Mittwoch, Februar 5

St. Gallen führte 1975 als erste Gemeinde der Schweiz den gebührenpflichtigen Kehrichtsack ein. Er ist eine Erfolgsgeschichte.

Er ist das Utensil im Haushalt, das am meisten verwendet wird. Wenn Brösmeli herumliegen oder das Joghurt leer ist, öffnet man die Schranktüre unter dem Spülbecken, und da kommt er einem entgegen: der Kehrichtsack.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Der gebührenpflichtige Khüder- (Bern), Pfüel- (Oberwallis) oder Güselsack (Aargau) ist der Problemlöser des Alltags. Er nimmt sich dessen an, was stört oder nicht mehr gebraucht wird. Er ent-sorgt im Wortsinn.

Ist der Sack voll, stellt man ihn einfach vor das Haus. Dort wird er von den Müllmännern abgeholt, wird im Container hinter den Lastwagen gerollt, dann aufgehoben und ausgeschüttet in das Innere des Lastwagens, und dann springen die Müllmänner, diese Helden der Kinder, auf den kleinen Tritt hinter dem Rad, als führen sie Strassenbahn in San Francisco.

Dieses Jahr feiert der Gebührensack sein 50-Jahr-Jubiläum. Er ist das Symbol der aufgeräumten Schweiz.

Frieda Meile against the rest

Die Geschichte des Gebührensacks begann in der Stadt St. Gallen, wo sich Ende der sechziger Jahre ein Bewusstsein für Umweltprobleme entwickelte. Damals warfen die St. Gallerinnen und St. Galler ihren Abfall vor allem in den Ochsnerkübel, eine metallene Tonne, die an den Strassenrand gestellt und in regelmässigen Abständen geleert wurde – und später die bekannte Berner Musikgruppe Patent Ochsner zum Bandnamen inspirierte. Abfuhr und Deponierung des Kehrichts bezahlten die Leute mit den Steuern, wobei es einerlei war, wie viel Abfall sie erzeugten.

Die Abfallmengen und damit die Entsorgungskosten stiegen in jener Zeit stark an. Die Parlamentarier in der Stadt St. Gallen waren sich einig: Jene Bürgerinnen und Bürger, die mehr Abfall produzieren, müssen sich an den Kosten beteiligen. Aber wie sollte ihr Anteil bemessen sein? Nach langen Debatten entschied das Parlament auf Antrag der Stadtregierung, die Kosten an die Grösse der Wohnung zu koppeln.

Die damals 55-jährige Frieda Meile aus St. Gallen habe sich «grandios aufgeregt» über den Beschluss, erzählt der pensionierte Lokaljournalist Reto Voneschen, ein Chronist der Stadt St. Gallen. Frieda Meile mietete mit ihrer Schwester eine grosse Wohnung, in der die Eltern gelebt hatten. Mit dem neuen Reglement hätte sie mehr für den Abfall bezahlen müssen als die Familie, die im unteren Stock in einer kleineren Wohnung wohnte.

Meile wollte deshalb das fakultative Referendum ergreifen. Eintausend Unterschriften innert 30 Tagen waren nötig. Sie erhielt lediglich Unterstützung vom «Anzeiger», einem regionalen Gratisblatt. Meile sammelte schliesslich 4811 Unterschriften. Auch beim Abstimmungskampf war sie auf sich allein gestellt, während die Parteien und die Tageszeitungen für das Berechnungsmodell mit der Wohnungsgrösse weibelten. Doch die St. Galler Bevölkerung folgte Meile und lehnte die Vorlage am 8. Dezember 1974 sensationell ab.

Der Stadtrat setzte daraufhin auf eine Lösung, die das Parlament zuerst abgelehnt hatte: die Kehrichtabfuhr neu über einen Gebührensack zu organisieren. Am 30. Juni 1975 führte St. Gallen als erste Gemeinde der Schweiz den gebührenpflichtigen Kehrichtsack ein.

«Der ‹Güsel-Graben› hält sich hartnäckig»

Auch auf nationaler Ebene gab es Veränderungen. In den achtziger Jahren passte der Bund das Umweltgesetz an. Die Abfallentsorgung hatte sich fortan – wie in der Stadt St. Gallen – nach dem Verbraucherprinzip zu richten. Wer also mehr Abfall produzierte, musste mehr für die Entsorgung bezahlen. Als Gemeinde stand es einem frei, wie man das Verbraucherprinzip umsetzt.

Unzählige Deutschschweizer Gemeinden entschieden sich in den folgenden Jahren für den Gebührensack. Nur im Tessin und der Romandie war er lange Zeit kaum verbreitet. Noch 2015 bemerkte der SRG-Newskanal Swissinfo: «Der ‹Güsel-Graben› hält sich hartnäckig.»

Inzwischen haben auch Walliser, Waadtländer und Tessiner Gemeinden den Gebührensack eingeführt, doch der Güsel-Graben existiert noch immer: Der Kanton Genf entrichtet bis heute keine Gebühren für die Kehrichtsäcke, die Bevölkerung bezahlt die Abfallentsorgung mit den Steuern. Das widerspricht dem Verursacherprinzip. Darum hat der Bundesrat das Genfer Abfallgesetz am 8. Dezember 2023 nur teilweise gutgeheissen. Es laufe ein Verfahren, sagt das Bundesamt für Umwelt (Bafu) auf Anfrage.

Das Verursacherprinzip jedenfalls wirkt. Laut dem Bafu haben sich die Kehrichtmengen seit der Einführung der Sackgebühr im Durchschnitt um dreissig Prozent verringert. Der Grund: Die Leute trennen den Müll und entsorgen Glas- oder PET-Flaschen bei den kostenfreien Entsorgungsstellen, anstatt die teuren Kehrichtsäcke damit zu füllen.

Ordnung auch im Abfall

Die Schweizerinnen und Schweizer trennen den Abfall fast lustvoll. Sie sortieren Glas und Grünzeug, Papier und Plastik, warten, bis sie ihre leeren Schachteln für die Kartonsammlung am Strassenrand stapeln dürfen. «Nächste Woche ist wieder Karton», sagen sie einander. Es ist Karton. Als sei das ein Feiertag. Und wenn jemand den Karton zu früh vor das Haus stellt, protestieren bisweilen die Nachbarn. «Karton ist erst morgen!», rufen sie aus ihren Fenstern. In der Schweiz fordert man Ordnung im Ordnungmachen.

Und das passt zur Schweiz, diesem Land, in dem alles aufgeräumt wird, vor allem der Abfall.

Das Bafu räumt den Abfall sogar wissenschaftlich auf, letztmals vor gut zwei Jahren. Wochenlang wurden Kehrichtsäcke aus 33 Schweizer Gemeinden aufgeschnitten. Entstanden ist der «Bericht zur Erhebung der Kehrichtsackzusammensetzung 2022», eine Art mise en place des helvetischen Güsels.

Den grössten Teil des Abfalls machen Rüstabfälle aus, sie füllten 2022 über 15,5 Prozent der Schweizer Kehrichtsäcke. Weit oben platziert sind auch Windeln (7,3 Prozent) oder Katzensand (4,4 Prozent). Gefunden wurden zudem Wahrsagependel, Vibratoren, ein Boxhandschuh.

Im Jahr 2022 hat die Schweiz pro Kopf 148,2 Kilogramm Abfall im Kehrichtsack entsorgt. Das entspricht dem Gewicht von zweieinhalb Waschmaschinen und ist deutlich weniger als 2012, als pro Person eine Kehrichtmenge von 206 Kilogramm zusammenkam. Das Bafu erklärt sich den Rückgang unter anderem mit dem Gebührensack, der in den vergangenen Jahren in vielen Gemeinden eingeführt wurde.

Auch wenn die Schweiz viel recycelt: Wohlhabend, wie sie ist, gehört sie nach wie vor zu den Ländern, die vergleichsweise viel Abfall produzieren. Ob die Schweizerinnen und Schweizer den Güselsack deshalb fast zelebrieren?

Die Stadtzürcher haben ihren Gebührensack in dunkelblauer Farbe angemalt und nennen ihn liebevoll «Zürisack». In St. Gallen zieren Smileys den hellgrauen Plastik. Der «Zweckverband Kehrichtgebühren Glarnerland» veranstaltete zu seinem 30-Jahr-Jubiläum 2021 eine Ausstellung und suchte mithilfe eines Malwettbewerbs ein neues Sujet für den Sack. Seither prangt der Erdball in der Form einer Frucht auf dem Kehrichtsack.

Preise sind stark gestiegen

Aber nicht nur die Farben der Gebührensäcke unterscheiden sich, auch die Preise. In Lugano kosten 35-Liter-Säcke im Zehnerpack 8 Franken 50, in den Aargauer Gemeinden Rudolfstetten-Friedlisberg, Widen und Berikon stolze 30 Franken. Sie verkaufen die Kehrichtsäcke gemeinsam und mussten sich schon einige Male für den Preis rechtfertigen: Inbegriffen sei die alljährliche Grundgebühr, die vielerorts separat bezahlt werden müsse, hiess es dann. Zumindest Rudolfstetten-Friedlisberg aber wird künftig eine solche Grundgebühr erheben, der Sackpreis könnte sinken.

In der Regel schreiben die Gemeinden den Auftrag für die Herstellung der Kehrichtsäcke öffentlich aus. Es gibt mehrere Produzenten, wobei die gängigen Grössen – 17, 35, 60 und 110 Liter – nicht vom Bund vorgegeben sind, sondern historisch gewachsen.

In St. Gallen, der Geburtsstätte des Güselsacks, kosten zehn 35-Liter-Säcke heute übrigens 20 Franken. 1975 musste man noch 3 Franken 50 dafür berappen, damals, als der Gebührensack eingeführt wurde. Die Stadt hat angekündigt, das 50-Jahr-Jubiläum zu feiern. Für die Ostschweizer Frühlingsmesse Offa im April ist eine Überraschung angekündigt.

Exit mobile version