Sonntag, September 29

Der belgische Autor war medikamentenabhängig und wurde für geistesgestört erklärt. In der Psychiatrie schrieb er den meisterlichen Erzählband «Knisternde Schädel».

Grauenerregender Anblick. Der Schädel der Katze ist zu Brei geschlagen. Hirnmasse fliesst «weiss und schleimig aus der Schale». An einer blauen Sehne hängt – wie «ein murmelartiges Gebilde» – ein geronnenes Auge. Der jähzornige Jules Leroy, dieser Irre, hat den Kopf des Katers an der Wand zertrümmert.

Puschkin, so hiess der Kater. Alle mochten Puschkin. Nicht zuletzt Jules, Jules liebte seinen Kater. Aber das blöde Vieh hatte eine Scheibe Grillfleisch gestohlen. Das ging nicht. Das war zu dreist. So sehr Jules Puschkin liebte, dem Grillfleisch galt offenkundig seine Liebe noch ein bisschen mehr.

Breitbeinig steht Jules nun in der Tür zum Treppenhaus, er präsentiert den Kadaver. Dann fängt er an, das tote Tier über seinem Kopf zu schwingen, «so dass Batzen Hirn und dunkles Blut» die Tische und Wände sprenkelt. Zu fünft müssen die Aufseher anrücken. Jules schwingt das Gerippe, die Aufseher schwingen ihre Knüppel. «Die Szene», schreibt Roger Van de Velde, «glich einer prähistorischen Malerei an der Felswand von Lascaux».

Urmenschlicher Wahnsinn, wenn man so will. Der Erzählband «Knisternde Schädel» des belgischen Autors spielt in der psychiatrischen Anstalt. Mit dem eingeschlagenen Katzenschädel geht es los, auf gerade einmal vier Seiten setzt die Geschichte gleich den Ton.

Er fühlt sich wie ein Kind im Zoo

«Weiss war der Kater» ist die erste von zwanzig Miniaturen, in denen Van de Velde gnadenlos lakonisch über die «sonderbaren Gesellen» schreibt, die er «mal amüsiert und dann auch wieder erschreckt» beobachtet hat. In einer kurzen Vorbemerkung vergleicht er sich mit einem Kind, das «in sprachlosem Staunen dem ungenierten Herumtoben und den sinnlosen Zankereien der Paviane im Zoo zusieht».

Der Mann wusste, wovon er erzählte. 1925 in Boom bei Antwerpen geboren, ist er 37 Jahre alt, als er eingewiesen wird. Die Polizei hat ihn angehalten, weil er auf der falschen Strassenseite fuhr. Im Auto findet sie einen sehr ordentlichen Stapel gefälschter Arztrezepte.

Van de Velde ist süchtig nach dem Schmerzmittel Palfium. Voraus geht eine Verkettung von unglücklichen Ereignissen: Ein Magendurchbruch macht insgesamt drei Resektionen notwendig, der dritte Eingriff muss allerdings verschoben werden, weil Van de Velde nach einem Verkehrsunfall zu geschwächt ist. Überbrückend schluckt er fast zwei Jahre lang das Schmerzmittel.

Doch die Nebenwirkungen des neuen Wundermedikaments sind noch nicht genügend erforscht: Palfium ist ein Vorläufer von Fentanyl, dessen Missbrauch mittlerweile in den USA zur schlimmsten Drogenkrise geführt hat; es macht hochgradig abhängig. Ein paar Jahre später wird man maximal vier Tabletten täglich verschreiben; Van de Velde schluckt an die 60. Der Gerichtspsychiater glaubt nach kurzem Gespräch, dass der Angeklagte an einer schweren Geistesstörung leide.

Rund sieben Jahre verbringt der Journalist und Autor in einer geschlossenen Anstalt. Er ist mit teilweise gemeingefährlichen Menschen auf engstem Raum eingepfercht. Sein Alter Ego in «Knisternde Schädel» erzählt, wie er sich Watte in die Ohren stopft, «um möglichst wenig von dem barbarischen Lärm im Saal mitzubekommen». An das Schreiben von Geschichten ist eigentlich nicht zu denken. «Wie Stricken auf einem trabenden Pferd» sei das, berichtet er einem Freund. Ohnehin hat er ein Publikationsverbot. Die Behörden glauben, dass literarische Aktivitäten seine Rehabilitation beeinträchtigen würden.

Doch Van de Velde schreibt trotzdem, heimlich. Ein erster Versuch der literarischen Auseinandersetzung mit dem Dasein als Insasse trägt den Titel «Galgenaas» (Galgenvogel). Der Text soll 1966 in einem Wäschekorb nach draussen gelangt sein. Bei «Knisternde Schädel» schmuggelt Van de Velde die Prosa dann in Marlboro-Packungen. Frau und Tochter helfen ihm dabei, die Mutter tippt die Manuskripte ab. Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod mit nur 45 Jahren sind die zwanzig Anekdoten endlich auf Deutsch erschienen. Jede ein kleines Meisterstück.

Sucht nach Grillfleisch

«Life is a tale told by an idiot»: Das vorangestellte Macbeth-Zitat weist den launigen Literaten aus. Sprachlich aufs Nötigste verknappt, verdichtet der Eingelieferte seine Misere. Die Sache mit dem Kater: Als eine Erzählung von Liebe und Sucht kann man das lesen. Von der Sucht und wie sie die Liebe tötet. Aus der Gewohnheit wird Abhängigkeit: So ist das für Van de Velde mit dem Schmerzmittel, und so ist das für diesen Jules Leroy mit dem Grillfleisch.

Immer Sonntags gibt es Fleisch. «Ein gewaltiges Tamtam» macht der Insasse um das Roastbeef. Jules wickelt «das Fitzelchen Fleisch behutsam in Zeitungspapier», dann versteckt er es unter seinem Hemd, so dass er es später am Nachmittag in Ruhe verspeisen kann, «als handelte es sich um eine seltene Delikatesse». Doch an dem verhängnisvollen Sonntagnachmittag hat es Puschkin «tollkühn geraubt».

Jules ist so fixiert auf das Fleisch, für die Liebe bleibt kein Platz. Wie jede Abhängigkeit führt auch diese unweigerlich zum Konflikt: Die Sucht killt, was einem am nächsten ist.

Der Titel «Weiss war der Kater» setzt einen zusätzlichen Akzent. «Weiss» wie die Unschuld: Der Kater kann nichts dafür, es ist in seiner Natur, dass er das Fleisch genommen hat. Unschuldig im Sinne der Anklage. Auch im Kater mag man Roger Van de Velde wiedererkennen. Der zertrümmerte Schädel steht für seinen Verstand, den man in der Anstalt ordentlich malträtiert hat. Und nicht nur seinen.

Die Leute sind verrückt, aber man macht sie auch noch verrückter, scheint Van de Velde sagen zu wollen. «Das angerichtete Gemetzel war abstossend», so beschreibt der Autor die Gewalt an der Katze, «der Pelz hingegen war makellos geblieben.» In anderen Worten: Selbst wenn der Kopf nur noch Mus ist, sieht man den Menschen ihr Leiden oft nicht an.

Das fatale Ende

Nur kurz nach «Knisternde Schädel» erscheint 1969 mit «Recht op antwoord» ein Pamphlet, in dem Roger Van de Velde das belgische Gesundheitssystem «am eigenen, himmelschreienden Beispiel anprangert», wie die Übersetzerin Annette Wunschel im Nachwort zu den Erzählungen schreibt.

Schriftstellerkollegen wie Jeroen Brouwers verlangen seine Freilassung. Halbjährlich wird über seine Gefährlichkeit befunden, gelegentlich kommt Van de Velde frei, doch besorgt er sich im Handumdrehen neues Palfium und landet wieder hinter Schloss und Riegel. Seine Sucht wird nicht behandelt. Dann, nach sieben Jahren, kann seine Frau endlich die bedingte Freilassung erwirken: Am 3. Juni 1970 soll Roger van de Velde in eine Suchtklinik einchecken.

Vier Tage vor der Entziehungskur, am 30. Mai 1970, betritt Roger Van de Velde gegen 19 Uhr die «Brasserie Andre» in der Bahnhofgegend von Antwerpen. Er begibt sich auf die Terrasse. Offensichtlich ist ihm nicht wohl. Ein Zeuge wird berichten, dass Van de Velde kein Wort gesagt habe. «Wir setzten ihn auf einen Stuhl und gaben ihm etwas Wasser.» Noch immer bekommt er kein Wort heraus. Als man ihn nach ein paar Minuten mit etwas Wasser ins Gesicht zu Bewusstsein zu bringen versucht, «da stellten wir etwas völlig Abnormales fest. Die Person reagierte nicht mehr.»

Roger Van de Velde ist tot. Die Untersuchung ergibt eine Überdosis Palfium, ausserdem finden sich grössere Mengen Alkohol im Blut. Da die Dosis des Schmerzmittels zwar viel zu hoch, für Van de Veldes Verhältnisse allerdings so hoch nun auch wieder nicht war, scheint Selbstmord unwahrscheinlich.

Statt am 3. Juni 1970 den Entzug zu beginnen, wird der herausragende Autor Roger Van de Velde an ebendiesem Tag auf dem Friedhof Schoonselhof in Antwerpen beerdigt.

Roger Van de Velde: Knisternde Schädel. Aus dem belgischen Niederländisch von Annette Wunschel. Suhrkamp, Berlin 2024. 130 S., Fr. 29.90.

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