Mittwoch, Oktober 9

Der Lyriker Adam Zagajewski schrieb über reife Brombeeren ebenso, wie über zerfallene Konzentrationslager – mit feinem Humor und sanfter Melancholie. Mit jeder Zeile suchte er «das wahre Leben». Nun leuchtet seine nobelpreiswürdige Poesie ein letztes Mal auf.

Es ist schwer zu sagen, was Adam Zagajewskis Poesie so besonders macht. Die lebensnahen Alltagsskizzen oder die suggestiven Reiseimpressionen? Vielleicht auch die Bildbeschreibungen, Kindheitserinnerungen oder philosophischen Betrachtungen? Dazu der verhaltene Humor und ganz sicher die melancholische Sicht auf Menschen und Dinge.

Auch in seinen letzten Gedichten, zusammengefasst im Band «Das wahre Leben» und feinsinnig übersetzt von Renate Schmidgall, zeigt Zagajewski die ganze Palette seiner Kunst. Kleines nimmt er ebenso in den Blick, wie er Metaphysisches aufscheinen lässt. Schönheit und Schrecken figurieren oft nebeneinander. Die Brombeeren, die schon schwarz sind «wie die Münder der Geliebten im Stummfilm», wachsen in der Nähe des Konzentrationslagers Belzec, von dem nur «Schotter und Schmerz», «Stille und die schläfrigen Bewohner» geblieben sind, «die noch immer auf Antwort warten».

Die kleinen Dinge des Alltags

Zagajewski selbst stellt mehr Fragen, als er Antworten gibt. Das Gedicht «Sonntag» über den Kirchgang und den Priester mit dem dicken Kinn endet mit den Versen: «Gott ist anderswo, anderswo. / Wir wissen nichts. Wir leben in Finsternis. / Gott ist anderswo, anderswo.» Und die Sterne, die niemandem gehören, sind «wie Messer die uns verletzen / ohne einen Tropfen Blut».

Doch auch an den kleinen Freuden des Alltags führt kein Weg vorbei, in ihnen darf man das «wahre Leben» vermuten: in einer CD, die selbst im traurigsten Largo Glück verbreitet; in der Betrachtung von Jungs, die in Istanbul von einem niedrigen Betonkai ins Meer springen; im Anblick einer blühenden Magnolie oder eines unendlichen Maiabends in Córdoba, da die Spatzen laut plaudern und die Schatten sehr langsam zu ihren dunklen Wohnungen zurückkehren.

Freuden, ja. Aber sie sind grundiert von Wehmut und der Ambivalenz der Geschichte. In Córdoba muss die Kathedrale «täglich von neuem / in der Moschee um Asyl bitten», in Lemberg, der Geburtsstadt des Dichters, «weinten alle, / Passanten und Gäste, / Sieger und Besiegte». Das Gedächtnis ist oft stärker als die Zeit und verhindert die Flucht ins Vergessen.

Sein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein lässt Zagajewski nicht nur den Verwerfungen der Historie, sondern den Tiefenschichten der Gegenwart nachspüren, und sei es in Form persönlicher Erinnerungen. Das Gedicht «Osten» etwa liefert in Abbreviatur ein berührendes Bild des vielgebeutelten Ostpolen, «Riegel» eröffnet Resonanzräume, die bis ins antike Herculaneum reichen.

Freude und Melancholie

Seine Aufgabe als Dichter sieht Adam Zagajewski darin, der Komplexität des Lebens Rechnung zu tragen, ohne zu belehren. «Dichtung ist die Kindheit der Zivilisation, / sagten die Philosophen der Aufklärung / sowie unser Polnischlehrer, gross, hager, / wie ein Ausrufezeichen, das den Glauben verloren hat. // Damals wusste ich nicht, was antworten, / ich war selbst noch ein bisschen Kind, / doch ich denke, dass ich im Gedicht // Weisheit finden wollte (ohne Resignation) / und auch einen ruhigen Wahnsinn. / Ich fand, viel später, Augenblicke der Freude / und das dunkle Glück der Melancholie.» («Aufklärung»)

Genau das ist es, was auch wir in Zagajewskis Gedichten finden und was den 2021 in seiner Heimatstadt Krakau verstorbenen Polen zu einem der bedeutendsten Lyriker der Gegenwart macht.

Adam Zagajewski: Das wahre Leben. Gedichte. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Carl-Hanser-Verlag, München 2024. 65 S., Fr. 33.90.

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