Boris Nadeschdins Kampagne war für Kritiker des Regimes unverhoffte Chance, ein Zeichen zu setzen. Nun haben die Behörden durchgegriffen. Nichts soll das offizielle Bild stören, wonach ganz Russland geeint hinter Präsident Putin steht.
Für einen Moment schien es, als werde die vollkommen vorhersehbare Veranstaltung namens russische Präsidentschaftswahl doch noch von Leben erfüllt. An Boris Nadeschdin, einem altgedienten Politiker mit liberalen Ansichten, kristallisierte sich plötzlich der sonst verborgene Unmut eines Teils der Bevölkerung gegenüber Russlands Krieg in der Ukraine.
Am Donnerstag wurden diese Russinnen und Russen auf den Boden der Realität zurückgeholt. Die Zentrale Wahlkommission lehnte es ab, Nadeschdin als Kandidaten zu registrieren. Mehr als 200 000 Unterschriften von Wählern hatte er im ganzen Land gesammelt, 100 000 waren nötig, 105 000 davon hatte er eingereicht. Bei deren Überprüfung erklärte die Wahlkommission aber nur gut 95 000 für gültig. Die Gründe dafür sind vor allem formaler Art – Unterschriften sammeln für die Zulassung zu einer Wahl in Russland ist eine Wissenschaft für sich.
Legaler Protest gegen den Krieg
An der öffentlich zugänglichen Sitzung der Wahlkommission musste sich Nadeschdin alle möglichen herablassenden Belehrungen und Vorhaltungen anhören. Sie zeigten vor allem eines: Wer sich nicht geschmeidig in den vorgegebenen Rahmen einfügt, sondern ungefragt Aufsehen erregt, ist unerwünscht. Der Grüne Anatoli Bataschew und die Influencerin Rada Russkich hatten es leichter: Sie karikierten sich selbst, indem sie jeweils weniger als 500 Unterschriften eingereicht hatten.
Verwunderlich ist Nadeschdins Ausscheiden nicht. Auch sein angekündigter Gang vors Oberste Gericht wird daran nichts ändern. Zu offensichtlich hatte seine Kampagne die Form eines Plebiszits gegen den Krieg und Präsident Wladimir Putins ewige Herrschaft angenommen. Vor den hastig in mehr als 70 russischen Provinzen aus dem Boden gestampften Wahlkampfstäben bildeten sich mancherorts – vor allem in Moskau, St. Petersburg und anderen Städten – lange Schlangen derjenigen, die mit ihrer Unterschrift ein Zeichen setzen wollten.
Weil öffentlicher Protest gegen den Krieg und die Einschränkung der Freiheitsrechte schlicht unmöglich geworden ist, wurde das Anstehen für Nadeschdin, den einzigen Bewerber, der sich offen gegen den Krieg aussprach, zur legalen Demonstration der politischen Gesinnung. Nadeschdin berief sich darauf und auf die millionenfach eingegangenen Spenden, um zu belegen, dass es seine Unterstützer tatsächlich gibt.
Zu unberechenbar für den Kreml
Damit stellte er sich gegen die Rhetorik des Kremls, die suggeriert, die Gesellschaft stehe geschlossen hinter dem Präsidenten und der «militärischen Spezialoperation». Seine Teilnahme an der Wahl hätte womöglich die Unzufriedenheit auch in Zahlen ausgedrückt. Umfragen bescheinigten Nadeschdin ein Wählerpotenzial von zehn Prozent, mit unberechenbarer Dynamik. Damit hätte er Chancen auf den zweiten Platz hinter dem unangefochtenen Putin gehabt – noch vor den Kandidaten der in der Staatsduma vertretenen Parteien. Das hätte verhindert, dass Putin als strahlender Sieger mit achtzig Prozent wiedergewählt wird.
Einige Beobachter hatten es bis zuletzt für möglich gehalten, dass der Kreml in einer Zulassung Nadeschdins sogar eine Chance sehe: dann nämlich, wenn es gelänge, den 60-Jährigen von der staatlichen Propaganda als den Kandidaten der Landesverräter und unpatriotischen Nichtsnutze zu diskreditieren. Nachdem sie während der ganzen Zeit der Unterschriftensammlung Nadeschdin geschwiegen hatten, hatten die staatlichen Medien und die Propagandisten seit vergangener Woche genau das zu tun versucht.
Sie zogen Nadeschdins Seriosität in Zweifel, der bis im vergangenen Jahr als liberaler Buhmann in den einschlägigen Talkshows aufgetreten war. Manche Staatsmedien suggerierten, er könnte es noch mit der Staatssicherheit zu tun bekommen wegen seiner Aussagen gegen den Krieg. Als verwerflich dargestellt wurde auch seine Unterstützung durch bekannte Oppositionspolitiker im Exil, die als «ausländische Agenten» gebrandmarkt sind oder auf der Liste der Extremisten und Terroristen stehen.
Unbehagen bei seinen Unterstützern
Nadeschdins unerwartete Anziehungskraft machte die Sehnsucht einer – weiterhin kleinen – Bevölkerungsschicht sichtbar, die der gegenwärtigen politischen Verhältnisse überdrüssig ist. Nadeschdin bot sich dafür auch deshalb an, weil er seine lange politische Karriere bis jetzt innerhalb der gesetzten Regeln und im Bewusstsein seiner begrenzten Möglichkeiten verfolgte. Viele, die für ihn unterschrieben, taten dies mit Unbehagen. Sie traten nicht für ihn als Person ein, sondern für den Widerspruch, den er verkörpert. Als Politiker hatte er sich in ihren Augen schon fast kompromittiert.
Manche lehnten es deshalb ab, ihn zu unterstützen, weil er etwa in Bezug auf die Annexion der Krim zu weichgespülte Ansichten vertritt. Einige auswärtige Beobachter sahen in ihm nur eine Marionette des Kremls zur Belebung der Wahlkampagne und warfen seinen Unterstützern Naivität vor. Damit argumentierten sie aber ähnlich zynisch wie das Regime, das die Bürger immer nur als Objekte und nicht als eigenständig Handelnde betrachtet.
Je länger Nadeschdins Kampagne dauerte, desto mehr zeigte sich, dass er eine für heutige russische Verhältnisse seltene Erscheinung ist: Er ist ein Politiker, kein Funktionär. Damit belebte er die eigentlich todlangweilige Präsidentenwahl. Die Frage ist, ob die von ihm geweckten Geister nun anderen Kandidaten zugutekommen oder die Wähler zu Hause bleiben. Gegen die Absage durch die Wahlkommission protestieren werden sie kaum.
Die besten Chancen, von der Ablehnung Nadeschdins zu profitieren, hat der erst 39-jährige Vizevorsitzende der Staatsduma, Wladislaw Dawankow, von der offiziösen «liberalen» Partei Neue Leute. Nur schon altersmässig hebt er sich von seinen Mitbewerbern ab, dem 75-jährigen Kommunisten Nikolai Charitonow und dem 56-jährigen uncharismatischen Nachfolger des ultranationalistischen Populisten Schirinowski, Leonid Sluzki.