Donnerstag, April 17

1993 schrieb der französische Autor das Buch «Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick». Genau zum richtigen Zeitpunkt wurde es jetzt auf Deutsch übersetzt: Ein Buch wie ein wilder Trip – und die Droge heisst Amerika.

Es war ein vorläufiger Höhepunkt in der Karriere des bis dahin mässig erfolgreichen Schriftstellers Philip K. Dick: Eines Tages soll ihn der LSD-Papst Timothy Leary angerufen haben. Leary war mit John Lennon in einem kanadischen Hotelzimmer, und beide waren ziemlich zugedröhnt.

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Sie hätten gerade Dicks Roman «Die drei Stigmata des Palmer Eldritch» gelesen, erzählte Leary am Telefon. «Das ist es doch!», soll Lennon gerufen und sich vor Freude schluchzend auf dem Teppich gewälzt haben. Er werde einen ultimativen psychedelischen Film aus dem Buch machen, ein Gegenstück zu dem neuen Album, an dem er gerade arbeite und das «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» heissen solle.

Nach dem Ende des seltsamen Anrufs war sich der Autor nicht sicher, ob er gerade von den höchsten Kreisen der Pop-Kultur adoptiert worden war oder ob sich da zwei Scherzkekse einen Streich ausgedacht hatten.

Als ein Jahr später tatsächlich «Sgt. Pepper» erschien, war klar: Alles hatte seine Ordnung. Und der Science-Fiction-Schriftsteller Philip K. Dick avancierte allmählich zum Guru der Hippies. Er empfing die Fans in seinem Haus in der San Francisco Bay Area, das er kaum verliess. Sein Auto kenne nur den Weg zum Psychotherapeuten, auf allen anderen Strassen würde es unweigerlich Unfälle verursachen, sagte er.

Vierzig Romane und fünf Ehefrauen

Philip K. Dick, geboren 1928 und gestorben 1982, war eine schillernde Figur. Ein Amphetamin-Junkie, der wochenlang wach blieb, um seine albtraumhaften Dystopien zu Papier zu bringen. Vierundvierzig Romane und hundertzwanzig Kurzgeschichten hat er in den zweieinhalb Jahrzehnten, die noch nicht ganz von Drogen zerfressen waren, geschrieben.

Fünf Ehefrauen hintereinander mussten seine Delirien und seine Paranoia miterleben und einem Mann zur Seite stehen, den die Gottsuche immer weiter in die Irre führte. «Er wollte gerne Gott lieben, doch mehr noch fürchtete er den Teufel», so fasst der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère die Lage zusammen.

Carrères im Original schon 1993 erschienenes Buch «Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick» ist jetzt endlich übersetzt und von Claudia Hamm in ein flüssiges und leicht ironisches Deutsch gebracht worden. Man weiss nicht ganz genau, was man hier vor sich hat: Eine kluge Monografie über einen der bedeutendsten und einflussreichsten Aussenseiter der amerikanischen Literatur? Oder eine Art Autobiografie, bei der sich das eigene Leben im Leben eines anderen spiegelt, bis man wahr und falsch nicht mehr ganz unterscheiden kann? Delirien, Gottsuche, Therapie, das kennt auch der Autor und Journalist Emmanuel Carrère. Er hat Romane und Essays darüber geschrieben.

Von Wirklichkeit bis Täuschung

Neben diesen beiden Varianten ergibt sich heute eine thematische Aktualisierung, die diese Erstübersetzung zum Glücksgriff macht. Das Buch ist auch eine grosse Erzählung über den amerikanischen Wahn. Über Bigotterie und den Parallelweltglauben von Verschwörungstheorien. Der Kern des Werks von Philip K. Dick liegt in der Idee, dass die Wirklichkeit, in der wir zu leben meinen, nur eingebildet sein könnte. Oder dass Wesen, die uns nicht wohlgesinnt sind, diese Wirklichkeit als grosse Täuschung inszenieren.

Es gibt zwei Punkte im Leben des amerikanischen Autors, die sich nachhaltig auf sein Empfinden und Denken auswirken. Der Tod seiner Zwillingsschwester, die nur wenige Wochen nach der Geburt verhungert ist, weil die Mutter zu wenig Milch hatte. Der Phantomschmerz wegen der verlorenen Schwester mischt sich mit dem Gefühl, jemand zu sein, der zu Unrecht überlebt hat. In der Psychoanalyse wird Philip K. Dick diesen Spuren immer wieder nachgehen, sich die Frage stellen, welchen Zufällen die Existenz ausgeliefert ist.

Eine politische Asymptote bekommt die Frage der Identität in der McCarthy-Ära der fünfziger Jahre, während deren vermeintliche Kommunisten und sonstige staatsfeindliche Subjekte strengstens verfolgt wurden. Dick, der mit einer dynamischen linken Studentin verheiratet ist, macht die Bekanntschaft mit Beamten des FBI. Das, was schon in seinen Romanen Thema ist, wird zur absurden Realität.

Wie kann man herausfinden, ob man Opfer einer Täuschung durch andere ist? Würde nicht gerade der Kommunist alles tun, um am wenigsten kommunistisch zu wirken? Wäre es nicht die beste Tarnung, als FBI-Beamter auf die Jagd nach linken Gesinnungsübeltätern zu gehen? Der psychedelische Kosmos, den Philip K. Dick auf seinem Weg durch mögliche Identitätstäuschungen unternimmt, ist abwechslungsreich. Roboter und ausserirdische Wesen, Drogen und religiös Erleuchtete sind wesentliche Bestandteile. Eigene Panikattacken, epiphanische Zustände und ein fatales LSD-Experiment liefern authentische Erfahrungen des Aussersichseins. Dazu kommen noch phantastisch ausufernde Lektüren von C. G. Jung bis zur chinesischen Mystik.

Wer von uns beiden ist verrückt?

Emmanuel Carrère setzt das alles mit distanzierter Einfühlung zu einer Geschichte zusammen und erfindet auch manches dazu. Er betrachtet den Science-Fiction-Pionier als Phänomen einer Epoche und macht zugleich etwas Überzeitliches, Romanhaftes an ihm fest. Einen Albtraum, in dem alles gehörig aus dem Ruder läuft.

Dicks Bekenntnisse zum heiligen Sakrament der Ehe enden in Beziehungskatastrophen. Die Intensität seines Glaubens an Gott ist von den Trancezuständen seines Medikamentenmissbrauchs kaum zu unterscheiden. Verschwörungen, wie sie sich der Schriftsteller zunächst nur literarisch ausgedacht hat, werden in seinem Kopf als Verschwörungstheorien manifest, die den Alltag zum Kippen bringen. Die Menschheitsfrage, wer der andere ist, kulminiert zuletzt auf einer psychiatrischen Ebene: Wer von uns beiden ist verrückt?

Als Philip K. Dick ausnahmsweise einmal zu etwas Geld gelangt, schafft er sich einen dreihundertfünfzig Kilo schweren Eisenschrank an, um darin alles, was er für einen Teil seiner Identität hält, vor der gefährlichen Welt wegzusperren. Erinnerungsstücke, Manuskripte, Schallplatten. Als junger Mann hatte er in einem Plattenladen gearbeitet und geglaubt, es sei ganz einfach, die Welt mit Liebe zu erobern. Man müsse sie nur hören lassen, wie schön Dietrich Fischer-Dieskau Schubert-Lieder singe.

Philip K. Dick hat der Nachwelt Stoffe für dystopische Filme wie «Blade Runner» und «Total Recall» hinterlassen. Er selbst war ein blinder Seher. Dass man noch einmal ganz anders auf ihn schauen kann, ist das grosse Verdienst von Emmanuel Carrère. Sein Buch ist ein wilder Trip, und die Droge heisst Amerika.

Emmanuel Carrère: Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2025. 364 S., Fr. 35.60.

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