Der E-Bike-Hersteller Flyer schliesst seine Fabrik im Emmental. Das macht Philippe Kohlbrenner, den Erfinder des Ur-Flyers, tieftraurig. Wäre der Niedergang zu verhindern gewesen?
Das Traditionsunternehmen Flyer schliesst seine Fabrik in Huttwil im Emmental. Der E-Bike-Hersteller ist der grösste Arbeitgeber der Region, doch nun soll die Produktion ins Ausland verlagert werden. Von 170 Arbeitern und Arbeiterinnen verlieren dann fast alle ihren Job.
Auch Philippe Kohlbrenner spürt in diesen Tagen einen Schmerz. Er arbeitet nicht mehr für Flyer. Aber Flyer, dieses Schweizer Elektrovelo, ist seine Erfindung. Er sagt: «Die Schliessung ist zum Heulen.»
Kohlbrenner ist 61 Jahre alt, mehrfacher Grossvater, lebt in einem Haus am Waldrand im Emmental, weit oben über Oberburg. Er hat den Flyer in den 1990er Jahren entwickelt. Den Aufstieg seiner Erfindung zum Schweizer Original verfolgte er aus der Ferne.
Philippe Kohlbrenner gehört zur Garde der vergessenen Erfinder. Er hat ein Produkt erfunden, das heute die ganze Schweiz kennt. Philippe Kohlbrenner kennt niemand. Er hat für seine Erfindung nie das grosse Geld oder Ruhm bekommen.
Dabei hätte es anders kommen können.
Die Erfindung
1993 war das Jahr, in dem sich für Kohlbrenner alles änderte. Er lebte damals auf der Lueg, zuoberst auf einem Hügel im Emmental. Hänge, Tannenwälder, Wiesen, im Hintergrund sieht man die Jungfrau. Kohlbrenner arbeitete unten im Dorf, in Oberburg, als Planer und Verkäufer bei einer Firma für Solaranlagen.
Kohlbrenner war damals dreissig Jahre alt. Er und seine Frau hatten gerade ein Kind bekommen. «Es war eine schöne, aber anstrengende Zeit.» Kohlbrenner musste jeden Tag 300 Höhenmeter den Berg hochradeln. Irgendwann habe er gedacht: «Ans Velo mache ich jetzt mal ein Motörli dran.»
Kohlbrenner demontierte den Motor eines Lastwagenscheibenwischers und befestigte ihn zusammen mit einer Autobatterie im Rahmen seines Fahrrads. Das Konstrukt fuhr.
Der Aufstieg
Philippe Kohlbrenner zeigte das Velo mit dem Motor seinem besten Freund Reto Böhlen, ebenfalls ein Velofan. Zusammen bauten sie Prototypen des Velos, luden sie in den Kofferraum und karrten sie nach Zürich, um Leute Probe fahren zu lassen. Heute sagt Kohlbrenner: «Das Ganze war sehr improvisiert.»
Sie hätten damals kein Geld gehabt. Seien von jeder Bank, der sie ihre Idee vorgestellt hätten, abgelehnt worden. Also brauchten sie Kunden, die an sie glaubten und sie finanzierten. Nach fünfzig Bestellungen haben sie losgelegt. Das war 1995. Die beiden Freunde holten Christian Häuselmann, der Kontakte zur ETH hatte, dazu und gründeten die Firma BKTech.
Erst lief alles gut. 1996 gewannen sie einen Startup-Förderpreis von
100 000 Franken, ein Jahr später stiegen der frühere CEO der heutigen Swatch-Group Ernst Thomke und der damalige Sonova-Besitzer Andy Rihs als Investoren ein. Plötzlich seien sie dreissig Leute gewesen, die das Velofahren neu hätten erfinden wollen. «Wir haben alles auf den Kopf gestellt, Motoren, Akkus und Rahmen entwickelt – eine grandios lehrreiche Zeit war das.»
Kohlbrenners Stimme wird hell, die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus. Vier Jahre haben er und sein Team getüftelt und entwickelt. Dann brachten sie 2001 das Modell New Flyer auf den Markt – ein E-Bike, das auf 45 Kilometer pro Stunde kam.
Doch die Verkäufe blieben aus.
Der Fall
«Kohlbrenner hat wahnsinnig Pech gehabt», sagt Martin Platter. Er ist Geschäftsführer von Velosuisse, dem Verband für Schweizer Velolieferanten. Platter erinnert sich noch gut an das Jahr, in dem Kohlbrenners New Flyer auf den Markt kam. Es habe durchgängig geregnet. «Es war einer der miserabelsten Frühlinge der Geschichte.»
Für eine wetterabhängige Branche wie die der Fahrräder war das fatal. Die Leute wollen Velo fahren, wenn es schön ist. Regnet es, nehmen sie den Bus.
Auf das schlechte Wetter in jenem Frühling folgten schlechte Neuigkeiten. Kohlbrenner sagt, durch das Platzen der Dotcom-Blase hätten ihre Investoren Geld verloren, seien unruhig geworden. Gleichzeitig hätten er und sein Team technische Probleme gehabt, etwa beim Schweissen von Aluminiumteilen. Die Investoren hätten daraufhin die Finanzierung gestrichen. «Wir haben damals eine riesige Kiste in die Gänge gebracht. Doch wir waren noch jung, naiv und unerfahren.»
Alles sei sehr schnell gegangen, sie seien den Meilensteinen in ihrem Businessplan hinterhergerannt, aber nicht nachgekommen. Immer seien sie ein bisschen zu spät gewesen.
Gleichzeitig waren sie für den Markt viel zu früh: Heute ist jeder schon einmal mit einem E-Bike gefahren. Aber damals verstanden die Menschen das E-Bike noch gar nicht. «Ein Elektrovelo begreift man erst, wenn man es ausprobiert», sagt Kohlbrenner. Für eine grosse Marketingaktion hätten aber die nötigen Ressourcen gefehlt.
Martin Platter vom Verband Velosuisse sagt: «Kohlbrenner war damals seiner Zeit voraus.»
«Wir haben alles verloren»
2001 musste Kohlbrenners Unternehmen BKTech Konkurs anmelden. Das Gründerteam war erschöpft. «Wir konnten einfach nicht mehr aus uns herauspressen.» In jener Zeit haben der damals als CEO im Unternehmen angestellte Kurt Schär und der Unternehmer Hans Furrer die Konkursmasse übernommen – für «ein Butterbrot», also extrem wenig Geld, wie Kohlbrenner sagt. «Wir haben ein riesiges Lager mit Fahrradteilen hinterlassen. Für über tausend E-Bikes.»
Kohlbrenner und seinen Gründerkollegen ist davon nichts geblieben. «Wir haben alles verloren.»
Die Käufer lancierten nach der Übernahme den Flyer neu, diesmal auf ein älteres Zielpublikum zugeschnitten. Das sei in jener Situation die einzig richtige Entscheidung gewesen, sagt Kohlbrenner. «Es war die Wiedergeburt des Flyers.»
Seiner Zeit voraus
Philippe Kohlbrenner selbst brauchte nach dem Konkurs erst einmal Abstand, zog sich zurück aus dem Velobusiness. Sieben Jahre arbeitete er beim Medizintechniker Ypsomed und entwickelte Insulinpens – Spritzen für Diabetiker und Diabetikerinnen. Auch dieses Geschäft wurde in den letzten Jahren immer wichtiger. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Kohlbrenner war wieder bei der Entwicklung eines Produkts dabei, das noch grösser, noch erfolgreicher werden wird – aber erst nach seiner Zeit.
Die Arbeit in der Medizintechnik bereitete ihm Freude, aber Kohlbrenner merkte: «Mein Herz schlug immer fürs Elektrovelo.»
Kohlbrenner wollte zurück zu seinem Flyer. 2008 bekam er bei seinem einstigen Unternehmen ein Mandat. Er sollte für den Betrieb, der seine Motoren bis dahin einkaufte, eigene Antriebssysteme und Akkus entwickeln. «Wir waren uns einig: Wenn der Flyer langfristig überleben will, braucht er Unterscheidungsmerkmale.» Er müsse sich von der Konkurrenz abheben. «Ein E-Bike aus gekauften Einzelteilen zusammenbauen kann jeder.»
Kohlbrenner tüftelte also zwei Jahre an den Antriebssystemen, meldete Patente an. Ein schwieriges Unterfangen, das allein nicht zu lösen war. Wieder und wieder bat er um Unterstützung, um ein eigenes Team. Doch die Geschäftsleitung hörte nicht auf ihn.
Der unverstandene Erfinder
«Die Entscheidungsträger waren vom rasanten Wachstum des Unternehmens absorbiert, hatten zu wenig Zeit für die Innovationen», sagt Kohlbrenner. Das Projekt sei versandet. «Vielleicht, weil ich zu wenig ernst genommen worden bin. Vielleicht, weil die anderen das Problem nicht so gesehen haben wie ich.» Als er verstanden hatte, dass man nicht an seine Vision glaubte, ging Kohlbrenner, um seine eigenen E-Bikes zu bauen.
Er wäre gerne in die Weiterentwicklung des Flyers involviert gewesen. Bis heute verspüre er Stolz, wenn auf der Strasse ein Flyer an ihm vorbeifahre. Kohlbrenner spricht jetzt wie ein Vater über sein Kind.
Der Flyer ist ein Schweizer Traditionsprodukt, steht für Swissness. Dabei ist Flyer schon längst kein Schweizer Unternehmen mehr. Der Hauptsitz befindet sich zwar in Huttwil. Flyer gehört aber seit 2017 der deutschen Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG). Diese will jetzt die Schweizer Produktion in E-Bike-Werke im Ausland verlagern. Der Entscheid der Kölner Zentrale hat die Schweizer Geschäftsleitung überrascht, wie Flyer auf Anfrage bestätigt.
Die Schliessung der Schweizer Produktion macht ihn traurig
«Es ist enttäuschend, wenn man Schweizer Produkte ans Ausland verliert», sagt Kohlbrenner. Er glaubt noch immer an seine Idee von damals: «Hätte man mehr in die Entwicklung eines eigenen Antriebs investiert, wäre Flyer heute vielleicht noch ein Schweizer Unternehmen.» Aber hinterher lasse sich solches leicht sagen.
Beim Flyer, sagt Kohlbrenner, sei es wie bei den eigenen Kindern. Wie schnell sie wüchsen und wie sie sich entwickelten, könne man als Eltern nicht wirklich beeinflussen.
«Die Schwierigkeiten für Flyer haben sich bereits kurz nach der Finanzkrise abgezeichnet», sagt Martin Platter vom Branchenverband Velosuisse. Damals habe es Absatzschwierigkeiten im Automobilsektor und erste Ankündigungen einer Verkehrswende gegeben. Grosse Industrietechniker wie Bosch seien auf den E-Bike-Markt aufmerksam geworden.
Bosch entwickelte damals einen E-Bike-Antrieb mit Motor, Steuerung und Akku, mit dem jeder Velohersteller unter eigenem Markennamen zum E-Bike-Anbieter werden konnte. «Bis 2011 war Flyer der einzige namhafte E-Bike-Hersteller in der Schweiz, der Markenname quasi das Synonym fürs E-Bike», sagt Platter. Nachdem Bosch im selben Jahr jedoch die entwickelten Antriebe zum Verkauf angeboten habe, habe es plötzlich Dutzende E-Bike-Marken in der Schweiz gegeben.
Mit der Konkurrenz stieg der Preisdruck. Zwar begann Flyer in der Zwischenzeit auch, an eigenen Motoren zu arbeiten. Jedoch mit zeitlicher Verzögerung. Das Unternehmen führte 2015 seine eigene Antriebstechnologie ein.
Vier Jahre nach Bosch. Und sieben Jahre nach Kohlbrenners Mandat.
Kohlbrenner macht weiter
Kohlbrenner hat sich seine Liebe für die Technik und den Flyer bewahrt. Und manchmal wird er nostalgisch, wenn er an seine Geschichte denkt.
Heute hat er ihn, seinen eigenen Antrieb. Er führt ein eigenes E-Bike-Unternehmen in Häusernmoos, einem kleinen Dorf im Emmental. Fünf Leute arbeiten im Betrieb der Swiss-Urbanbikes. Sie bauen jedes Velo von Hand, auf den Kunden oder die Kundin zugeschnitten. Die Konstruktion mit dem Akku in der Mitte des Rahmens erinnert noch an den Ur-Flyer aus den 1990er Jahren.
«Wir haben die stärksten Motoren im Land, 1000 Watt – stärkere darf man in der Schweiz nicht haben.» Wenn Kohlbrenner von den Motoren erzählt, spricht er schneller.
Und ein bisschen fühlt er sich dann zurückversetzt in die Zeit, in der er in seiner Garage den Scheibenwischermotor an sein Velo schraubte. Ausprobierte, wie er schneller und noch schneller den Berg hochkommen konnte mit seinem Velo.
Er nannte es damals: den «Roten Büffel».
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