Kein Schriftsteller war schweizerischer als er. Und kein Prosaautor war so sehr in der Poesie zu Hause wie er. Ein Nachruf auf einen Grossen des Literaturbetriebs.

Er war eine Ausnahmeerscheinung unter den Schweizer Autorinnen und Autoren. Und er war zugleich ein helvetisches Monument, wie es typisch ist für unser Land: Er wirkte aus dem Hinterhalt seiner Verborgenheit, er gehörte nicht zu den Lauten, aber er war keineswegs kleinlaut. Seine Texte bewahrten sich stets einen Rest an Verschrobenheit und bezogen gerade daraus ihre unvergleichliche poetische Kraft: Peter Bichsel schuf Weltliteratur, indem er sich kaum vom Fleck rührte.

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Nun ist Bichsel im Alter von 89 Jahren gestorben. Seine Familie bestätigte der «Solothurner Zeitung», dass Bichsel am Samstagmittag friedlich eingeschlafen sei.

Peter Bichsel schrieb schmale Bücher und kurze Texte mit der Wucht von epischen Werken. Er schaute aus seinem Fenster und hörte den Leuten zu, die ihm auf der Strasse, in der Kneipe oder im Zug begegneten. Was er sah und was ihm zu Ohren kam, verwandelte sich unter dem Zauber seiner einfachen, nie preziösen Sprache in ein poetisches Universum. Vermutlich war er ein Romantiker, den es zufällig ins 20. und 21. Jahrhundert verschlagen hatte. Denn er hätte auch ein Zeitgenosse von Jean Paul sein können. Aber dann hätte er längere Sätze schreiben müssen.

Mit dem grossen Gerhard Meier hatte Bichsel einiges gemeinsam, und dennoch waren die beiden auf ganz anderen literarischen Wegen unterwegs; er war ein enger Freund Max Frischs, dessen rigorosen Moralismus Peter Bichsel mit seiner näselnden Stimme aufs menschenfreundlichere Mass modulierte. Und er war vor allen Dingen ein später Bruder von Robert Walser, so poetisch wie dieser und so hintersinnig, nur etwas weniger gefährdet im Dasein, besser gewappnet gegenüber den Zumutungen und Anforderungen des Alltags.

Peter Bichsel machte kein Hehl aus seiner Bewunderung für Robert Walser, auch wenn ihm die Gefahr des Epigonentums bewusst war. Nicht zuletzt darum hielt er sich zurück und äusserte sich auch aus Respekt nur wenig und sehr diskret über den Dichter, als wollte er diese Sphäre der Wahlverwandtschaft nicht allzu leichtfertig preisgeben und blossstellen.

Es spricht für diese Diskretion, dass die schönste Begebenheit dieser Verbundenheit mit Robert Walser nicht von Bichsel selber überliefert wurde, sondern in einer von dessen Freund Urs Widmer erzählten Anekdote. Vielleicht hat er sie, wer weiss, sogar erfunden, weil sie die Wirklichkeit schöner beschreibt als jede wahre Geschichte: Widmer und Bichsel waren für eine Sendung über Robert Walser im Radiostudio. Sie diskutierten gemeinsam über das Werk, und zwischendurch las Bichsel aus Walsers Texten vor. Als die beiden das Studio verliessen, wurde Bichsel vom Tontechniker mit den Worten verabschiedet: «Auf Wiedersehen, Herr Walser.» Nie, so beendete Urs Widmer seine Schilderung dieser Szene, habe er Bichsel glücklicher gesehen als in diesem Augenblick.

Eine Reise nach Paris

Peter Bichsel war im Lauf der Jahre und seines zunehmenden Ruhmes so sehr zu einem Charakterkopf geworden, dass man alsbald glauben konnte, er spiele immerzu nur den grummelnden Peter Bichsel mit seinem im Alter etwas schrägen und schlurfenden Gang. Vielleicht aber hat man ihn nie authentischer erlebt als in dem Film, den Eric Bergkraut 2010 mit ihm in Paris gedreht hatte. Nur widerwillig hatte Bichsel in das Projekt und in die Reise nach Paris eingewilligt. Er hatte mit dem Filmemacher einen Pakt geschlossen: Bichsel würde mit ihm nach Paris fahren, aber im Bahnhof bleiben.

Fünf Tage harrte Bichsel im Bahnhof-Hotel aus, setzte sich gelegentlich in eine Brasserie gegenüber, umkreiste den Bahnhof, dann endlich fuhr er in den Jardin du Luxembourg. Er wollte nur wissen, ob es das Karussell aus Rilkes Gedicht noch gab. Als er endlich davorstand, als die literarische Wirklichkeit unvermittelt und leibhaftig mit der realen Gegenwart zusammenprallte, richtete sich die Kamera auf sein stilles Gesicht: Freude strahlte aus seinen Augen, Zeichen der inneren Bewegtheit und vielleicht auch eine namenlose Sehnsucht.

Bichsel wollte nichts erleben in Paris, ihm genügten die Bilder, die er immer schon in sich herumgetragen hatte, aus Büchern, aus der Kunst. Er wollte auch nicht nach Stoff suchen in der Grossstadt. Die Poesie seiner kunstvoll schlichten Prosa speiste sich aus anderen Quellen. Und vielleicht hängt auch damit zusammen, dass sich Peter Bichsels Bücher schlecht nacherzählen lassen. Manchmal wüsste man kaum zu sagen, wovon die Geschichten oder die schmalen Romane eigentlich handeln. Wenn Flaubert davon geträumt hatte, einmal ein Buch über nichts zu schreiben, so hat Bichsel eigentlich nur immer über nichts geschrieben (und vielleicht verfolgte ihn gelegentlich sogar der Albtraum, er würde über etwas schreiben).

Denn er sagte auch, es sei ein Luxus, Schriftsteller zu sein. «Der Luxus besteht darin, dass man es nicht können muss.» Man kann sich denken, dass in dieser besonderen Form des Luxus auch zugleich die Abgründe der Verzweiflung drohen. Doch Bichsel erweckte nie den Eindruck, er würde an sich selbst oder seinem Beruf verzweifeln. Er hatte, wo immer man ihn sah, die Ausstrahlung eines etwas rustikalen Buddha, der verdrossen schweigen konnte wie Gottfried Keller oder mit Dauerreden die anderen zum Schweigen brachte.

Furioser Anfang

Es war eine kleine Sensation, als der 29-jährige Peter Bichsel, von Beruf Lehrer, 1964 mit einem dünnen Büchlein unter dem seltsam umständlichen Titel «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» debütierte. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki begrüsste den kleinen Geschichtenband mit einem Fanfarenstoss in der Wochenzeitung «Die Zeit», und die einflussreiche Gruppe 47 verlieh Bichsel im Jahr darauf ihren renommierten Literaturpreis. Es war ein furioser Beginn einer langen literarischen Karriere.

Ein leicht herunterhängendes Augenlid, ledernes Gilet, näselnde Stimme, schleppender Gang: Peter Bichsel ist der Charakterkopf der Schweizer Literatur. Fotografiert 2010 in Solothurn. (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

Das Sensationelle an dem Band lag und liegt jedoch darin, dass er alles früh vollendet enthielt, was seither und bis zuletzt als Peter Bichsels unverkennbare Kunst galt: ein melancholischer Lakonismus, eine aufreizende Nüchternheit, die Koketterie mit der Einfachheit. Peter Bichsel hat die zauberhafte Poesie der etwas kindlich-naiv scheinenden, aber mit stiller Menschenkenntnis gesättigten Schulaufsätze zur Vollendung gebracht.

Der Titel von Peter Bichsels Debüt ist die kürzestmögliche Beschreibung des versäumten Lebens, und er formuliert ein ebenso präzises literarisches Programm. Peter Bichsels Geschichten sind nie Geschichten im eigentlichen Sinn. Es geschieht darin nichts, und die Menschen erleben auch nichts, was eine Geschichte ergeben könnte. Frau Blum wird den Milchmann nicht kennenlernen, und dieser weiss von ihr nur, dass sie in der Regel zwei Liter Milch nimmt und hundert Gramm Butter, dass sie eine gut lesbare Schrift hat und einen verbeulten Topf. Und vielleicht war der Milchmann tatsächlich das Aufregendste, was in Frau Blums Leben geschah.

Nicht das Aussergewöhnliche hat Bichsel an den Menschen interessiert, sondern das Unscheinbare, bis hin zu ihrem kleinen Glück in der Ereignislosigkeit eines versäumten Lebens. Frau Blum ist der Inbegriff der Anspruchslosigkeit, alle Figuren in Bichsels Werk sind Wiedergänger dieser von einer namenlosen Sehnsucht beseelten Frau. Zu ihren tapfersten und bemerkenswertesten Nachfolgern gehört Cherubin Hammer in dem nach ihm benannten Roman von 1999: Vierzig Wachstuchhefte hat der Mann bei seinem Tod hinterlassen. In schwungvoller Schrift waren alle mit «Die Tagebücher» überschrieben, aber sie blieben bis auf ein paar wenige Einträge samt und sonders leer.

Heroische Selbstverkleinerung

Keine unter Bichsels Figuren hat die Kunst der Verschwiegenheit und der Selbstverkleinerung schöner zur Vollendung gebracht als Cherubin Hammer. Sein grösstes Glück erlebte er schon als junger Mann in Rom, als er sich in der Stadt verirrte: «Cherubin war endlich jemand, er war endlich verloren, verloren für immer.» Jemand werden, indem man sich verliert: Bichsels Figuren verzweifeln nicht an diesem Paradox, sie finden darin ihre Erfüllung, weil das Verlorensein ihre eigentliche Begabung ist. Cherubin Hammer wird lange brauchen, um das Glück noch einmal zu erleben. Im Alter wird er etwas verschroben und seltsam, geht stundenlang übers Land, immer geradeaus, bis er eines Tages einfach verschwindet, spurlos, verschluckt von einem Weizenfeld, durch das er ging.

Wo alles gleichermassen bedeutungslos ist, kann alles und selbst das Banalste bedeutungsvoll werden. Aus diesem unauflösbaren Selbstwiderspruch nährt sich der erzählerische Glutkern von Peter Bichsels Geschichten. Und in ihrer Unscheinbarkeit, in ihrem unbezwingbaren Hang zur Selbstverkleinerung besteht das Heroische seiner Figuren, die alle so etwas wie Kinder der frühen Frau Blum sind, und alle sind sie Helden in einem ganz und gar unkonventionellen Sinn. Stolz und trotzig, eigensinnig und immer ein wenig unbelehrbar gehen sie durchs Leben. Die Vergeblichkeit aber steht ihnen wie ein Kainsmal ins Gesicht geschrieben.

Peter Bichsel glaubte nicht an die Veränderbarkeit der Welt. Und auch wenn er unter solchen Gesichtspunkten das Schreiben für unerheblich gehalten hat, so war es trotzdem nie vergeblich. Er schrieb ein Leben lang, beharrlich und unbelehrbar, und nicht weniger leidenschaftlich griff er als Citoyen in die politischen Debatten ein. Aber er war kein Volkspädagoge, auch wenn er gelegentlich an sich selber etwas Gotthelfisches nicht unterdrücken konnte. Er war vielmehr aus dem Stoff, aus dem seine Figuren geschaffen waren: gleichermassen misanthropisch wie den Menschen zugetan.

Mit dem Alter wurde er seinen Figuren immer ähnlicher, auch in ihrer Verschrobenheit. So blieb er sich treu, indem er sich veränderte. Er verhielt sich skeptisch gegen seine eigene Skepsis, und er bewahrte sich die kritische Haltung gegenüber seiner Poesie der nüchtern kurzen Sätze, damit sie nicht zur Pose erstarrten. Dann hörte er ganz auf mit dem Schreiben – wie Cherubin Hammer.

Für immer aber wird sein Name verbunden sein mit jenem von Frau Blum, die den Milchmann dann doch nicht kennengelernt hatte. Denn sie war die Heldin der vermutlich kürzesten und zugleich schönsten Liebesgeschichte in der Schweizer Literatur. Und ihre Billets d’Amour, die sie mit dem Milchmann ahnungslos und doch absichtsvoll tauschte, sind das ergreifendste Exempel einer schweizerisch nüchternen Liebeskorrespondenz. Peter Bichsel mokierte sich darüber, wenn man ihn als Schweizer Schriftsteller bezeichnete, schweizerischer als er war jedoch keiner. Aber eigentlich war Frau Blum Weltliteratur.

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