Dienstag, Januar 7

Ein Sturm im Wasserglas oder ein Beweis für Magnus Carlsens Starallüren und seine Macht in der Szene? Ein Auf und Ab in New York endet mit einem überraschenden Ergebnis.

Ist das denn erlaubt? Die Blitzschach-WM in New York produzierte am Silvesterabend ein unerwartetes Resultat: Statt eines Weltmeisters gab es am Ende gleich zwei – Magnus Carlsen und Jan Nepomnjaschtschi. Der Definition nach hätte die Knock-out-Finalrunde der besten acht nur einen Sieger ergeben dürfen, doch am letzten Tag des Jahres galten die üblichen Regeln offenbar nicht mehr, zumindest nicht für die Schachgötter.

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Carlsen gegen Nepomnjaschtschi hatte bereits 2021 das Duell um die «richtige» WM mit normaler Bedenkzeit gelautet. Mit einem Kantersieg verteidigte der Norweger Carlsen damals seinen Titel, nur um ihn später freiwillig abzutreten, da «zu anstrengend». Im Rapid- und im Blitzschach, den kleineren Brüdern der klassischen Disziplin, nahm er aber weiterhin an den jährlichen Massenturnieren teil.

Als doppelter Titelverteidiger erwischte Carlsen dieses Jahr einen überaus harzigen Start. Im Rapidturnier, wo beiden Seiten 15 Minuten pro Spiel mit einem Bonus von 10 Sekunden pro Zug zur Verfügung standen, gewann er am ersten Tag nur eines von fünf Spielen und lag weit zurück. Am zweiten Spieltag lief es etwas besser, und eine erfolgreiche Aufholjagd schien denkbar, doch führten die Verletzung des Dresscodes und sein Ego zu einem abrupten Ende: Weil Carlsen in Jeans angetreten war, ereilte ihn eine Busse von 200 Dollar samt Aufforderung, zur nächsten Runde die Hose zu wechseln.

Carlsen wollte einen solchen Tenuewechsel aber erst auf den nächsten Spieltag vornehmen, weshalb er das nächste Spiel forfait verlor.

Die Entrüstung im Internet und auch in vielen seriöseren Medien war gross. Man mochte sich darüber aufregen, dass der Weltschachbund Fide engstirnige Kleidervorschriften erlässt, diese nicht gleichermassen rigoros durchsetzt, dass die Schiedsrichter kein Feingefühl walten lassen und die Organisatoren das grosse Medienzugpferd Carlsen wegen einer Nichtigkeit vergraulen. Oder man konnte sich darüber aufregen, dass die Starallüren des Norwegers keine Grenzen kennen und dieser dankbar den Vorwand nutzte, um sich aus einem lau begonnenen Wettbewerb zu verabschieden. Oder man konnte den Zwischenfall ignorieren.

Pragmatik oder fehlendes Rückgrat?

Gleichentags verkündete Carlsen seinen Rückzug von der ganzen Veranstaltung, da er von der Fide genug habe und sich auf ein wärmeres Klima freue. Tags darauf die Kehrtwende: Der Fide-Präsident Arkadi Dworkowitsch hatte mit dem Team Carlsen verhandelt. Der Dresscode wurde gelockert, Carlsen war bereit, zu bleiben und an der Blitz-WM mitzuspielen. Vermutlich wurde bei der Gelegenheit noch manch anderes verhandelt, etwa der Status der von Carlsen aufwendig propagierten, aber offiziell nicht anerkannten «Freestyle-WM».

Pragmatik oder fehlendes Rückgrat? Es war erneut ein gefundenes Fressen für die Kommentatoren jeglicher Provenienz, auch wenn die kurzfristige Richtungsänderung der Fide in historischer Sicht wohl nicht einmal eine Fussnote wert ist.

Carlsen trat an, blitzte schnell und blitzte gut. Im Viertelfinal traf er auf Hans Niemann, den 21-jährigen Emporkömmling aus den USA. Dieser ist seit zwei Jahren die personifizierte Schach-Kontroverse – wegen seiner grossen Fortschritte, seiner noch grösseren Klappe und vor allem wegen seines Sieges gegen Carlsen in St. Louis 2022. Carlsen hatte sich damals ebenfalls vom Turnier zurückgezogen, äusserte gravierende und bis heute nicht substanziierte Betrugsvorwürfe, stand schliesslich einer 100-Millionen-Dollar-Schadenersatz-Klage gegenüber. Schliesslich einigte man sich aussergerichtlich.

Wie im Schach betrogen wird und was man dagegen tun kann | SWR Sport

Zum ersten Mal sassen sich die beiden Rivalen wieder am Brett gegenüber, und nach einem Sieg Niemanns in der zweiten Partie lag eine Sensation in der Luft. Doch der 34-jährige Carlsen bewies, dass er nicht umsonst als «Greatest of All Time» gehandelt wird, und mit Erfolgen in den Partien drei und vier eliminierte er den ungeliebten Gegner. Den Halbfinal gewann Carlsen 3:0, und als er im Final gegen Jan Nepomnjaschtschi 2:0 vorne lag, schien dem norwegischen Sonnyboy der nächste WM-Titel sicher.

In der Verlängerung hielt die Vorsicht Einzug

Da gelang Nepomnjaschtschi das Unwahrscheinliche: Mit zwei Siegen rettete er sich in die Verlängerung. Das Reglement verlangte «Sudden Death» – weiterspielen bis zur ersten entschiedenen Partie. Im Blitzschach mit seinen vielen Unwägbarkeiten dauert dies meist nicht lange. Doch ausgerechnet jetzt hielt die Vorsicht Einzug. Die fünfte, die sechste und die siebte Partie endeten alle remis. Carlsen, der im achten Spiel den Weissvorteil gehabt hätte, schlug vor, den Final als unentschieden abzubrechen und den Titel zu teilen. In Rücksprache mit dem Fide-Präsidenten willigte der Schiedsrichter ein, und nun hat die Schachwelt zwei Blitz-Weltmeister.

Das Geschrei in den sozialen Netzwerken und einschlägigen amerikanischen Youtube-Kanälen mit Millionenpublikum liess nicht lange auf sich warten. Wahlweise wurde lamentiert, Carlsen bestimme die Regeln, die Fide habe kein Rückgrat, das Spiel werde ad absurdum geführt. Dabei gibt es mehrere frühere Vorbilder, als hochkarätige Stichkämpfe abgebrochen oder gar nicht erst angefangen wurden. Gewiss hat die Fide seit Jahren Führungs- und Glaubwürdigkeitsprobleme, gewiss nutzt Carlsen seine Marktmacht in oft penetrant eigennütziger Weise. Doch die Blitz-Weltmeisterschaft bleibt ein Schauwettkampf. Und die Ereignisse in New York ein Sturm im Wasserglas.

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