Mittwoch, Oktober 9

Ein Nachruf auf den Talkmaster, der vom Strassenverkäufer zu einem der reichsten Männer des Landes aufstieg.

Fast wäre die Karriere von Silvio Santos als Talkmaster und späterer Medienmogul in Brasilien zu Ende gewesen, kaum dass sie begonnen hatte. Denn schon als Junge verdiente Santos sein Geld als Strassenhändler im Zentrum von Rio de Janeiro. Damals hiess der Sohn eingewanderter sephardischer Juden aus der Türkei und Griechenland noch Senor Abravanel. Er lebte mit seinen fünf Geschwistern in Lapa, dem damaligen Prostituierten- und Bohème-Viertel der Stadt und zeigte schon als 14-Jähriger Verkaufstalent.

«Für Geld mache ich alles»

Als er wieder einmal von der Steueraufsicht angehalten wurde, empfahl ihm der Beamte, sich mit seiner sonoren Stimme als Radiosprecher zu bewerben. Das war 1948. Senor Abravanel setzte sich gegen 300 Mitbewerber durch, bekam als Minderjähriger einen Vertrag beim renommierten Radio Guanabara, nahm den Künstlernamen Silvio Santos an – und kündigte nach einem Monat. Auf der Strasse verdiente er ein Drittel mehr als beim Radio. Kein Wunder, dass seine Biografie nach einer seiner bekannten Sendungen benannt ist: «Topa Tudo por Dinheiro» («Für Geld mache ich alles»).

Später, in São Paulo, begann er doch beim Radio und wechselte anschliessend zum Fernsehen, das in Brasilien gerade erst begann. 60 Jahre lang moderierte Silvio Santos seine sonntägliche Nachmittagsshow, das «Programa Silvio Santos». Wie kein anderer Showmaster hat er mehrere Generationen von Brasilianern unterhalten und geprägt. Als er am 2. Juni 1962 mit seiner Sendung begann, gab es erst 70 Millionen Brasilianer, von denen die wenigsten einen Fernseher besassen. Doch Santos blieb populär, auch bei den mittlerweile 210 Millionen Brasilianern, die zu den intensivsten Smartphone-Nutzern der Welt gehören.

Schnell hatte er erkannt, dass São Paulo die Wirtschaftsmetropole des Landes werden und Rio nach dem Bau der Hauptstadt Brasilia an Bedeutung verlieren würde. Rund um seine Sendung baute er in São Paulo ein Medienimperium auf, das Sistema Brasileiro de Televisão. Es machte ihn zeitweise zu einem der reichsten Brasilianer.

Anders als der Sender Globo, der in Rio blieb, wo sich die Familie des Besitzers Roberto Marinho an amerikanischen Medienhäusern orientierte und mit ihren Telenovelas weltberühmt wurde, blieb Santos bis an sein Lebensende Verkäufer. «Globo ist der grosse, moderne Supermarkt», sagte Santos. «Ich bin der Tante-Emma-Laden.»

Auftritte im Gecko-Outfit und Finanzskandale

Mit Santos identifizierten sich die armen Brasilianer. Er stammte nicht aus der Mittelschicht, hatte sich von ganz unten hochgearbeitet. Davon träumen viele Brasilianer. Sozialneid gibt es kaum. Wer wie Santos den Aufstieg geschafft hat, zeigt seinen Erfolg, wird bewundert. In seinen Sendungen liess Santos Papierflieger aus gefalteten Geldscheinen in das überwiegend weibliche Publikum segeln.

In der Art, wie er seinen Reichtum zur Schau stellte, war er mit Donald Trump vergleichbar. Sein Toupet, seine zahlreichen Schönheitsoperationen, seine Bühnenauftritte im Gecko-Outfit waren immer kitschig, emotional, billig. Auch bei Santos wusste man nie so genau, was sein Imperium wirklich wert war. Auch bei ihm gab es massive Bilanzfälschungen in der eigenen Bank, von denen er aber freigesprochen wurde.

Doch im Gegensatz zu Trump hatte Santos nichts von dessen menschenverachtender Aggressivität. Er war immer gutgelaunt, mit einem Lächeln im Gesicht.

Den Vertrag mit Endemol für «Big Brother» zerriss er

Die Zuschauer störte es nicht, dass seine Witze oft platt waren und seine Fragen schmierig. Oder dass er Gäste niedermachte. Denn er mochte es nicht, wenn jemand schlagfertiger war als er. «Silvio war grausam und freundlich zugleich – aber immer mit einem Lächeln», sagt der Medienexperte Thiago Stivaletti. «Er ist das grösste Symbol unseres brasilianischen Kapitalismus.»

Selbst im hohen Alter scheute er sich nicht, im Schlafanzug auf Sendung zu gehen, wenn das die Einschaltquoten in die Höhe trieb. Transvestiten traten bei ihm auf, lange bevor sie in der brasilianischen Politik und in den Medien üblich wurden. Für Santos war die Quote alles.

«Er machte ein Programm für ein Publikum, das nur marginal alphabetisiert war», sagt Stivaletti. Santos verteidigte das Niveau seiner Sendung so: «Wenn jemand bei ‹Wer wird Millionär?› nur vier von zehn Fragen beantworten kann, schaltet er ab. Wenn er alle zehn Fragen beantworten kann, ist er der Held vor Frau und Kindern – und schaut meine Sendung weiter.»

Santos kopierte hemmungslos Formate ausländischer Sender. Er brach die monatelangen Verhandlungen mit der niederländischen Firma Endemol über die brasilianische Lizenz für die Fernsehshow «Big Brother» abrupt ab. Er benannte das Sendeformat in «Das Haus der Künstler» um – und es wurde ein spektakulärer Erfolg. Dass seine Kritiker die Sendungen verrissen, störte ihn nicht: «Ich mache mir Sorgen, wenn die Kritiker ein Format von mir loben. Dann wird es garantiert ein Flop.»

Santos hat seine Talkshows immer mit Produktmarketing verbunden, lange bevor das üblich wurde. Heute kommt keine Firma, die ihre Produkte bei einkommensschwachen Gruppen bewerben will, an den Sendungen von Silvio Santos vorbei. Schon vor Jahrzehnten entwickelte Santos immer neue Finanzierungsmodelle, um in seinen Sendungen Produkte vorzustellen, die dann in seinen eigenen Läden verkauft wurden.

Er animierte die Zuschauer, feste Raten zu zahlen, um für einen Fernseher, einen Ventilator oder einen Kühlschrank zu sparen. Dabei kaufen die Kunden von Santos’ Imperium nicht eine Mikrowelle und stottern sie dann in Raten ab. Nein, sie stottern zuerst die Raten ab und erhalten am Ende das Produkt. Warum? Weil die Millionen Ratenzahler und Fans an Verlosungen von Häusern oder Autos teilnehmen dürfen. «Ich verkaufe Disziplin und Träume», sagte Santos.

Kritik an den Regierungen untersagte Santos

Für die Regierungen diente Santos nach eigenen Worten als «luxuriöser Bürobote» – egal, wer gerade an der Macht war. Schliesslich habe er eine staatliche Konzession für seine Fernsehsender. «Man kritisiert nicht den Chef», so rechtfertigte er sich. «Ich habe die Journalisten in meinem Unternehmen angewiesen, niemals Kritik zu üben, sondern die nur Regierung zu loben. Wenn man kritisieren will, ist es besser zu schweigen.»

Dafür wurde er vor allem während der Militärdiktatur (1964 bis 1985) grosszügig mit staatlichen Sendelizenzen bedacht. 114 sind es heute. Dafür stellte er Verwandte der mächtigsten Militärs des Regimes ein und lockte sie mit der Nähe zu den Stars und Sternchen in seinen Sendungen. Er promotete Künstler, wenn ein General es wünschte. Ohne die Hilfe von João Baptista Figueiredo, dem letzten General der Diktatur, würde er heute noch Kugelschreiber auf der Strasse verkaufen, erklärte Santos freimütig.

Aber auch den linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva traf er regelmässig, auch nachdem dieser 2022 zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt wurde. Mit dem Aufsteiger aus dem armen Nordosten, der sich vom Hungerflüchtling über den Gewerkschaftsführer zum Präsidenten hochgearbeitet hatte, verbindet Santos eine Gemeinsamkeit: Die Elite und die Mittelschicht Brasiliens verachten die beiden Aufsteiger bis heute.

Lula und Bolsonaro – Santos rollte allen den roten Teppich aus

Mit dem Rechtspopulisten Jair Bolsonaro war Santos ebenfalls gut vernetzt: Seine Tochter Patrícia ist mit dem damaligen Kommunikationsminister der Regierung Bolsonaro verheiratet, bis heute einer der wichtigsten Strippenzieher in der Medienpolitik.

Santos präsentierte sich in der Öffentlichkeit gerne als Familienmensch, mit vierzehn Enkeln und vier Urenkeln. Seine sechs Töchter haben Führungspositionen im Konzern übernommen. Wie es weitergehen soll, ist unklar. Denn Entscheidungen traf Santos bislang allein – aus dem Bauch heraus, und nach eigenem Empfinden lag er zu 95 Prozent richtig. Silvio Santos starb am Samstag im Alter von 93 Jahren.

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