Mittwoch, April 2

Ohne Winston Churchill wäre Deutschland nicht vom Nationalsozialismus befreit worden. Aber die Deutschen haben ihm den Luftkrieg nie verziehen: Dietmar Pieper wirft einen neuen Blick auf den britischen Kriegspremierminister.

Es wird kein Artikel über Winston Churchill abgedruckt, ohne dass sich ein Leserbriefschreiber zu Wort meldet mit revisionistischen Belehrungen bis hin zu historischem Unsinn und Verbalinjurien. Das ist eigentlich erstaunlich, denn Deutsche, die den Zweiten Weltkrieg als junge Männer und Frauen miterlebt haben, sind heute hundert und mehr Jahre alt. Offensichtlich wurde das kritische bis negative Churchill-Bild der Kriegs- und Nachkriegsgeneration an die Kinder und sogar an die Enkel weitergegeben. Weshalb dies so ist, erklärt der frühere Spiegel-Redaktor Dietmar Pieper in seinem Buch «Churchill und die Deutschen. Eine besondere Beziehung».

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Ohne Winston Churchills Leistung als Premierminister von Grossbritannien (1940–1945) würde Europa heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders aussehen: Hätte der Kriegspremierminister dem enormen militärischen Druck aus Berlin nicht standgehalten, bis die USA in den Krieg eintraten, wäre eine totale Dominanz Hitlerdeutschlands in Kontinentaleuropa die Folge gewesen. In diesem Sinne verdanken Grossbritannien, Europa und natürlich auch die Schweiz Churchill ein Leben in Freiheit. Dies gilt auch für Deutschland. Nüchterne politische Analytiker sahen und sehen dies einst wie heute auch so.

Aber – da gibt es einen Faktor, der das Churchill-Bild vieler Deutscher bis heute negativ beeinflusst: der Luftkrieg der Royal Air Force und der US Air Force gegen Deutschland in der zweiten Hälfte des Weltkriegs. Hitlers Wehrmacht, aber ebenso stark die deutsche Zivilbevölkerung bekamen zu spüren, was es heisst, wenn Bombergeschwader von bis zu tausend Maschinen ihre tödliche Fracht aus ihren Schächten abwarfen.

Gewissensbisse

Im Fall von Hamburg im Juli 1943 hiess dies 35 000 Tote, im Fall von Dresden im Februar 1945 25 000 Todesopfer in jeweils einer Nacht. Bei einem Luftangriff der Amerikaner auf Tokio kamen in einer Nacht im März 1945 gar 100 000 Personen ums Leben. Tatsache ist im Übrigen, dass die alliierten Bombardements auf deutsche Städte keineswegs kriegsentscheidend waren.

Die Verantwortung für die britische Kriegsführung lag faktisch beim Premierminister, also bei Churchill. Dieser hatte zwar bisweilen Gewissensbisse – «Sind wir Bestien?», sagte er einmal –, liess aber den Kommandanten des Bomber Command, Arthur Harris, weiterhin gewähren in der Luftkriegsführung gegen Deutschland. Ist Churchill deswegen ein Kriegsverbrecher? Dietmar Pieper wirft die nicht ganz neue Frage auf – ohne sie zu bejahen oder zu verneinen. Sicher ist: Churchill nahm den Tod von Hunderttausenden von Zivilisten in Kauf, um Deutschland in die Knie zu zwingen.

Und selbstverständlich schildert der Autor auch den ersten Akt in der Barbarei der Luftkriegsführung, der von Deutschland ausging. 1940, nach dem Fall von Frankreich, zeigte sich Grossbritannien resistent gegen diplomatische Schalmeienklänge aus Berlin – Deutschland hat freie Hand auf dem Kontinent, London behält sein Empire. Die deutsche Luftwaffe versuchte, die Royal Air Force zu zerstören.

Nächtliche Angriffe

Die Battle of Britain hatte begonnen. Das Ziel von Hermann Görings Kampfpiloten war es, einerseits möglichst viele Spitfires und Hurricanes zu zerstören, anderseits die Luftwaffenbasen durch gezielte Bombardierung unbenutzbar zu machen. Während diese epochale Schlacht über Südengland tobte, befahl Churchill einen nächtlichen Bomberangriff auf Berlin.

Dieser hatte keinerlei militärische Auswirkungen, aber umso mehr psychologische. Hitler geriet derart in Rage, dass er versprach, die britischen Städte «auszuradieren». Ab sofort änderte die deutsche Luftwaffe ihre Strategie und flog wesentlich mehr Einsätze gegen britische Städte, allen voran London. Die Briten sprachen bei diesen Terrorbombardements von «the Blitz».

Grossbritannien verlor im Sommer und im Herbst 1940 544 Piloten des Fighter Command. Es kam zu 30 000 zivilen Toten und 50 000 Verletzten. Eine Million Häuser wurden komplett zerstört oder beschädigt. Die kriegsrelevante Industrie wurde zwar stark bombardiert, aber nicht im Kern getroffen. Und wenn etwas den Kampfgeist der Briten entflammte, dann die gemeinsamen Nächte in Underground-Bahnhöfen und sogar auf den Geleisen der Metro in London.

«Zahle es ihnen heim, Winnie!»

«London can take anything», wie Churchill sagte. Und wenn Churchill nach einer Bombennacht durch die ruinengesäumten Strassen schritt, um die Menschen zu trösten, oft mit Tränen in den Augen, so riefen ihm die Londoner zu: «Zahle es ihnen heim, Winnie!» Dies alles schildert Pieper sehr kenntnisreich.

Im Buch finden sich durchaus auch weniger bekannte Trouvaillen, wie etwa die absurde Idee des deutschen Gesandten in London, Joachim von Ribbentrop, den umtriebigen Publizisten Churchill mit seiner in den dreissiger Jahren pointiert deutschlandkritischen Feder zu «kaufen». Ribbentrop bittet den «Führer» um einige Millionen Reichsmark in britischer Währung und schrieb nach Berlin: Mit genügend Geld liesse sich sicher etwas gegen diese lästige Publizistik unternehmen.

«Da Churchill dauernd geldknapp und moralisch nicht ganz hieb- und stichfest ist», so Ribbentrop, «könnte ich mir vorstellen, dass er eines Tages ganz andere Artikel schreiben wird, wenn ich freie Hand habe.» Der Plan wurde nicht umgesetzt. Wegen seiner diplomatischen Tollpatschigkeit verballhornte das politische London seinen Namen übrigens als Brickendrop («brick and drop»). Die diplomatische Legende will wissen, dass er einen Trinkspruch «auf die Frauen» als «upon the women» übersetzte, worauf in der City of London kein Auge trocken blieb.

Dietmar Pieper hat sämtliche verfügbaren Archive in Deutschland, Grossbritannien und den USA unter dem Gesichtspunkt «Churchill und die Deutschen» durchforstet, als erster Autor, wie er schreibt. Das spürt man in dem ausgezeichnet geschriebenen Buch. Pieper entzieht sich dem Churchill-Mythos, lenkt den Blick auch auf die fragwürdigen Seiten des Staatsmanns und zeigt, dass Churchill von Deutschland gleichermassen fasziniert wie abgestossen war.

Dietmar Pieper. Churchill und die Deutschen. Eine besondere Beziehung. Piper-Verlag, München 2025. 320 S., Fr. 37.90.

Exit mobile version