wenn man aus armen Verhältnissen stammt, hat man das Gefühl, dass alle gegen einen sind. Du hast so viel zu beweisen. Was auch immer du schaffst, es ist nie genug.»

Seine Geschichte ist die eines Immigranten, der sich immer behaupten musste: Delgado hat sich aus der Armut getanzt.

Alles begann mit einem Radio. Als Delgados Bruder Héctor von der Schule nach Hause kam, spielte er Rap-Songs von Dr. Dre, Snoop Dogg oder MC Hammer ab. Omar, der nur lateinamerikanische Musik kannte, hörte Hip-Hop zum ersten Mal. Und verliebte sich in diese Musik. Auf einem Schulball im Herbst 1994 sah er dann, wie einige seiner mexikanischen Mitschüler dazu tanzten. Er war fasziniert, wollte dazugehören.

Hip-Hop hat in den USA den Unterdrückten eine Stimme gegeben: den Afroamerikanern, den Latinos. In den 1970er Jahren entstand die Musikbewegung als Subkultur im New Yorker Stadtbezirk Bronx – und wurde von den Ghettos in die Welt hinausgetragen. Rapmusik und Breaking waren Teil dieser Bewegung.

Auch Delgado fand im Breaking eine Perspektive. Seine Herkunft als Immigrant wurde nebensächlich, es ging nur noch um seine Fähigkeiten, um die Musik. Er beobachtete ältere Mitschüler beim Breaken, sass in den Schulpausen auf der Tribüne der Sporthalle, versuchte sich die Abfolgen einzuprägen. Zu Hause übte er dann mit drei Freunden die Abfolgen, dachte sich neue Bewegungen aus.

Delgado hielt sein Hobby geheim, noch war er ein Anfänger, er fühlte sich unterlegen. Bis er in der Schule zu einem Duell herausgefordert wurde, einem inoffiziellen Tanzwettstreit. Delgado tanzte besser als sein Kontrahent, die Mitschüler, die zuschauten, stimmten für ihn. Er hatte seinen ersten Battle gewonnen.

Das Geld war in seiner Familie noch immer knapp, die Verhältnisse waren beengt, das Gefühl, nicht dazugehören, war allgegenwärtig. In San Francisco bekriegten sich in den neunziger Jahren mexikanische Banden, es war ein brutaler und blutiger Konflikt. Es ging um Gebietsansprüche, Drogenhandel und Macht. Einige von Delgados Freunden beteiligten sich am Bandenkrieg, flüchteten vor der Perspektivlosigkeit. Delgado sagt: «Ein Freund von mir versuchte, jemanden umzubringen. Er musste ins Gefängnis.»

Es hätte auch Delgado treffen können. Doch er kanalisierte seine Energie ins Tanzen. Es war seine Art, sich zu beweisen. Er kämpfte, ohne die Faust zu erheben.

Tanzen ist seine Version des American Dream

Delgado begann sich einen Namen als B-Boy zu machen, trat gegen Konkurrenten aus der ganzen Stadt an. Bald hatte er in San Francisco keine Gegner mehr. Er reiste durch Kalifornien, immer auf der Suche nach dem nächsten Battle. In vier Jahren gewann er zwanzig Wettkämpfe. Manchmal trat er allein an, manchmal mit seiner Crew, so nennt man eine Gruppe von B-Boys oder B-Girls.

In der Breaking-Szene war Delgado eine Grösse, doch daheim stand er unter grossem Druck. Seine Eltern waren gegen seine Leidenschaft. Sie sagten, sie hätten ihn in die USA gebracht, damit er ein Studium beginne, einen guten Job finde. So wie sein älterer Bruder Héctor: ein vielversprechender Leichtathlet, dem Adidas das Masterstudium gesponsert hatte. Der American Dream war für Héctor wahr geworden.

Omar Delgado hingegen tanzte auf der Strasse, hatte sich gegen ein Studium entschieden, verdiente kaum etwas mit Breaking. In den Augen seiner Eltern war er ein Versager. Er schuftete für seine Unabhängigkeit und seinen Traum von der Breaking-Karriere. Dafür jobbte er als Tanzlehrer, als Pizzakurier oder als Schuhverkäufer.

Er reiste auf eigene Kosten fürs Breaken um die Welt: nach Japan, Frankreich, Portugal, Grossbritannien. Als er für einen Battle in die Schweiz kam, lernte er Nora kennen, seine jetzige Ehefrau. Sie heirateten und wurden Eltern einer Tochter, die heute zweijährig ist.

Delgado gewann über hundert Wettkämpfe, wurde Markenbotschafter von Red Bull, spielte in einer Dokumentation über Breaking mit. Allmählich begannen seine Eltern zu realisieren, dass ihr Sohn etwas Besonderes erreicht hatte; dass er seine persönliche Version des amerikanischen Traums verwirklichte.

Ihm fehlt das Geld für die Olympischen Spiele

In der Schweiz gibt es seit kurzem einen Verband, der Breaking in der Schweiz fördern und voranbringen soll. Als Trainer des Nationalkaders veranstaltet Delgado Trainingscamps. Und manchmal trainiert er sich in seiner Freizeit selber, so wie kürzlich an einem Montagabend.

Delgado übt in einem Gymnastikraum in Bern mit drei B-Boys neue Bewegungsfolgen ein. Es läuft Rap, die Männer tragen Baggy-Hosen, abwechselnd tanzt jemand in der Mitte. Die jungen Männer sprechen Delgado mit dem Künstlernamen «RoxRite» an; für sie ist er ein unerreichbares Vorbild. Der Tänzer David Fan Bächi sagt: «Rox ist ein Freak. Er lebt Breaking anders, als wir es je können.»

Im kommenden Sommer in Paris wird Breaking zum ersten Mal im Wettkampfprogramm der Olympischen Spiele sein. Delgado sagt: «Ich hätte nie gedacht, dass das zu meinen Lebzeiten passieren würde.» Vom Schweizer Nationalteam qualifizierte sich jedoch niemand für Paris. Die Konkurrenz war zu gross. Insgesamt dürfen nur je 16 B-Boys und B-Girls antreten. Auch Delgado wird nicht zu den Teilnehmern gehören.

Er hätte für das mexikanische Team antreten müssen. Anders als in der Schweiz gibt es in Mexiko keinen Breaking-Verband, der ihn unterstützen würde. An den Olympischen Spielen teilzunehmen, kostet viel Geld – Geld, das Delgado nicht hat. Noch immer ist Breaking eine Randsportart, reich wird man damit nicht, auch nicht, wenn man ein Star wie Delgado ist.

Er könnte verbittert sein, doch das ist er nicht. Er hoffe, dass die Olympischen Spiele die Breaking-Szene sichtbarer machten. Delgado sagt: «Ich will einen B-Boy sehen, der wie Cristiano Ronaldo Millionen verdient. Wir haben grosse Talente im Breaking, doch niemand kennt ihre Geschichten.»

Diese Geschichten müssen zuerst geschrieben und erzählt werden.

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