Samstag, Oktober 5

Jonas Deichmann spult seit Anfang Mai täglich einen Ironman ab – und gewinnt von Tag zu Tag mehr Mitstreiter. Am Donnerstag erreicht er das Ziel. Er muss aber bald die nächste Herausforderung suchen.

Die kleine Altstadt des Städtchens Roth in der Nähe von Nürnberg wirkt abends ausgestorben. Nur das Restaurant zum Goldenen Schwan am Marktplatz hat geöffnet. Dort kredenzt der Wirt Spezialitäten wie «Bratwürste von der Metzgerei Brechtelsbauer Mäbenberg», dazu Sauerkraut oder Kartoffelsalat.

Ein warmer Sommerabend Ende August, die Steine auf dem Boden des Marktplatzes strahlen die Hitze des Tages ab. Die Gäste des Wirtshauses sitzen draussen, trinken ein letztes Bier oder verlangen nach der Rechnung. Noch warten sie mit dem Aufbruch, fragen die Kellnerin, wann er komme. Plötzlich brandet Jubel auf, die Leute klatschen, pfeifen, johlen. Ein bärtiger Mann mit Kappe und ärmellosem Shirt rennt vorbei. Hinter ihm Dutzende Läuferinnen und Läufer. Über der Gasse hängt ein Transparent: «Jonas, du schaffst das!»

Der Mann mit Bart heisst Jonas Deichmann. Er ist in Roth seit mehr als drei Monaten das Stadtgespräch. Deichmann, 37 Jahre alt, ist ein deutscher Extremsportler. 2021 hat er die Erde per Triathlon umrundet; er ist in der Adria geschwommen, in Sibirien Velo gefahren und quer durch Mexiko gerannt. Letztes Jahr hat er die USA zweimal durchquert, einmal auf dem Fahrrad, von Ost nach West, dann ist er zurückgejoggt. In Roth stellt sich Deichmann der bisher grössten sportlichen Herausforderung seines Lebens. Er will 120 Ironmen nacheinander absolvieren.

Mehr als zwölf Stunden vor der Überquerung des Marktplatzes, kurz vor 8 Uhr, steigt Deichmann aus dem Rothsee. Er ist fast vier Kilometer geschwommen. Er schält sich aus dem Neoprenanzug, setzt sich auf einen Campingstuhl und trinkt eine flüssige Mahlzeit, Pfirsich-Geschmack. Einige Leute sind zum See gekommen, um ihn anzufeuern. Deichmann posiert für Selfies, er hat ständig ein breites Lachen im Gesicht. Er sagt: «Es ist wie Ferien, ich muss nur Sport machen.»

Deichmann will wissen, welche Belastungen der Körper aushält

Seit dem 9. Mai absolviert Deichmann jeden Tag einen Ironman; 3,8 Kilometer schwimmen, 180 Kilometer Velo fahren und zum Abschluss den 42,195 Kilometer langen Marathon. Einen Tag zu pausieren, ist verboten, so sind die Regeln, die Deichmann sich selbst auferlegt hat. Am Donnerstag der vergangenen Woche steht der 113. Triathlon auf dem Programm. Entlang der Strecke kennt er jeden Baum, jeden Stein, jedes Haus. Er spult Ironman um Ironman ab, ob bei Dauerregen oder brennender Sonne.

Deichmann sagt, das sei keine Schinderei, sondern mittlerweile Alltag. 5 Uhr 40 aufstehen. Zum Frühstück gibt es Müsli. 6 Uhr 30 Schwimmstart. 8 Uhr 30 Velo fahren. 11 Uhr 30 Mittagspause – Pastasalat. 16 Uhr 30 Marathon. Danach Physiotherapie und Abendessen, Ghackets mit Hörnli zum Beispiel, gekocht vom Vater Sammy Deichmann, seinem wichtigsten Helfer bei diesem Projekt. Jonas Deichmann sagt, die Routine helfe bei der Bewältigung der 120 Ironmen.

«Ich hinterfrage nicht mehr, ich wache am Morgen auf und weiss, dass ich einen Ironman absolvieren werde.» Gedanken über Sinn und Unsinn der Herausforderung hat er sich im Vorfeld gemacht. «Seit ich mich entschieden habe, ziehe ich es durch», sagt Deichmann.

Eine Hommage an seine Weltumrundung

Deichmann macht das aus mehreren Gründen. 120 Ironmen entsprechen ungefähr der Distanz seines Triathlons um die Erde, den er 2021 geschafft hat. «Es ist eine Hommage an dieses Abenteuer», sagt er. Ausserdem lebt er gut vom Extremsport; das bedeutet aber, dass er sich immer wieder neue Herausforderungen suchen muss, um interessant zu bleiben. Deichmann hält Vorträge für Mitarbeitende grosser Unternehmen, es gibt ein Buch über ihn, auch einen Dokumentarfilm auf Netflix. Der heisst: «Das Limit bin nur ich.» Der Satz steht auch für seine Motivation für die 120 Triathlons.

Deichmann will in Roth herausfinden, welche Belastungen sein Körper aushält. Seine früheren Touren waren immer als Abenteuer ausgelegt, führten ihn in unwirtliche Gegenden der Welt. «Jetzt geht es strikt um sportliche Leistung», sagt Deichmann. Das Städtchen hat er ausgewählt, weil dort jedes Jahr die «Challenge Roth» stattfindet, der grösste Langdistanz-Triathlon der Welt.

Beim Steg am Rothsee warten 40 Velofahrerinnen und Velofahrer. Sie werden Deichmann begleiten, die volle Distanz oder nur einen Teil davon, alles ist möglich. Ein teures Carbonrad reiht sich an ein noch teureres Carbonrad. Die Sportler unterhalten sich, erzählen von ihren Leistungen. Einer hat mit Deichmann zuletzt zwei Ironmen nacheinander absolviert – der junge Mann erzählt von harten Tagen, der Hitze und Verdauungsbeschwerden.

Gurkenwasser gegen den Mangel an Elektrolyten

Eine Frau startet heute zur Langdistanz und plant ein Experiment. Auf der Laufstrecke will sie die Flüssigkeit aus einem Essiggurkenglas trinken, manche Ausdauersportler schwören auf die Wirkung des Gurkenwassers. Es soll dem Körper Elektrolyten zuführen.

Deichmann, jetzt im Velodress, fragt, wer heute den ganzen Triathlon absolvieren werde. Mehr als zehn Personen heben die Hand, manche nervös, andere zeigen ein Pokerface. Dann sagt Deichmann, es werde vier Gruppen à zehn Radfahrer geben, dazwischen gälten 100 Meter Abstand, aus Sicherheitsgründen. Er selbst werde vorausfahren. Wie in Triathlon-Rennen üblich verbietet er sich das Fahren im Windschatten.

Die Gruppen fahren los, die Route führt durch Nadelwälder, vorbei an Bauerndörfern, entlang von Mais- und Rapsfeldern. Schon am Vormittag brennt die Sonne. Die Begleiterinnen und Begleiter sind von nah und fern angereist. Eine 40-Jährige hat den Tag spontan freigenommen. Die Frau ist 500 Kilometer aus Braunschweig angereist, sie ist mitten in der Nacht losgefahren. Vor dem Start legt sie ein Nickerchen im Auto ein. Sie sagt, sie habe Deichmann unbedingt einmal begleiten wollen.

Er sehnt sich nach zwei Stunden Alleinsein

Entlang der Strecke, vor allem an den Anstiegen, stehen immer wieder Menschen und erwarten Deichmann. Nach 90 Kilometern steigt der vom Velo, die Hälfte der Radstrecke ist geschafft. Deichmann isst Pastasalat, jeden Tag mit anderen Zutaten. Dann hält er ein Nickerchen. Bald aber steigt er wieder auf das Velo. Pausiert er länger, wird es am Abend zu spät. Deichmann bleibt dann zu wenig Zeit für die Erholung vor dem nächsten Triathlon. Um Zeit zu sparen, isst er manchmal während der Massage.

Die Velostrecke ist geschafft, Deichmann zieht sich zurück, trinkt einen Espresso mit einem Eiswürfel drin. An der Startlinie zum Marathon warten mehrere Dutzend Läuferinnen und Läufer. Deichmann sagt: «Meine Ruhe habe ich nur auf der Toilette, unter der Dusche und im Bett.» Er sagt, er habe zwar gehofft, dass er die Menschen zum Sporttreiben animieren werde. Dass ihn so viele begleiten, damit hat er aber nicht gerechnet.

Er sagt: «Die vielen Menschen, die etwas von mir wollen, sind die grösste Herausforderung.» Er hätte gerne wieder einmal seine Ruhe, für zwei Stunden nur, wie er sagt. Nach dem 120. Triathlon wird er einige Tage verreisen. Wohin, das sagt er niemandem. «Ich will nicht gefunden werden», sagt Deichmann. Dann geht er zum Marathonstart und fragt, wer die ganze Strecke laufe und ob alle Langdistanzler den Tag bisher gut überstanden hätten. Deichmann wirkt wie eine Mischung aus Animateur und Reiseleiter. Eine junge Frau trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: «Frisch und munter zur ersten Langdistanz mit Jonas. Geil wird’s.»

In der «Todeszone» erzählt er von den letzten Monaten

Deichmann weicht vom Klischee des verbissenen Extremsportlers ab. Er spricht nie vom «Marathon», sondern von einem «Läufchen». Die Strapazen scheinen ihm nichts auszumachen, auf der Laufstrecke plaudert er mit den Begleitern, grüsst die Zuschauer am Strassenrand. Der NZZ sagte er einmal, er sei noch nie im Leben gescheitert.

Mit dem aktuellen Projekt will er anderen Sportlern die Möglichkeit eröffnen, sich Herausforderungen zu stellen. Manche versuchen sich erstmals am Marathon oder an der Triathlon-Langdistanz. Andere absolvieren erstmals zwei oder mehr Ironmen am Stück. Deichmann sagt: «Es kostet kein Startgeld, und jeder kann jederzeit aussteigen, das macht es attraktiv.»

Deichmann läuft dem Main-Donau-Kanal entlang, die Sonne versinkt hinter dem Horizont, es sind die letzten Kilometer des Marathons – Triathleten nennen diesen Teil «Todeszone». Deichmann erzählt von den vergangenen Monaten. Der Anfang sei hart gewesen, weil der Körper sich an die Belastung habe gewöhnen müssen. Er treibt seit Monaten täglich zwischen 14 und 15 Stunden Sport. «Körperlich geht es mir gut, auch wenn ich eine Grundmüdigkeit verspüre und die Schnellkraft verloren habe.» Er sei ein Optimist und könne sich auf ein Ziel fokussieren. «Ich wusste immer, dass ich 120 Ironmen schaffe», sagt er. Und man glaubt ihm.

Der bange Griff zum Fiebermesser

Einige Ärzte finden zwar, Deichmann gefährde seine Gesundheit. Der sagt: «Unsinn!» In Roth ist er auch Studienobjekt. Sportwissenschafter der Universität Nürnberg untersuchen ihn regelmässig. Eine so lange andauernde Belastung ist wenig erforscht.

In den ersten Wochen jedoch hangelte sich Deichmann von Problemen zu Problemen. Der Rücken schmerzte. Dann die Achillessehne. Es folgte eine Erkältung, Deichmann sass stundenlang bei strömendem Regen auf dem Velo. Die Tage mit Schnupfen seien mental am härtesten gewesen. Für ihn und seinen Arzt war klar, dass er aufhören würde, wenn er Fieber bekäme. Jeden Abend mass er die Temperatur, dann banges Warten auf das Resultat. «Ich war mir immer bewusst, dass mich Fieber oder ein Sturz zum Abbruch zwingen könnten. Das war mental am schwierigsten, weil ich es nicht selbst in der Hand hatte.»

Um gesund zu bleiben, begaben sich Deichmann und seine Betreuer in eine Blase. Hände schüttelt niemand, sie treffen ausserhalb der Strecke keine anderen Menschen. Das machen sie unter anderem deshalb, weil Deichmann einen Weltrekord für die meisten Ironmen nacheinander anpeilte. Mitte August, am Tag 106, knackt er die Bestmarke eines Briten. Deichmann sagt: «Das hat den Rest einfacher gemacht. Ich kann das Projekt mental locker zu Ende bringen.»

In Mexiko begleiten ihn Polizisten mit Sturmgewehr, in Roth reichen zwei Gesetzeshüter auf dem E-Bike

Deichmann befindet sich auf den letzten Metern des Tages, es ist dunkel. Mit seiner Kappe und dem Bart und mit anderen Läufern im Schlepptau erinnert er an Forrest Gump. Der lief im gleichnamigen Film quer durch die USA und scharte Begleiter um sich. Deichmann wird aus einem Lastenvelo mit Getränken versorgt, darauf steht: «Run, Forrest, Run.» Laute Musik dröhnt aus den Boxen am Velo. Deichmann sagt: «Der Lauf soll eine Party sein, eine lockere Sache für alle.»

Als Deichmann vor drei Jahren bei der Erdumrundung durch Mexiko rannte, nannten ihn die lokalen Medien den «deutschen Forrest Gump». Damals begleiteten ihn in gefährlichen Gegenden schwerbewaffnete Polizisten mit Sturmgewehr. In Roth geleiten zwei Gesetzeshüter auf dem Rad die Laufgruppe sicher durch die Dunkelheit. Ihre E-Bikes sind mit Blaulicht ausgestattet.

Deichmann läuft dem Ziel im Stadtpark entgegen, Hunderte sind gekommen, um ihn zu beklatschen. Am Vorabend war die örtliche Feuerwehr da, bildete ein Spalier aus Schläuchen und Fahrzeugen, liess die Martinshörner dröhnen. «Verrückt, was manchmal abgeht», sagt Deichmann.

Jetzt will er essen, sich erholen, vor allem schlafen. Noch fehlen sieben Triathlons. Deichmann sagt, körperlich würde er noch weiter durchhalten. «Doch mental wäre das unmöglich, ich würde den Fokus nicht aufbringen.»

Heute Donnerstag kommt Deichmann am Ziel an. Er wird 456 Kilometer geschwommen, 21 600 Kilometer Velo gefahren und 5063 Kilometer gerannt sein. Die Menschen aus Roth fragen Deichmann manchmal, was sie machen sollten, wenn er nicht mehr da sei. Ein «Läufchen» vielleicht?

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