Dienstag, Oktober 1

Einem freiwilligen Ambulanzfahrer aus Italien drohte eine Haftstrafe. Jetzt ist klar, was mit ihm geschieht.

Am frühen Morgen des 19. April 2020 macht sich ein 42-jähriger Italiener auf, um ein Leben zu retten. Aus Genua stammt er, arbeitet eigentlich als Bauarbeiter. Daneben aber ist er freiwilliger Ambulanzfahrer. Und an diesem Morgen erhält er einen dringenden Auftrag: «Codice Rosso». Das heisst: Es geht um Leben und Tod.

Ein 13-jähriger Junge, mehrfach behindert, liegt in Genua im Spital. Er braucht eine Spenderniere, so bald wie möglich. Und er könnte eine haben. Nur ist diese 330 Kilometer weit entfernt, im Zürcher Universitätsspital.

Dort haben die Ärzte um 2 Uhr 33 einen anderen Jungen operiert, 9 Jahre alt und hirntot. Seine Eltern sind bereit, die Niere ihres Sohnes zu spenden. Nach Italien, wo sie so dringend gebraucht wird.

Doch es ist der dritte Tag des Covid-19-Shutdowns, und die Schweizer können das rettende Organ nicht selbst transportieren. Auch ein Flug würde wegen der vielen Corona-Schutzmassnahmen schwierig.

Also setzt sich der Mann aus Genua in seine Ambulanz und rast los, mit Blaulicht und Sirenen, in Richtung Schweizer Grenze. Durch Piemont und den Autoverlad Furka, dann Innerschweiz, Zug und schliesslich Zürich. Dort drei, vier Minuten Pause, ein Kaffee. Dann geht es mit der Niere im Gepäck zurück. Diesmal via Gotthardstrecke durch die Alpen ins Tessin und dann wieder nach Italien.

Rund zehn Stunden nach dem «Codice Rosso», um 13 Uhr nachmittags, liegt die Zürcher Niere in Genua auf dem Operationstisch. Sie wird dem 13-jährigen Patienten eingesetzt. Der Bauarbeiter, der gerast ist wie ein Wilder, hat es geschafft.

Was er da noch nicht weiss: Sein Ausflug in die Schweiz wird ein juristisches Nachspiel haben, inklusive potenzieller Gefängnisstrafe.

«Das Wichtigste ist, dass der Junge überlebt hat»

Denn auf seiner Fahrt hat der freiwillige Ambulanzfahrer Radarfalle um Radarfalle ausgelöst. 41 Kilometer pro Stunde zu schnell fährt er auf der Hinfahrt im Kanton Schwyz, auf der Rückfahrt wird er drei Mal auf der Autobahn geblitzt, jeweils mit rund 50 Kilometer pro Stunde über dem Limit.

Am gravierendsten – und potenziell gefährlichsten – ist aber seine Übertretung in Zürich, an der Seestrasse. Dort fährt er innerorts durch eine 50er-Zone – mit 106 km/h auf dem Tacho.

Für seine rasante Blaulichtfahrt forderte die Zürcher Staatsanwaltschaft 16 Monate Freiheitsstrafe und eine Busse von 2000 Franken – wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln.

Anfang Monat stand der Mann deshalb vor dem Zürcher Bezirksgericht. Mit Krawatte, blitzsauberen Turnschuhen und akkurat gestutztem Bart erklärte er, was eine Verurteilung für ihn bedeuten würde: den Ruin.

1200 Euro im Monat verdient der Genuese. Wenn er seine Ambulanzfahrten unternimmt, muss er die verlorene Arbeitszeit am Wochenende nachholen. Nach einer Geschäftsgründung hat er zudem Schulden. Deshalb würde ihn ein Schuldspruch finanziell empfindlich treffen, gerade wegen der Verfahrenskosten.

Für den Staatsanwalt ist klar, dass es keinen Grund für das Rasen gab. Es habe keine Notlage bestanden. Die maximale Transportzeit für eine Niere betrage 20 Stunden, sagt er. «Es war nicht das Ziel, ein Leben zu retten. Er musste einen Transport durchführen. Mehr nicht.»

Der Verteidiger dagegen spricht von einer ausserordentlichen Situation, nicht nur wegen der Pandemie. Der 13-Jährige, der die Niere brauchte, habe sich in sehr schlechtem Zustand befunden. «Mein Mandant ging davon aus, dass der Jugendliche in Genua sterben würde.»

Der Beschuldigte selbst sagte bei der Verhandlung: «Das Wichtigste ist, dass der Junge überlebt hat.»

«Wenn ein Organ da ist, pressiert es einfach»

Ob er freigesprochen würde, hing dabei von wenigen Sätzen im Schweizer Strassenverkehrsgesetz ab: Artikel 100, Absatz 4.

Dort steht, dass ein Sanitätsfahrer unter vier Bedingungen die Verkehrsregeln brechen darf: wenn es eine Dienstfahrt ist, wenn sie dringlich ist, wenn dabei stets mit der nötigen Sorgfalt gefahren wird und wenn die erforderlichen Warnsignale abgegeben werden.

Hat der italienische Fahrer all das getan? Die Antwort darauf gibt das vor wenigen Tagen gefällte Urteil des Bezirksgerichts Zürich, das der NZZ im Dispositiv vorliegt.

Und es ist ein vollumfänglicher Freispruch.

Von allen Anklagepunkten wird der Beschuldigte freigesprochen. Alle Voraussetzungen für eine dringende Blaulichtfahrt seien gegeben gewesen, sagt der zuständige Richter Christoph Benninger gegenüber der NZZ. «Ich kann mich in meiner Zeit als Richter an keinen besseren Grund erinnern, so schnell zu fahren.»

Dass der Mann die Verkehrsregeln gebrochen habe, sei klar, das habe dieser auch unumwunden zugegeben, sagt Benninger. Doch es gebe dafür eben einen legitimen Rechtfertigungsgrund. Dass die Fahrt dringlich gewesen sei, sei hinlänglich belegt. Angesichts des Gesundheitszustandes des betroffenen Jungen sei eine rasche Transplantation notwendig gewesen.

«Es liegt auf der Hand», sagt der Richter: «Wenn mal ein Spenderorgan da ist, pressiert es einfach.»

Auch die nötige Sorgfalt habe der Mann beim Fahren walten lassen: Sirene und Blaulicht, die ganze Zeit. Dazu komme, dass auf allen fünf Blitzkasten-Bildern, die die Fahrt zeigten, keine Menschen und kaum andere Fahrzeuge zu sehen seien. Die Pandemie, die den Transport auf anderem Weg erschwert habe, habe eben auch die Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer reduziert, sagt der Richter.

Am ehesten noch könne man sich bei der Fahrt auf der Zürcher Seestrasse fragen, ob die Übertretung dort, quasi auf den letzten Metern, noch nötig gewesen sei. «Aber am Ende haben wir auch das bejaht.»

Für den Retter aus Genua ist das Urteil eine Erleichterung. Rechtskräftig ist es allerdings noch nicht. Die Staatsanwaltschaft hat vorsorglich Berufung angemeldet, wie der Staatsanwalt Michael Huwiler der NZZ sagt. Man wolle nun das schriftliche Urteil abwarten und dann definitiv entscheiden, ob man den Fall ans Zürcher Obergericht weiterziehe.

Urteil DG240029-L vom 25. 7. 2024, noch nicht rechtskräftig

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