Sonntag, Oktober 6

Der Franzose stand im Schatten seines berühmten Kollegen Paul Bocuse. Doch Michel Guérard hat sich massgeblich um die Entwicklung der Küche verdient gemacht. Nun ist er mit 91 Jahren gestorben.

Im letzten Jahr war es so weit. Endlich hatte ich einen Tisch reserviert, nach so vielen Anläufen und wieder umgeworfenen Planungen. Endlich ein Platz im «Les Prés d’Eugénie», einem der berühmten Restaurants Frankreichs. Doch ein paar Tage vor der Abreise kam wieder etwas dazwischen, diesmal eine Einladung ins Pop-up des «Palace» in St. Moritz; der vielleicht beste Kopenhagener Koch sollte hier auftrumpfen, und er tat es auch. Schweren Herzens sagte ich wieder ab in Eugénie-les-Bains.

Warum ich nicht schon längst da gewesen bin, bei Michel Guérard, dem legendären Koch, weiss ich auch nicht so genau. Die meisten anderen französischen Drei-Sterne-Lokale kenne ich, aber privat fuhr ich halt lieber nach Paris, Lyon oder in die Provence. Nun ist der Franzose im Alter von 91 Jahren gestorben. Wäre ich doch schon in den Achtzigern mal Umwege gefahren!

Guérard trieb die Entwicklung der Nouvelle Cuisine voran

Michel Guérard, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst einen Namen in der Patisserie erarbeitete und nahe Paris ein erstes eigenes Restaurant eröffnete, war in meiner Jugend bereits in die Geschichte eingegangen. Auch seiner herausragenden Küche wegen, aber noch mehr, weil er in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts zu den Begründern der sogenannten Nouvelle Cuisine zählte. Es war eine Art der Neuerung, die vor allem die etwas leichtere Art des Kochens und die Verwendung saisonaler, frischer Produkte in den Mittelpunkt stellte.

Was sich heute banal anhört, war damals notwendig. Die klassische französische Kochkunst war in die Jahre gekommen, auch renommierte Restaurants arbeiteten nonchalant mit Vorgefertigtem. Kollegen wie Paul Bocuse, der später oft (und fälschlicherweise) als alleiniger Erfinder der neuen Kochrichtung galt, Alain Chapel oder die Brüder Troisgros waren mit im Boot, aber Michel Guérard blieb der wohl grösste Einflussgeber für die neue Art des Kochens, die echte «Cuisine du Marché».

Wirklich leicht war die Nouvelle Cuisine übrigens nie: Butter, Rahm und Stopfleber spielten weiterhin Rollen. Doch die Gäste waren zufrieden, die Köche eh. Bloss Guérard nicht. Er trieb, in seinem 1974 eröffneten Restaurant in Eugénie-les-Bains, die Sache weiter. «Cuisine minceur» nannte er die feine, aber auf Butter, Speck und Öl weitgehend verzichtende Form der Gourmetküche. Geniessen und gleichzeitig abnehmen? Euphorisch berichteten auch die deutschsprachigen Medien.

Die Begeisterung für eine derart kalorienarme und dank Kräutern und Können dennoch schmackhafte Küche auf höchstem Niveau ist ein bisschen zurückgegangen, aber auf subtile Weise hat Guérard dennoch die Art und Weise, wie heute in den Restaurants gekocht wird, beeinflusst.

Guérard war ein Vorbild für alle Köche

Durch zwei andere Eigenschaften freilich hat der Drei-Sterne-Koch mindestens ebenso viel für seine Branche getan wie mit seinen Speise-Erneuerungen. Seine Persönlichkeit war es, erstens, die nicht nur viele Gäste, sondern auch den kochenden Nachwuchs überzeugte. Anders als Bocuse, der allzu gern im Vordergrund stand, hat Guérard mit Bescheidenheit und ungezwungener Freundlichkeit agiert.

Ein Vorbild war Guérard, zweitens, obwohl (und weil!) er schon sehr früh mit der Industrie zusammenarbeitete und Fertiggerichte für die Supermärkte entwickelte. Doch wer sich heute als halbprominenter TV-Koch auf ihn beriefe und damit die kritiklose Werbung für Billigwaren rechtfertigte, läge falsch. Guérard hat immer genau überprüft, für wen und wofür er seinen Namen hergab; Qualität war ihm wichtiger als Geld.

Meinen Fehler habe ich zumindest ein bisschen wiedergutgemacht. Endlich habe ich reserviert, werde am 15. Januar 2025 Michel Guérards Restaurant besuchen. Der amtierende Küchenchef Hugo Souchet wird hoffentlich genau das kochen, was er zusammen mit dem Patron Michel Guérard entwickelt hat: eine Frischeküche mit vielen Ideen, komplex, spannend und nicht allzu dick machend.

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