Montag, November 25

Izzeldin Abuelaish war der erste palästinensische Arzt, der in einem israelischen Spital arbeitete. Im Gaza-Krieg 2009 wurden drei seiner Töchter getötet. Auch im gegenwärtigen Konflikt verlor er Angehörige. Dennoch wehrt sich der Friedensaktivist gegen Hass und Rache.

Seit über hundert Tagen dauert der Krieg in Gaza an, und die Erinnerung an damals wird wieder lebendig. Am 16. Januar 2009 schlug eine israelische Panzergranate in das Haus von Izzeldin Abuelaish im Gazastreifen ein, in dem der Arzt mit seinen sechs Töchtern und zwei Söhnen lebte.

Die Explosion zerfetzte den Körper seiner ältesten Tochter Bessan, die 21 war und für die kleinen Geschwister sorgte, seit die Mutter der Kinder an Leukämie gestorben war. Nur noch tot bergen konnte Abuelaish auch die 15-jährige Mayar, die nach dem Vorbild des Vaters Ärztin werden wollte. Er fand die leblose Aya, dreizehn Jahre alt, und auch eine Nichte war tot. Sie war an diesem Abend bei ihren Cousinen zu Besuch.

Die Israeli hatten das Haus für ein feindliches Zielobjekt gehalten. Abuelaishs tote Töchter gelten als Kollateralschaden. So wurde es Abuelaish erklärt. Der damalige Premierminister Ehud Olmert kündigte zwei Tage später einen einseitigen Waffenstillstand an.

Izzeldin Abuelaish war damals ein bekanntes Gesicht in Israel. Er trat während der Kämpfe in Gaza täglich beim israelischen Sender Channel 10 auf. Er spricht fliessend Hebräisch und versorgte das Fernsehen mit Updates zum Krieg. Am 16. Januar 2009 schaltete ihn der Reporter wieder live zu. Abuelaish stand in den Trümmern seines Hauses und schrie seinen Schmerz und seine Verzweiflung ins Telefon, ohne sich bewusst zu sein, dass das israelische Fernsehpublikum ihn hören konnte.

Die Israeli halfen dabei, die toten Mädchen zu bergen. Sie erlaubten Abuelaish, eine weitere, schwerverletzte Tochter ins Spital in Ramat Gan in der Nähe von Tel Aviv zu bringen. Dort arbeitete Abuelaish zu jener Zeit – als erster praktizierender palästinensischer Arzt in Israel. Für einmal konnte er ohne lange Kontrollen die Checkpoints passieren.

Wer zurückblickt, bleibt stehen

Fünfzehn Jahre sind seit jenem Tag vergangen. Abuelaish lebt heute in Toronto, wohin er mit seinen überlebenden Kindern ausgewandert ist. Er hat das Buch «Ich werde nicht hassen» geschrieben über den Verlust seiner Töchter und seine anhaltende Hoffnung (Langen Müller Verlag). Das darauf basierende Theaterstück wird demnächst in Köln gezeigt. Der 68-Jährige, der an der Toronto University lehrt, wurde mehrfach ausgezeichnet und fünf Mal für den Friedensnobelpreis nominiert.

Bei unserem Zoom-Interview sitzt er im rot-weiss gestreiften Hemd an seinem Schreibtisch, hinter ihm hängt eine Kufiya an der Wand, das Palästinensertuch. «Ich sehe meine Töchter in jedem unschuldigen Kind, das in diesem Krieg getötet wird», sagt Abuelaish und kommt bald auf die Gegenwart zu sprechen. Es widerspreche seiner Haltung, bei dem zu verharren, was unwiederbringlich verloren sei. Gelähmt zu sein vor Trauer. Am besten lasse sich Leid ertragen, indem man sich Rache und Hass verweigere, sagt er überzeugt. Indem man statt zurück nach vorne blickt. «Versöhnung heisst für mich, weiterzuleben», hat er einmal gesagt.

Das mag idealistisch, wenn nicht sogar naiv klingen. In Wirklichkeit ist es komplizierter, auch für einen Friedensaktivisten. Was «zu Hause» im Gazastreifen passiere, die Bombardierung der palästinensischen Bevölkerung durch Israel, löse bei ihm Wut aus, sagt Abuelaish. Schon als seine Töchter getötet worden seien, habe er gesagt: «Wenn ich wüsste, dass meine Töchter das letzte Opfer wären auf dem Weg zum Frieden zwischen Palästinensern und Israeli, würde ich ihren Tod akzeptieren.» Nichts spricht im Moment dafür, dass er das bald könnte.

Im gegenwärtigen Krieg hat Abuelaish über zwanzig nahe und ferne Verwandte verloren. Die meisten kamen während eines israelischen Luftangriffs auf den Stadtteil Jabaliya im Norden des Gazastreifens ums Leben. Das war Ende Oktober. Die israelische Armee IDF erklärte, die Militäroperation habe Hamas-Mitgliedern gegolten.

Izzeldin Abuelaish zählt die Getöteten namentlich auf: «Meine Nichte Baraa, 25 Jahre alt, eine Ärztin. Meine Nichte Israa, 23, eine Bauingenieurin. Mein Neffe Ali, 22, ein Physiotherapeut. Meine Nichte Hanan, ihre vier Kinder und ihr Mann.» Er fragt: «Wie viel Blut muss vergossen werden, um den Durst nach Rache zu stillen?» Die israelische Regierung wolle die Hamas zerstören, doch der Krieg richte sich in seinen Augen genauso erbarmungslos gegen die palästinensische Bevölkerung. Dies alles führe zu noch mehr Gewalt, Leid und Extremismus.

Jeder Mensch wird frei geboren

Die existenzielle Erfahrung hätte auch ihn radikalisieren können. Doch bereits als junger Arzt entwickelte er Verständnis für beide Seiten. Abuelaish wurde 1955 im Flüchtlingslager Jabaliya geboren als ältestes Kind von neun Geschwistern. Er erkannte früh, wie wichtig Bildung ist, ergriff die Chance, studierte in Kairo Medizin, bildete sich weiter in Harvard, bewarb sich bei einem israelischen Spital. Denn dort waren die besten Forscher auf seinem Gebiet, der Reproduktionsmedizin, tätig. Später behandelte er Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch.

Er schaffte es in eine Führungsposition. Als Gynäkologe half er sowohl israelischen wie palästinensischen Kindern auf die Welt. Die Medizin könne eine Brücke zwischen den Menschen bauen, sagt er, sie sei «ein menschlicher Gleichmacher». Als Arzt behandle er alle gleich. Warum sollte er ausserhalb des Spitals plötzlich einen Unterschied machen? Das Weinen des palästinensischen Babys unterscheide sich nicht vom Weinen eines israelischen oder kanadischen Babys: Beide würden frei geboren. Beide hätten dasselbe Recht auf ein Leben in Würde.

Davon könne in der gegenwärtigen Situation in Gaza keine Rede sein, wo es an allem fehle, an Medikamenten, Benzin, Elektrizität. Von 36 Spitälern funktionierten die wenigstens noch richtig, viele seien zerstört. So berichtet es auch die WHO.

Abuelaish spricht leidenschaftlich, man kann ihn fast nicht unterbrechen, vieles klingt, als sagte er es nicht zum ersten Mal. Einwände lässt er kaum gelten. So beschuldigt er Israel nicht nur, jedes Augenmass verloren zu haben, sondern er unterstellt der Regierung von Benjamin Netanyahu, die Palästinenser vertreiben zu wollen. Er spricht von einem Genozid.

Dass Israel Transporte mit Hilfsgütern in den Gazastreifen hineinlässt oder die Bevölkerung vor Angriffen auffordert, ein Gebiet zu verlassen, kümmert ihn nicht. Der Bemerkung, dass die Hamas die eigene Bevölkerung als Schutzschild missbrauche, widerspricht er vehement. Er wolle nicht über die Hamas sprechen, sagt er: «Die Hamas repräsentiert nicht das palästinensische Volk.» Er warnt vor Verallgemeinerungen. Die Palästinenser seien Säkulare, der Konflikt betreffe nur die Hamas und Israel.

Auf den Einwand, dass die Leute auf den Strassen in Gaza gejubelt hätten am 7. Oktober und also das Massaker guthiessen, geht er nicht ein. Widersprüche spült er mit einem Redeschwall weg. Die internationale Gemeinschaft müsse einen Waffenstillstand durchsetzen und den Palästinensern helfen, freie demokratische Wahlen abzuhalten in allen besetzten Gebieten: dem Westjordanland, Ostjerusalem und dem Gazastreifen, sagt er. Denn für ihn ist klar, wer der «Elefant im Raum» ist: «die Besatzung». Hier liegt für ihn die Ursache des ganzen Konflikts.

Dem Leid eine Bedeutung geben

Izzeldin Abuelaish erwähnt die Terrorattacke der Hamas mit keinem Wort, man muss ihn darauf ansprechen. Hört man ihm zu, wirkt es so, als hätte Israel den Gaza-Krieg grundlos angefangen, als wäre diesem nicht der 7. Oktober vorausgegangen. Hätte Israel denn tatenlos bleiben sollen nach dem barbarischen Angriff? Würde nicht jede Regierung vom Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machen?

«Damit das klar ist: Ich verurteile, was am 7. Oktober passiert ist», sagt Abuelaish. Die Ermordung unschuldiger Zivilisten sei für ihn nicht hinnehmbar. Die israelischen Geiseln müssten freigelassen werden – aber auch die Palästinenser, die nun von den IDF willkürlich verhaftet würden. Es sei schmerzhaft und der Preis gewaltig für beide Seiten – dennoch wünsche er sich, dass man das Entsetzliche als Chance nutze. Auch sich selbst zuliebe müsse man vergeben. «Hass macht krank. Es ist eine ansteckende, zerstörerische Krankheit.»

Es gelte, die Ursachen des Hasses zu bekämpfen. Die Schicksale der Israeli und der Palästinenser seien miteinander verflochten. «Keiner ist sicher vor dem andern, solange sich die politische Situation nicht ändert, die zu diesem Konflikt geführt hat», sagt er. «Wir müssen die Palästinenser und die Israeli gleichstellen, nicht als ‹Besatzer› und ‹Besetzte›, ‹Unterdrücker› und ‹Unterdrückte› sehen. Sondern als gleichberechtigte Menschen, Seite an Seite.» Die Bevölkerung hier wie da sehne sich danach.

Das behauptet Abuelaish und gibt damit einem realitätsfernen Wunschdenken Ausdruck angesichts des Hasses, der seit dem 7. Oktober auf beiden Seiten noch tiefer verankert ist.

Doch Abuelaish sieht seine Lebensaufgabe darin, zur Versöhnung in diesem Konflikt beizutragen, so schwierig der Weg gerade ist. Er nennt das seine ethische, moralische und menschliche Verantwortlichkeit.

Nach dem Tod seiner Töchter hat Abuelaish die Stiftung Daughters for Life gegründet. Sie hilft Mädchen und Frauen aus dem Nahen Osten bei der Finanzierung ihrer Ausbildung. Musliminnen, Christinnen, Jüdinnen, Drusinnen. Niemand habe das Recht, Juden zu attackieren, sagt er über die antisemitischen Vorfälle an amerikanischen Universitäten. Es müsse aber möglich sein, Israel und seine Regierung zu kritisieren, ohne gleich als Antisemit zu gelten. In seiner Strasse in Toronto leben viele jüdische Familien. Manche zählt er zu seinen Freunden.

Izzeldin Abuelaish wird weiterhin die Erwartung unterlaufen, dass einer mit seinem Schicksal hassen muss. Oder ein gebrochener Mann ist. Er sagt: «Wenn du dich selber als Opfer siehst, gibst du anderen die Macht über dich.» Er würde damit zugeben, dass das Unmögliche nicht möglich ist.

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