Montag, September 30

Niklaus Oberholzer wird überall dort gerufen, wo es nach Skandal riecht. Wer ist dieser Mann?

Er ist noch keine 32 Jahre alt, als er einen der berühmtesten Mordfälle des Landes übernimmt. Niklaus Oberholzer hat erst kurz zuvor sein Jurastudium abgeschlossen und eine Stelle als Untersuchungsrichter in St. Gallen angetreten. Jetzt richtet sich sein Blick auf das Dorf Kobelwald, dorthin, wo sich das Rheintal zum Alpstein hin hebt.

Er soll herausfinden, was mit den zwei Teenager-Mädchen passiert ist, die drei Jahre zuvor, im Sommer 1982, auf einer Velotour verschwunden sind. Ihre Leichen wurden in der Nähe einer Höhle gefunden, die dem Verbrechen ihren Namen lieh: Kristallhöhlenmord.

Später wird Oberholzer erzählen, er habe in seiner Karriere nie so viele dubiose Gestalten befragen müssen wie damals. Da seien einfach zu viele Verdächtige gewesen, und es habe ein Gebot des Schweigens geherrscht wie in einem sizilianischen Dorf. Die Spuren waren längst verwischt. Oberholzer muss kapitulieren, der Fall bleibt ungelöst.

Trotzdem ist es kein Versehen, dass der gleiche Mann vier Jahrzehnte später nach Zürich geholt wird, um dort ein anderes komplexes Rätsel zu lösen, das die Öffentlichkeit seit Jahren umtreibt. Es geht unter anderem um die Frage, warum es in der Herzklinik des Zürcher Unispitals von 2016 bis 2020 zu ungewöhnlich vielen Todesfällen kam. Das Spital hat den 70-Jährigen als Leiter einer Untersuchungskommission eingesetzt.

Der St. Galler gilt als «Spezialist für schwierige Ermittlungen», und dieser Ruf hat viel mit einem Anruf zu tun, der ihn Anfang 1989 erreicht. Am Apparat ist der Zürcher Nationalrat Moritz Leuenberger, Jurist und SP-Mitglied, genau wie Oberholzer. Er fragt diesen, ob er in der parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) mitmachen wolle, die wegen der Affäre Kopp eingesetzt wurde. Es ist jene Untersuchung, die später die Fichenaffäre auslösen wird.

Der junge Untersuchungsrichter wird zu einem der engsten Mitarbeiter von Leuenberger. Erneut zeigt sich, dass er nicht zu jenen Juristen gehört, die sich am liebsten hinter Akten verschanzen. «Wir fuhren mit dem Zug durchs Land, besuchten die Leute zu Hause oder auch im Gefängnis», erzählte er einmal in der «Wochenzeitung».

Während die PUK für SP-Politiker wie Leuenberger oder Alexander Tschäppät zum Sprungbrett für eine steile Karriere wird, muss Oberholzer seine Ambitionen zurückstellen: Als er in den neunziger Jahren Bundesrichter werden will, unterliegt er in einer parteiinternen Ausmarchung.

Er mischt sich oft und gerne über die Medien ein

Er arbeitet als Strafverteidiger, wird Kantonsrichter, übernimmt weitere Untersuchungen für den Bund – und schaltet sich immer wieder in öffentliche Debatten ein. Dabei offenbart sich eine durch die Fichenaffäre gestärkte Überzeugung, dass der Staat eine Tendenz hat, seine Bürger auszuschnüffeln. Ohne konkrete Tat, sondern auch auf blossen Verdacht hin.

Immer wieder warnt Oberholzer davor, die Kompetenzen von Polizei oder Geheimdiensten zu stark auszuweiten, etwa mit DNA-Profilen und Datenbanken. Obwohl er ahnt, dass dies damals geholfen haben könnte, den Kristallhöhlenmord aufzuklären.

Oberholzer spricht sich in diesen Jahren auch oft gegen die Verschärfung von Strafen aus, wie sie vermehrt gefordert werden. Er profiliert sich in der SP als Gegenpol zum «Law and Order»-Mann Daniel Jositsch. Ein leidenschaftlicher Richter und Ermittler, der offen über seine Skrupel spricht: In dieser Rolle wird Oberholzer gerade von linkslastigen Medien oft und gerne interviewt. Rechts der Mitte löst sie eher Irritation aus.

Dennoch scheint es nur folgerichtig, dass er 2010 in die neu gebildete Aufsichtsbehörde gewählt wird, die der Bundesanwaltschaft auf die Finger schaut. Und zwei Jahre später schafft er endlich auch die Wahl zum Bundesrichter. In dieser Funktion erweist er sich trotz SP-Parteibuch als unabhängiger Geist, der Linke wie Rechte gleichermassen vor den Kopf stossen kann.

So trägt er einerseits mit voller Überzeugung das Urteil mit, dass der Hitlergruss eines Neonazis auf dem Rütli keine Rassendiskriminierung gewesen sei. Es habe sich um ein persönliches Bekenntnis gehandelt, und das sei nicht strafbar. Andererseits votiert er für die Verurteilung zweier SVP-Exponenten, die das Abstimmungsinserat «Kosovaren schlitzen Schweizer auf» verantworten.

Die Aufsicht über die Bundesanwaltschaft, deren Präsident er inzwischen ist, agiert unter seiner Leitung aber auffallend zurückhaltend. Das sorgt für Kritik: Er habe über klare Rechtsverletzungen hinweggesehen, als sich Bundesanwalt Michael Lauber während eines Verfahrens mehrfach im Geheimen mit Fifa-Präsident Gianni Infantino traf.

Ungemütlich wird es für Lauber erst, als Oberholzer sein Amt Ende 2018 abgibt. Ein Jahr später tritt er vorzeitig auch als Bundesrichter zurück. Die vermeintliche Krönung der Karriere scheint ihm nicht die erhoffte Erfüllung gebracht zu haben.

Die Gründlichkeit hat ihren Preis

Oberholzer wendet sich umgehend wieder dem zu, was er augenscheinlich immer am liebsten tat: in komplexen Fällen ermitteln. Und solche gibt es genug, denn wo immer Skandale brodeln – echte oder eingebildete –, wenden sich die Entscheidungsträger früher oder später an professionelle Wahrheitsfinder.

So klärt Oberholzer zum Beispiel 2021 im Auftrag des Bundes die Frage, ob das Sicherheitspersonal in Bundesasylzentren systematisch Gewalt anwende (Antwort: Nein). Dabei geht er ähnlich vor wie schon am Anfang seiner Karriere – und wie es ihm als Bundesrichter nicht mehr möglich war: Statt bloss Akten zu wälzen, reist er an den Ort des Geschehens und befragt jene Leute, die in den Zentren für Ordnung sorgen sollen.

Diese Gründlichkeit hat ihren Preis: Für die etwa viermonatige Untersuchung zahlt der Bund laut einer Auflistung von Auftragsvergaben knapp 180 000 Franken.

Die Aufarbeitung der Vorfälle am Zürcher Unispital dürfte noch einiges mehr kosten. Denn erstens dürfte sie dreimal so lang dauern, zweitens ist Oberholzer dort Leiter einer dreiköpfigen Kommission.

Der ehemalige Bundesrichter, der sich erst seit wenigen Tagen mit der Materie befasst, hält eine «gründliche Untersuchung der Vorkommnisse» am Spital für dringend nötig. Mehr will er vorderhand nicht zu seinem Vorgehen sagen.

Gut möglich, dass er es auch in Zürich nicht dabei belässt, Berge von Operationsberichten zu durchforsten. Sondern dass er in direkten Befragungen versucht, das Schweigen zu durchdringen, wie einst in Kobelwald. Diesmal hoffentlich mit mehr Erfolg.

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