Dienstag, Februar 4

Die Eltern schickten ihn zum Sozialtherapeuten, später revolutionierte er die Gesellschaft: In der Autobiografie «Source Code» blickt Bill Gates zurück auf seine Anfänge.

Im Jahr 1968 wurde an der Lakeside School in Seattle ein Computerterminal installiert: ein «Teletype Model 33 ASR». Mit dieser Fernschreibmaschine konnte man sich per Telefonleitung mit einem Rechner in Kalifornien verbinden, um Spiele zu spielen oder zu programmieren.

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Eine Technikspielerei? Vielleicht. Doch die Lakeside war ihrer Zeit voraus: Weder in Schulen noch in Privathaushalten gab es damals Computer. Der PC war noch nicht erfunden, Rechner waren schrankgrosse Kisten, die in Labors von Universitäten oder den Kellern von Banken vor sich hin ratterten – und vor allem sehr teuer waren.

Selbst für eine privilegierte Privatschule wie die Lakeside wären die Anschaffungskosten zu hoch gewesen. Um das Gerät anmieten und genügend Rechenzeit kaufen zu können, hatten engagierte Eltern auf einem Flohmarkt Spenden gesammelt. Als das Terminal endlich da war, wusste zunächst niemand so recht etwas damit anzufangen.

«Wie ein Stromstoss»

Irgendwann in diesem für die USA so schicksalhaften Jahr 1968, in dem Martin Luther King und Robert F. Kennedy ermordet wurden, betrat der Achtklässler Bill Gates den Computerraum. Das Klackern des Terminals, das sich wie eine Zahnradbahn anhörte, hallte durch die Gänge des Schulgebäudes, an der Wand klebte ein Zettel mit ein paar dürren Handlungsanweisungen und einem Beispielprogramm in BASIC.

Gates gab den Programmierbefehl mit der Tastatur ein: «Ready . . ./10 INPUT X,Y/20 LET A=X+Y/30 Print A/40 END.» Das war für ihn so etwas wie ein Erweckungserlebnis: «Die Eleganz dieser vier Programmzeilen sprach meinen Ordnungssinn an. Und die sofortige Antwort des Computers war wie ein Stromstoss», so erinnert sich der Microsoft-Gründer in seiner Autobiografie «Source Code».

Da stand dieser schüchterne 13-jährige Teenager, der die Welt mit dem Betriebssystem Windows verändern sollte, vor dem sperrigen Fernschreiber, wählte sich mit einer Telefonwählscheibe in einen Timesharing-Hostcomputer ein und schrieb seine ersten Programme: Tic-Tac-Toe zum Beispiel oder ein Mondlandespiel.

Bill der Dritte

Es ist eine von vielen Anekdoten aus dem Buch, die nicht nur etwas über Bill Gates aussagen, sondern auch über ein Schulsystem, das Kreativität und Talent fördert. Gates erzählt von Lehrern, die einen breiten Bildungsbegriff vertreten und offen gegenüber neuen Technologien sind.

Sein Mathematiklehrer Fred Wright, der sich für die Anschaffung des Terminals eingesetzt hatte, war ein ehemaliger Navy-Pilot und Ingenieur bei Boeing und hatte an der Sorbonne in Paris Literatur studiert. Es war also eine glückliche Fügung, dass der junge Bill mit Computertechnik in Berührung kam – auch wenn der Weg für eine erfolgreiche Karriere vorgezeichnet war.

Gates wurde 1955 als zweites von drei Kindern in eine Mittelschichtfamilie in Seattle geboren. Der Vater war Anwalt, die Mutter Pädagogin. Der kleine Bill, der «Trey» genannt wurde (weil er der dritte «Bill Gates» ist), hatte eine glückliche Kindheit: Die Sommer verbrachte er in der Natur in einer Holzhütte, im Winter ging die Familie in den Bergen Ski fahren und veranstaltete eine «Weihnachtsrollschuhparty».

Die Eltern waren Mitglieder der Christian Science, einer strenggläubigen Religionsgemeinschaft, aber sie waren nicht so bibeltreu, dass sie den Freuden des Lebens gänzlich abgeneigt gewesen wären. Sie luden regelmässig zu Cocktailempfängen und Dinnerpartys. Im Hause Gates gingen Anwälte, Ärzte und Politiker ein und aus.

Alles über Pinguine

Während Bills grosse Schwester Kristi zur Unterhaltung der Gäste Klavier spielte, servierte der junge Bill Drinks und hörte interessiert den Gesprächen zu. Besonders fasziniert war er von der Geschichte eines Kardiologen, der einen innovativen Defibrillator entwickelt und dafür eine eigene Firma gegründet hatte. Schon früh zeigten sich Neigungen, die auch den späteren Bill Gates charakterisieren: Neugierde, Forscherdrang, Unternehmergeist.

Der junge Bill war wissbegierig – und las alles, was ihm in die Finger kam: Zeitschriften, Romane, Enzyklopädien. Er war das, was man heute einen Nerd nennt. Er malte Bilder von Brücken und Raketen, schnitt Hundebilder aus alten Magazinen aus und eignete sich Spezialwissen über Pinguine an.

Als Schüler verfasste er eine 177 Seiten lange Hausarbeit über Delaware, für die er einen Einband aus Holz bastelte. «In der Abgeschiedenheit meines Zimmers», schreibt er, «abseits der kritischen Blicke anderer Kinder, konnte ich das tun, was ich am liebsten tat: lesen, Fakten sammeln und Informationen zusammenstellen.» Wissen war etwas, womit sich Gates Anerkennung verschaffen konnte.

Klassenclown

Der schmächtige Junge war weder tough noch sportlich, und mit seinen «Barbie-blonden Haaren» und seiner «piepsigen Stimme» (Gates über Gates) war er ein leichtes Ziel für die Raufbolde. Die grösseren Schüler ärgerten ihn, und in den Pausen stand er meistens allein herum. Um kein Mobbingopfer zu werden und nicht als Streber zu gelten, gab er den Klassenclown. Die Rolle des Witzbolds war für ihn auch ein Mittel, die eigene Unsicherheit zu überspielen.

Obwohl er hochintelligent und wissbegierig war, hatte der kleine Bill nur mittelmässige Noten und fiel durch Disziplinprobleme auf: Er war aufmüpfig, machte zeitweise seine Hausaufgaben nicht und störte den Unterricht: «Ich blödelte herum, wenn wir etwas laut vorlesen sollten, und lachte völlig unpassend dazwischen, wenn die Lehrerin redete», erinnert sich Gates.

Auch zu Hause war Bill schwierig: Die Tennisstunden verschmähte er ebenso wie den Gitarren- und Posaunenunterricht, Zeitungen, die er austragen sollte, warf er in die Vorgärten. In seinem Zimmer herrschte «totales Chaos». Bücher und Kleider lagen wild verstreut herum, so dass die Mutter Kleidungsstücke konfiszierte und 25 Cent berechnete, wenn er sie zurückkaufen wollte. Beim Essen musste sie ihn ermahnen, das Buch wegzulegen – so vertieft war er in seine Gedankenwelt.

«Ich bin im Krieg mit meinen Eltern»

Ausgerechnet der Mann, der mit dem Betriebssystem Windows eine digitale Ordnung etablieren sollte, war in seiner Jugend fast so etwas wie ein Systemsprenger: Einmal, als er beim Abendessen seine Eltern beleidigte und den «Klugscheisser» markierte – was er immer wieder tat –, eskalierte die Situation: Der sonst so sanfte und besonnene Vater verlor die Beherrschung und schüttete dem Sohn ein Glas Wasser ins Gesicht. Die entnervten Eltern schickten den Teenager zum Sozialtherapeuten, dem Bill den Satz entgegenschleuderte: «Ich bin im Krieg mit meinen Eltern.» Nach ein paar Sitzungen war klar: Die Eltern werden diesen Krieg nicht gewinnen. Der Sohn hat seinen eigenen Kopf.

Vermutlich wäre das Leben von Bill Gates anders verlaufen, wäre er 1968 im Computerraum der Lakeside School nicht auf einen Zehntklässler mit Koteletten getroffen, mit dem er später Microsoft gründen sollte: Paul Allen. Gemeinsam mit einem harten Kern von «Hardcore-Computerfans» entwickelten sie Programme, unter anderem einen Textgenerator, der Zufallssätze ausspuckte – ein KI-Chatbot avant la lettre. Während in Paris, Berlin und anderen Städten Studenten auf die Barrikaden gingen, sassen Gates und Allen im Computerraum und werkelten am Code.

Der Computerraum wurde zum Experimentierraum – und zur Keimzelle der digitalen Revolution: Man hörte Jimi Hendrix, diskutierte über Sex, Drugs and Rock’n’Roll und trank billigen Scotch, den Allen in die Schule einschleuste. Er war es auch, der Gates zum ersten Mal betrunken machte. Dann folgten: Harvard-Studium, Gründung von «Micro-Soft», Studienabbruch. Der Rest der Geschichte ist bekannt.

Zwei Schüler aus Seattle

Bill Gates hat ein persönliches, stellenweise berührendes Buch über seine Kindheit und Jugend geschrieben. Er erzählt vom Verlust seines frühen Mitstreiters Kent Evans, der 1972 bei einem Kletterunfall am Mount Shuksan tragisch ums Leben kam. Und würdigt seinen Freund und Geschäftspartner Paul Allen, der 2018 gestorben ist.

Besonders stark ist das Buch gegen Ende, wo Gates über seinen inneren Konflikt schreibt: auf der einen Seite das Studium an der Harvard-Universität fortzusetzen und den sozialen Rollenerwartungen seiner Familie zu entsprechen, auf der anderen Seite neue Wege zu gehen und seiner Leidenschaft zu folgen.

«Source Code» ist nicht nur eine Autobiografie, sondern auch eine technikgeschichtliche Annäherung an die Anfänge des Personal Computer – und ganz nebenbei eine kleine Kulturgeschichte des Nerds. Die 68er, die die Welt veränderten, waren nicht nur die Revoluzzer in Paris, sondern auch zwei Schüler aus Seattle.

Bill Gates: Source Code. Meine Anfänge. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind, Ursula Held, Karsten Petersen, Hans-Peter Remmler und Sigrid Schmid. Piper-Verlag, München 2025. 384 S., Fr. 34.90.

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