Donnerstag, September 19

Ein vom italienischen Spitzenpolitiker verantworteter Bericht will die EU wieder so wettbewerbsfähig machen wie die USA. Manche der Vorschläge überzeugen. Doch der industriepolitische Fokus auf Brüssel zielt am Problem vorbei.

Europa hat ein Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeitsproblem. Es gerät deswegen gegenüber den USA und China ins Hintertreffen. Die EU müsse sich zu einer koordinierten und teuren Kraftanstrengung aufraffen, lautet der Tenor eines insgesamt 393 Seiten starken Berichts, den eine Gruppe um den ehemaligen Chef der Europäischen Zentralbank und italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi vergangene Woche der EU-Kommission überstellt hat. Der Report macht zahlreiche Vorschläge, wie dem Problem mit umfassenden wirtschafts-, industrie- und sicherheitspolitischen Massnahmen auf EU-Ebene begegnet werden sollte.

Draghis Ansatz verkennt dabei ein fundamentales Strukturproblem der EU. Zwischen den verschiedenen Staaten gibt es riesige Unterschiede sowohl beim Wohlstand wie bei der Wettbewerbsfähigkeit, die nichts mit Brüssel zu tun haben.

Der kaufkraftbereinigte Wohlstand pro Kopf ist in Dänemark ungefähr gleich hoch wie in den USA. Obwohl es eine andere Wirtschaftsstruktur hat, vermochte Dänemark in den vergangenen drei Jahrzehnten mit der Entwicklung in den USA Schritt zu halten. Schweden hat deutlich aufgeholt. Immer stärker zurückgefallen ist Italien.

Das zeigt sich erst recht bei der Produktivität. In Nord- und Mitteleuropa ist diese ähnlich gewachsen wie in den USA. Probleme hat nicht in erster Linie die EU als Ganzes, sondern Südeuropa und ganz ausgeprägt Italien sowie die noch weniger entwickelten Länder in Osteuropa.

Dabei ist gerade Italien das Land, das seine Widersprüche zwischen dem einst dynamischen Norden und dem zurückgebliebenen Süden, seine wachstumshemmende und schwerfällige Bürokratie, seine ineffizienten politischen Strukturen und sein sehr langsames Rechtssystem trotz enormen Zuwendungen aus Brüssel nicht überwunden hat.

Der Kollaps der Autobahnbrücke in Genua war sinnbildlich für die strukturellen Probleme. Inzwischen wurde die Brücke zwar neu gebaut. Doch selbst die vielen Milliarden des erstmals durch gemeinsame EU-Schulden finanzierten sogenannten Wiederaufbauprogramms der EU nach der Corona-Pandemie haben wenig an den fundamentalen Problemen Italiens verändert. Rom bekundet Mühe, die Mittel sinnvoll zu investieren.

Wieso ein weiterer grosser industrieller Masterplan aus Brüssel das lösen können sollte, ist deshalb wenig einsichtig. Länder wie Italien müssen sich primär selber helfen.

Die Techfirmen machen den Unterschied

Draghis Bericht trifft allerdings einen interessanten Punkt, wenn er die unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen in Europa und den USA hervorhebt. Europas Wirtschaft wird generell stärker durch kleine, nationale Firmen geprägt, die häufiger durch Banken finanziert werden. Grosse Konzerne, die viel investieren und neu entwickeln, sind in Europa vor allem in den traditionellen Industrien und im Gesundheitssektor zu finden.

In den USA gibt es mehr grosse Unternehmen und mehr Markteintritte von neuen Firmen. Unternehmen in den USA finanzieren sich vermehrt über den Kapitalmarkt. Europas Firmen sind zwar innovativ, doch von den 147 Unicorns (Startups, die an der Börse mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet sind), die zwischen 2008 und 2021 in der EU gegründet wurden, haben 40 ihre Zentrale ins Ausland verschoben – der Grossteil davon in die USA. Allerdings konzediert auch der Draghi-Bericht, dass das wohl nicht primär am Mangel an Kapital lag, sondern daran, dass der grössere Binnenmarkt in den USA einfacheres und schnelleres Wachstum verspricht, das dann auch leichter zu finanzieren ist.

In den USA beheimatet sind die grossen Techfirmen. Sie haben dem Land zu einem Wachstumsschub verholfen. Der Draghi-Bericht kommt sogar zu dem Schluss, dass sich die gewachsene Produktivitätslücke zwischen der EU und den USA praktisch ganz durch die unterschiedliche Entwicklung im Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) erklären lässt.

Darauf weisen auch die Untersuchungen des «Crux of Capitalism»-Projekts von Simon Evenett an der Universität St. Gallen hin. Diese ermitteln den ökonomischen Wert, den Firmen schaffen, definiert als Betriebsgewinn nach Abschreibungen plus ausserordentliche Ausgaben minus durchschnittliche Kapitalkosten. Wie die Auflistung der 25 ertragsstärksten Konzerne in den USA und Europa zeigt, werden diese zu einem erstaunlich grossen Teil von den amerikanischen ICT-Firmen dominiert. Aus Europa hingegen schaffen es vor allem Pharma- und Autokonzerne in die Liga der Superstar-Firmen.

Es braucht manchmal mehr Grösse

Der ICT-Sektor ist geprägt durch die Digitalisierung mit hohen Fixkosten, bedeutenden Grössenvorteilen und Netzwerkeffekten. Und die künstliche Intelligenz braucht Zugriff auf grosse elektronisch zu verarbeitende Datenmengen. Das macht die Entwicklung neuer Produkte erst recht teuer. Draghi hat deshalb wohl recht, wenn er darauf drängt, dass die Vorteile des grossen EU-Binnenmarktes besser zur Geltung kommen sollten. Strikte Datenschutzgesetze verhindern eine einfache, firmenübergreifende Nutzung von Daten. Wegen der vielen unterschiedlichen nationalen technischen Vorgaben und Lizenzvergabepraktiken gibt es in der EU noch viele stark national geprägte, vergleichsweise kleine Telekomfirmen.

Abhilfe schaffen könnte eine EU-28-Lizenz, die den Zugang zu allen Ländern erleichtern, die Konsolidierung beschleunigen und es zumindest erleichtern würde, dass auch Europa seine ICT-Superstar-Firmen (und transnationalen Banken) erhält.

Mehr transnationale Koordination, Konsolidierung und Grösse wäre zudem in der noch stark überregulierten, vom Wettbewerb zwischen den nationalen Staaten geprägten europäischen Rüstungsindustrie nötig.

Die Notwendigkeit zu vertiefter Zusammenarbeit und Konsolidierung wirft allerdings wettbewerbsrechtliche Fragen auf. Der EU-Binnenmarkt ist so erfolgreich und wichtig, weil in ihm der Wettbewerb spielt und Wettbewerbsverzerrungen durch staatliche Beihilfen eingeschränkt sind. Doch eine zu enge Definition von Marktmacht und von verbotenen Absprachen kann verhindern, dass europäische Anbieter die notwendige Grösse erreichen, um mit amerikanischen oder auch chinesischen Marktführern mithalten zu können.

Draghis Bericht votiert deshalb auch für einen dynamischeren Ansatz in der Wettbewerbspolitik. Nebst dem unmittelbaren Preiseffekt soll bei einer Beurteilung die Frage im Zentrum stehen, ob ein Zusammenschluss die Innovationskraft fördern oder eher bremsen wird, indem er Neueintritte von Wettbewerbern verhindert.

Draghis Bericht kritisiert schliesslich eine mangelnde Fokussierung der Forschung in der EU. Er wirbt stattdessen für grosse internationale Forschungsprogramme zu Schlüsselfragen und Technologien, die nach amerikanischem Vorbild von renommierten Forschern und nicht von Bürokraten koordiniert werden sollen.

Insgesamt zeigen sich also sechs Stossrichtungen von vernünftigen Verbesserungsmöglichkeiten auf EU-Ebene:

  • Grössenvorteile besser wirken lassen: Der einfache, diskriminierungsfreie Zugang zum grossen EU-Binnenmarkt ist sowohl für etablierte als auch für Startup-Firmen von entscheidender Bedeutung. Ihn gilt es weiter zu verbessern. Die hindernde Wirkung national unterschiedlicher Regelungen kann entweder durch automatische gegenseitige Anerkennung oder durch ein ergänzendes EU-weites Regime überspielt werden – auch zur Vertiefung des gemeinsamen Kapitalmarkts.
  • Energiepreise wettbewerbsfähig halten: Energie ist in den USA und Asien deutlich günstiger als in der EU, was der dortigen Industrie zu schaffen macht. Die Energiepolitik ist in vielen EU-Staaten (allen voran Deutschland) verpolitisiert und ideologisiert, was die Wirtschaft nun teuer zu stehen kommt. Abgesehen davon wird der Energiepreis weitgehend am Spotmarkt durch die hohen Grenzkosten fossiler Energien (der überholten Kohlekraftwerke) und durch das knappe Angebot bestimmt. Regimeänderungen im Handel, der vereinfachte Zubau von Kapazitäten und stärkere Netze könnten das ändern. Zudem sollte die steuerliche Belastung den internationalen Wettbewerb nicht völlig ausser acht lassen.
  • Auf Spitzenleistungen setzen: Bahnbrechende Innovationen geschehen in der Spitzenforschung und brauchen Top-Talente. Europa verdankt seinen sozialen Ausgleich einem in der Breite guten Bildungswesen. Doch Bildung und Forschung sollten auch gezielt Spitzenleistungen fördern.
  • «Sandkasten» statt Regulierungsweltmeister: Neues sollte nicht von vornherein durch Regulierung erstickt werden. «Sandkasten»-Regulierung, die Experimenten grossen Spielraum lässt, kann junge Unternehmen wachsen lassen, die später immer noch stärker reguliert werden können. Generell zurückgebunden werden sollte die wuchernde Überregulierung. Sie muss auch auf EU-Ebene systematisch auf ihre Kosten hin überprüft und vereinfacht werden.
  • Für gute Infrastruktur sorgen: Transnationale Infrastruktur sollte EU-weit koordiniert, aber national erstellt werden (Transport, Energie, Sicherheit).
  • Weniger Merkantilismus und Protektionismus: Der Draghi-Bericht trägt merkantilistische Züge, wenn er beklagt, dass Bereiche wie die Bereitstellung von IT-Clouds ganz von Firmen aus den USA dominiert würden. Auch Google und Microsoft schaffen Arbeitsplätze in Europa. Die Förderung einer verstärkten transatlantischen Integration wäre der wohlstandsfördernde Ansatz (das auf Eis gelegte transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP lässt grüssen). Versorgungssicherheit sollte durch (geopolitische) Kooperation und nicht durch erzwungene Eigenversorgung erreicht werden.

Gefordert sind also die Nationalstaaten, die wie Italien ihre eigenen strukturellen Probleme überwinden müssen. Wo mehr Aktion auf EU-Ebene Sinn ergibt, sollte dies durch eine Neu-Priorisierung der finanziellen Mittel erfolgen, genauso wie dies in den nationalen Finanzhaushalten geschehen muss. Dreh- und Angelpunkt sollten dabei der liberalisierte Binnenmarkt und die Forschungs- und Wettbewerbspolitik sein.

Die Stärke Europas ist seine Vielfalt. Die wirtschaftlich mit Abstand grösste Errungenschaft ist der offene Wettbewerb im liberalisierten EU-Binnenmarkt. Darauf gilt es zu fokussieren – damit auch Europas Süden wieder stärker wird und vor den USA und China keine Angst haben muss.

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