Sonntag, Oktober 6

Tagsüber beackert der Österreicher seine Felder, abends ärgert er sich über EU-Normen, und nachts beschreibt er die tiefen Abgründe seiner Protagonisten. Kaiser-Mühleckers Romane sind düstere Heimatfilme, in denen etwas archaisch Böses haust.

Unwillkürlich fragt man sich: Hier, in diesem Idyll? Im Schatten des Nussbaums steht ein kleiner Tisch. Vom Hügel aus kann man beschneite Berggipfel sehen. Die Hühner gackern, in der Ferne pfeift sanft ein Zug. Aber in den Romanen von Reinhard Kaiser-Mühlecker ist Österreich ein Land der Schuld.

Die alten Bauern haben Dreck am Stecken. Bei den jungen kann es vorkommen, dass einer aus der Bahn gerät und in seinem Jähzorn Unglück über sich und die Seinen bringt. «Dass sich einer verrennt in seinem Kopf.» So steht es schon im 2008 erschienenen Debüt «Der lange Gang über die Stationen».

«So sind wir nicht!»

Seine hügelige Romanlandschaft hat der Autor bis auf den Grashalm genau der echten Heimat nachgebildet. «Wenn wieder einmal ein Buch von mir erschienen ist, kamen früher die Nachbarn und haben mir erklärt: So sind wir nicht!» Reinhard Kaiser-Mühlecker, Schriftsteller und Landwirt, sitzt in T-Shirt und Jeans an einem sonnigen Augusttag im Nussbaumschatten vor seinem Hof am kleinen Tisch.

Er erzählt, dass sich die Dinge allmählich ändern und dass nach dem Erfolg des Romans «Wilderer» der Bürgermeister der kleinen oberösterreichischen Gemeinde Eberstalzell höchstpersönlich den Hügel zu ihm hochgekommen sei. Mit einem Adjutanten aus dem Kulturausschuss. Die beiden Herren hatten eine Urkunde dabei, in der etwas über «herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literatur» stand. Ein Plüschtier hatten sie auch mit dabei. Einen Eber. Wegen Eberstalzell.

Ein Buch wie ein Bussgeldkatalog

Reinhard Kaiser-Mühlecker, der mit seinen feinen Zügen dem Klischee vom wettergegerbten Bauern aufs Eleganteste widerspricht, hat gerade einen neuen Roman veröffentlicht. Er heisst «Brennende Felder», ist grossartig und einmal mehr am Bussgeldkatalog der sieben Todsünden entlanggeschrieben. In seinen Schwächen bleibt sich der Mensch immer gleich, und eine Art metaphysischer Bestrafung kommt unausweichlich, aber diesmal ist die Form der Themenaktualisierung besonders brillant gemacht. In allergrösster Lakonie und mit einer irritierend schönen Sprache erzählt der Roman von einem Spezialfall narzisstischer Selbstverwirklichung, die zugleich Selbstentblössung ist.

Eine Frau namens Luisa, die schon in früheren Kaiser-Mühlecker-Romanen vorgekommen ist, geht sprichwörtlich über Leichen. Erst verliebt sie sich in den vermeintlich eigenen Vater, und als sich der als ihr Stiefvater entpuppt, geht sie mit ihm eine Beziehung ein. Luisas Kinder aus früheren Beziehungen wachsen bei den jeweiligen Vätern auf. Ein Mordverdacht blitzt auf. Wendung um Wendung zeigt der Roman Kollateralschadensfälle aus dem Landleben «einer Frau, die Selbstbewusstsein, aber kein Gewissen hat», wie der Schriftsteller sagt. Vielleicht sind in «Brennende Felder» nur die literaturüblichen Rollenbilder der Geschlechter verdreht?

Der Verlag sichert sich ab

Im Verlag gab es vor dem Erscheinen des Buches Debatten, ob es heute noch geht, dass ein Mann über eine Frau schreibt und ihr nicht gerade schmeichelhafte Eigenschaften andichtet. Dass er sie zur moralisch-zweifelhaften Hauptfigur macht. Kaiser-Mühleckers Verlag S. Fischer wollte gewappnet sein gegen Angriffe aus den sozialen Netzwerken. Genauso übrigens wie im Fall des gerade erschienenen Romans «Die Projektoren» von Clemens Meyer. Dort kommt in einer Passage über Neonazis der neunziger Jahre das N-Wort vor.

Kaiser-Mühlecker hat Erfahrungen. Beim vorigen Buch wurde in Instagram-Lesegruppen heftig darüber diskutiert, ob einem gefährlichen Menschen wie diesem «Wilderer» in einem Roman eine Bühne geboten werden darf. Er kenne das aus Schweden, sagt der Schriftsteller. «Ich habe einige Zeit da gelebt, da war es schon vor zehn Jahren so, dass die Literatur das Böse auszuklammern hat. Das Korrekte ist das Gute, aber es muss doch in der Literatur einen Graubereich geben dürfen!»

Graubereich mit schwarzer Schattierung

Ohne Zweifel: Reinhard Kaiser-Mühlecker interessiert der Graubereich, wobei die Schattierungen eher in Richtung Schwarz gehen. Die Romane des Schriftstellers sind düstere Heimatfilme, in denen etwas archaisch Böses haust. Hier gibt es keine trittfeste Moral. Hier sieht man die Menschen einem vermeintlichen Himmelreich der Begierden entgegenwanken, das in Wahrheit ein Höllenschlund ist.

Familien und Beziehungen zerfallen, der Besitz wird verspielt. Es sind alte Geschichten, die aber vor der Folie einer neuen Ökonomie erzählt werden: dem heutigen Überlebenskampf der Bauern.

Wo Reinhard Kaiser-Mühlecker seinen Bauernhof und sechzehn Hektaren Felder hat, dort wellen sich die Hügel sanft den österreichischen Voralpen entgegen. Vierkanthöfe von beeindruckender Grösse stehen zwischen den Äckern und künden von Zeiten, als der Reichtum der Bauern gross und das Einkommen des Gesindes klein war.

Wo früher einmal das Herrschaftsland knorriger Patriarchen war, ist heute EU-Kontrollzone. Und das ist die zweite Geschichte Kaiser-Mühleckers. Harte Non-Fiction. Wenn der Schriftsteller mit seiner ruhigen Stimme erzählt und seine Sätze eher Fragen als Antworten gleichen, dann erkennt man, dass hier David gegen Goliath kämpft. Ein Landwirt, dessen Hof gerade so überleben kann, gegen die Bürokratie. Die letzten beiden Jahre waren hart für den Biobauern. Die Ukraine-Krise hat zu einem Dominoeffekt geführt. Die Produktionskosten steigen, aber die Abnehmer und Konsumenten sparen.

Überwachungssatelliten für Biobauern

Beim Gang um den Hof erzählt Reinhard Kaiser-Mühlecker von den Überwachungssatelliten, die den Bauern heute im Nacken sitzen. Man schaut in den blauen Himmel, und es ist wieder so ein Augenblick kippender Idyllen. Die Bio-Landwirtschaftsgesellschaft, die in Zusammenarbeit mit der EU die Bauern überwacht, gibt genaue Erntezeiten vor. Hält man sich nicht daran, wird man vom All aus geblitzt und bekommt gleich eine Nachricht auf eine Handy-App, die verpflichtend zu installieren ist.

Bei der Arbeit im Stall oder auf dem Traktor hat der Autor den Kopf auch ein bisschen frei, um an das Schreiben zu denken. Wirklich geschrieben wird frühmorgens oder spätabends. Und dann ist da noch das Formular- und Antragswesen. Regeln und Ausnahmen. Ausnahmen von den Ausnahmen. Von Lobbys gesteuerte Brüsseler Vorschriften, die sich ständig ändern können. Mal dürfen die fünfzig Schweine am Kaiser-Mühleckerschen Hof im Auslaufbereich nicht zu viel Sonne bekommen, dann nicht zu wenig. Vordächer werden aus- und wieder rückgebaut.

Sieben Prozent der landwirtschaftlichen Fläche muss Reinhard Kaiser-Mühlecker jeweils für zwei Jahre stilllegen. Es hat irgendetwas mit dem Green Deal der Europäischen Kommission zu tun, aber so genau weiss er es auch nicht. Es geht um Biodiversität. Für die nicht bebauten Äcker sind Gräsermischungen und Blühpflanzen vorgeschrieben. «Den Biologen, die über meine Biodiversitätsflächen gehen, glühen die Augen», sagt der schreibende Landwirt. «Die sehen da Schmetterlinge, die ihnen seit Jahren nicht mehr untergekommen sind. Wir aber sehen das tief wurzelnde Unkraut, das wir nach zwei Jahren wieder loswerden müssen.»

Die Doppelmoral der EU-Politik

Ob Kaiser-Mühlecker auch einen Roman über die Doppelmoral der EU-Politik schreiben könnte? Über die Tatsache, dass die Biobauern hierzulande strengsten Regeln unterliegen, während man Futtermittel aus Übersee einführt, für die es überhaupt keine Regeln gibt. In China gibt es das, was der Schriftsteller «Schweinehochhäuser» nennt. Auf seinem Hof grinsen die Tiere freundlich durchs Gatter. Sie haben Auslauf und öffnen mit ihren Schnauzen geschickt die Türen, wenn sie einmal nach drinnen wollen.

2019 ist Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman «Enteignung» erschienen, der vielleicht die stärkste direkt politische Botschaft enthält. Ein Landwirt hat die Nase voll. Weil auf seinen Feldern ein Windpark errichtet werden soll, schraubt der Bauer meterhohe, leuchtend rote Holzlatten zusammen. Was mit ihnen geschrieben steht, kann man nur von oben lesen. Es ist das Wort «Enteignung». Mit so etwas hätte sicher auch der landwirtschaftliche Kontrollsatellit seine Freude.

Der «Wirtschaftsfaktor Frau»

Spricht man mit Reinhard Kaiser-Mühlecker über die Zukunft seines Hofs, ist die Antwort ambivalent. Er verdränge die Frage lieber. Die Eltern, die man im Hintergrund ins Haus huschen sieht, sind in Pension. In der Scheune steht ein alter Deutz-Traktor aus dem Jahr 1967 und einer, der gerade neu gekauft ist. Um 40 000 Euro. Rundum sterben die Höfe, weil die Arbeit zu viel wird und die Erträge immer geringer sind.

Der «Wirtschaftsfaktor Frau» sei wichtig, aber welche Frau will heute noch mit einem Bauern leben? Er kenne allerdings eine Bäuerin, die sich gerade einen Tänzer geangelt habe. Ein Tänzer auf einem Traktor, das sei womöglich noch sensationeller als ein schriftstellernder Landwirt, sagt Reinhard Kaiser-Mühlecker.

Für ihn sind es jetzt ein paar ruhige Tage. Auf den Äckern, die den Hof umschliessen, ist gerade nichts zu tun, und nach der Dämmerung kann sich der Schriftsteller der weitgehend risikofreien Bewirtschaftung von Romanen widmen. Auch wenn die Tiere längst dösen, das Böse schläft nicht.

Von Reinhard Kaiser-Mühlecker zuletzt erschienen: Brennende Felder. Roman. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 368 S., Fr. 36.90.

Exit mobile version