Mittwoch, April 2

Rund um die unter Overtourism leidende Stadt Luzern suchen Touristiker aus ganz Europa nach Möglichkeiten für bewusstes Reisen. Enttäuschungen inklusive.

Es ist eine bunte Truppe, die an diesem Nachmittag den «Hexer vom Entlebuch» besucht. Rund sechzig Reiseprofis, vom Experten für nachhaltigen Tourismus bis zum Präsidenten des European Network of Outdoor Sports, wollen sich vom Gourmetkoch Stefan Wiesner dazu inspirieren lassen, wie bewusstes Reisen abseits der ausgetretenen Pfade aussehen kann.

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Wiesner wurde von den Veranstaltern als Aushängeschild für den Trend «Zurück zur Natur» ausgewählt. Der Mann ist ein Showtalent. Nicht umsonst erkor ihn der deutsche Fernsehkoch Tim Mälzer zum Gegner für sein Format «Kitchen Impossible». Auch heute liefert der Hexer ab. Kochkunst. Wortgewaltig erzählt der Erfinder der alchemistischen Naturküche, wie er in Bramboden, einem abgelegenen Weiler im ohnehin abgelegenen Entlebuch, ganze Bäume, Steine und Kohle zu Neun-Gang-Menus verkocht.

«Keine Kunst bewirkt mehr als Kochen», sagt der 17-Punkte-Koch Wiesner, der im Entlebuch eine kleine Kochakademie aufgebaut hat. «Man kann damit den Körper wärmen, kühlen, mit Aphrodisiaka anregen oder in den Schlaf wiegen.» Natürlich dürfen die Touristiker, die auf tausend Meter über Meer in der kalten Frühlingsluft zu frösteln beginnen, ein paar Kostproben seiner Kunst probieren. Sie trinken den Saft einer Birke, die Wiesner selbst angezapft hat, und essen in seinem Restaurant «Weitsicht» eine auf dem Feuerring zubereitete Wurst und Brot aus Holzkohle. Zumindest die Fleischesser sind sich einig: ausgezeichnet!

Im Reisebus in die reine Natur

Die Expedition ins Entlebuch ist einer der Höhepunkte der Konferenz «Moverence», an der letzte Woche in und um Luzern Experten konkrete Lösungsansätze für einen Tourismus diskutierten, der schonend mit den begrenzten Ressourcen der Erde umgeht. Wobei schonend relativ zu verstehen ist. So ist Wiesners Naturakademie nur im Sommer und an Wochenenden mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Die umweltbewussten Touristen werden deshalb im Doppeldeckerbus um die engen Kurven vom Entlebuch nach Bramboden gefahren.

«Moverence» wird von der Bewegung «Regenerative Tourism Initiative» (RTI) organisiert. Deren Co-Gründer Bruno Affentranger hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. «Luzern ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine auf Hochtouren laufende Tourismusmaschine, deren negative Auswirkungen immer deutlicher sichtbar werden. Nun soll in Luzern der nachhaltige, regenerative Tourismus neu erfunden werden.»

Unter den Konferenzteilnehmern sind nicht wenige, die früher selbst mit Massentourismus Geld verdient haben. So auch Beàta Szablics, die unter anderem für eine grosse Kreuzfahrtreederei tätig war und nun als Beraterin Gemeinden, Museen, Kleinunternehmen und Startups bei der Entwicklung nachhaltiger Tourismusangebote unterstützt. «Während meiner Arbeit in verschiedenen Segmenten der Branche wurde mir immer bewusster, dass die Touristen auf ihren Reisen meist nur an der Oberfläche kratzen», sagt Szablics. Nun will sie Erlebnisse vermitteln, die tiefer gehen.

Die Umstellung auf sanften Tourismus erfolgt nicht immer freiwillig. Wie es ist, wenn eine Region quasi zum nachhaltigen Tourismus gezwungen wird, erzählt Florian Knaus den Konferenzteilnehmern. Der Umweltwissenschafter betreut seit 2008 Forschungsprojekte in der Unesco-Biosphäre Entlebuch, zu der Wiesners Restaurant «Weitsicht» gehört. Nach dem Ja des Schweizervolkes zur Rothenthurm-Initiative 1987 sahen sich die Bewohner dieser konservativ tickenden Talschaft vor das Problem gestellt, dass die grossen Moorgebiete unter Schutz gestellt wurden.

Knaus schildert eindrücklich, wie sich viele Entlebucher als Reservatsbewohner fühlten, die vom Staat in ihrer Handlungsfreiheit stark eingeschränkt wurden. Es bedurfte jahrelanger Überzeugungsarbeit mit Vertretern von Gemeinden, Unternehmen und Vereinen, um das Label Unesco-Biosphäre nicht nur in den Köpfen zu verankern, sondern auch mit Leben zu füllen. «Heute sind die Entlebucher stolz auf ihre Region, ihre Produkte und ihren sanften Tourismus», sagt Knaus.

Aufenthaltsdauer ist entscheidend

Dieses Musterbeispiel für den in der Schweiz üblichen Bottom-up-Prozess, der alle Akteure in die Entwicklung neuer Angebote einbezieht, wird von den meisten Konferenzteilnehmern positiv aufgenommen. Es gibt aber auch kritische Stimmen. «Solche Projekte sind zwar ermutigend und interessant, aber die Weichen für einen nachhaltigeren Tourismus werden woanders gestellt», sagt Florian Grösswang. «Es muss gelingen, die Aufenthaltsdauer in den bei Reisenden stark nachgefragten Destinationen zu verlängern.»

Grösswang weiss, wovon er spricht. Er war lange in leitender Funktion bei Österreich Werbung tätig, dem Pendant zu Schweiz Tourismus. «In Österreich sind wir dabei, ein Umdenken in der Branche einzuleiten. Das ist ein langer und manchmal auch schmerzhafter Prozess», sagt der Manager, der mit seiner Firma Nachhaltigkeitszertifizierungsprozesse für Tourismusbetriebe durchführt.

Der Österreicher Grösswang fasst zusammen, worum es bei «Moverence» geht und warum die Innerschweiz als Tagungsort gewählt wurde. Luzern ist eine der touristischen Hochburgen der Schweiz, die mit den Auswirkungen des Overtourism zu kämpfen haben. Um diese Probleme in den Griff zu bekommen, führt die Stadt ab 1. April eine Haltegebühr für Reisebusse ein, die ihre Gäste auf einem der touristisch zentralen Halteplätze in der Innenstadt ein- und aussteigen lassen.

Mit zahlreichen weiteren Massnahmen wollen Politik und Tourismusverantwortliche die Gäste zu längeren Aufenthalten animieren. Neben der Stadt Luzern und dem Pilatus sollen beispielsweise auch das Entlebuch oder das Culinarium Alpinum besucht werden. Auch das ehemalige Kapuzinerkloster in Stans (NW), wo seit 2020 das kulinarische Erbe der Alpen gepflegt wird, bot den Konferenzteilnehmern Anschauungsunterricht.

Doch sind die nachhaltigen und regenerativen Angebote, von denen sich viele Konferenzteilnehmer eine bessere Zukunft erhoffen, tatsächlich die Lösung für die grosse Masse der Reisenden, die immer häufiger und immer weiter weg fliegen? Nur sehr bedingt, meint Johanna Gollnhofer. Die Direktorin des Instituts für Marketing und Customer Insight an der Universität St. Gallen (HSG) sorgt mit ihrem Referat für heftige Diskussionen und offene Ablehnung unter den teilweise idealistisch motivierten Teilnehmern.

Nach ihren Untersuchungen sind 15 bis 20 Prozent der Verbraucher umweltbewusst und nehmen Angebote für bewusstes Reisen dankbar an. Weitere 15 bis 20 Prozent der Konsumenten interessieren sich nicht für solche Angebote und sind daher aus Marketing-Sicht uninteressant. «Die 60 Prozent der Konsumenten zwischen diesen beiden Polen gilt es zu überzeugen», sagt Gollnhofer. «Diese Menschen sprechen auf Begriffe wie ‹nachhaltig› oder ‹regenerativ› nicht an, sie wirken oft sogar abschreckend.» Die Kunst bestehe darin, diesen Menschen den Nutzen regenerativer Angebote für die umworbenen Kunden zu vermitteln.

Insgesamt hat die dreitägige Konferenz gezeigt, dass es nicht nur Schwarz (Massentourismus) und Weiss (Öko-Tourismus) gibt, sondern dass es ein Nebeneinander und ein Miteinander geben wird. Der Hexer bringt das in seiner unverblümten Art auf den Punkt, als er gefragt wird, wo er denn essen gehe, wenn er nicht seine Natur-pur-Menus koche. «Zu McDonald’s», sagt er. «Da weiss ich, was ich bekomme. Die Qualität der Zutaten ist gut, und alles wird frisch zubereitet, das ist das Wichtigste.»

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